Kassandra wird gekündigt. "Kassandra" ist der Spitzname eines durchaus heiteren Wirtschaftsredakteurs, der den Fehler hat, lieber eigenen Recherchen zu folgen als den Pressesprechern der Minister und Konzerne. Der in der Kantine schon mal die Frage stellte, welche Politiker wohl in die Hölle kommen müssten, nachdem sie jahrzehntelang eine vernünftige Einwanderungspolitik verweigert haben. Noch am Abend seiner Entlassung schreibt er weiter - nun im Tagebuch, frischer und frecher. Manchmal denkt er dabei an seine achtzehnjährige Nichte, die später vielleicht fragen wird: Wie war das damals im frühen 21. Jahrhundert, als Europa auseinanderbröselte? So konzentriert er sich auf die Vergewaltigung Griechenlands in der Bankenkrise. Und auf die Blindheit gegenüber China, das mit seiner Wirtschaftsmacht und antidemokratischen Ideologie immer näher rückt. Der gefeuerte Journalist flaniert durch Berlin und durch die deutsche Presse; er hört Jazz und das tektonische Beben der alten Weltordnung. Mit seinem Freund Roon, der nach Jahren in den USA nun Landarzt auf Rügen werden will, phantasiert er beim Wandern über die Kreidefelsen schon mal hundert Jahre voraus: wenn dankbare Chinesen der heutigen Kanzlerin ein Denkmal auf Rügen errichten. Ein widerborstiger, pointierter, hochpolitischer und hellsichtiger Roman.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.09.2019Politische Vogeldeutung
Alles ist Gefühl und Moral: Der Büchnerpreisträger Friedrich Christian Delius rekapituliert die Merkel-Jahre
Vor einiger Zeit hat Friedrich Christian Delius, langjähriger Chronist der alten und neuen Bundesrepublik und Büchnerpreisträger des Jahres 2011, in der Zeitschrift Sinn und Form mit dem Gedanken gespielt, man könnte einen Roman über Angela Merkel schreiben und sie zeigen, wie sie, nachdem ihre lange Kanzlerinnenschaft dann doch zu Ende gegangen ist, auf den Rügener Kreideklippen stünde, nachsinnend über sich und die Geschichte …
So lange wollte Delius nun offenbar doch nicht warten und hat sich schon vorher ans Werk gemacht. Nur dass es sich nun nicht mehr um die Kanzlerin selbst handelt, die auf den Rügener Klippen steht, sondern um ihr Denkmal. Errichtet wird es von Chinesen, die ihr aufrichtig dankbar sind, dass sie durch ihre zaudernde und inkonsistente Politik den Siegeszug Chinas in Europa ermöglicht hat. Es trägt die Inschrift: „Der deutsch-chinesischen Kanzlerin. Der Erfinderin der marktkonformen Demokratie. Der Heldin von Piräus.“
Der griechische Hafen Piräus ist nämlich auf dem Höhepunkt der griechischen Schuldenkrise an einen chinesischen Investor verkauft worden, was Delius für den unwiderruflichen Anfang vom Ende Europas hält. Zum (knappen) Glück erweist sich diese Denkmalsetzung vorerst nur als Halluzination des vor Schreck kollabierenden Protagonisten.
Der Ich-Erzähler (sein Name tut nichts zur Sache) hatte ja schon damit gerechnet, dass seine Zeitung ihn, den altgedienten, unverbesserlichen Wirtschaftsredakteur, der sich lästigerweise bei seinen Recherchen von der Idee der Wahrheit leiten ließ, nicht mehr lang halten würde. Aber als er am 30. September 2017 seine Kündigung bekommt, versetzt es ihm doch einen Schlag. Da gibt es nur eines: weiterschreiben! Die Frage ist allerdings, wie, wo und für wen. Ein Blog? Auf diesem Feld tummeln sich doch bloß lauter engstirnige Rechthaber. Ein Buch? Bücher gibt es zu Tausenden, und sie haben im neuen Medienumfeld sowieso keine Chance. Da zieht er sich lieber gleich ins Private zurück und entscheidet sich fürs Tagebuch. (Der performative Widerspruch, dass die Weigerung, ein Buch zu verfassen, in Buchform erscheint, sei mit der legitimen Differenz zwischen Autor und Erzähler entschuldigt.)
Damit dieses doch sehr selbstbezogene Genre aber nicht völlig im Selbstgespräch des Altmännergegrummels versackt, adressiert das tagebuchführende Ich sein Werk an die 18-jährige Nichte Lena, die „liebe Nichte“, die gerade Abitur macht. Doch sie soll das Geschriebene erst mal nicht zu Gesicht kriegen. Stattdessen wird ihr geraten, das Diarium besser erst mit 40 oder 50 zu lesen, wenn sie eine gewisse Reife erlangt hätte und im Nachhinein abschätzen kann, ob der alte Zausel von Onkel denn nun recht behalten hat oder nicht: eine etwas umwegige Flaschenpost in die Zukunft.
Delius’ Buch nennt sich zwar ein Roman (wie heute so ziemlich jedes Druckerzeugnis in Prosa von mehr als 90 Seiten), stellt aber ein hybrides Produkt dar. Die Form des fiktiven Tagebuchs erlaubt erzählende Elemente; am Ende des Buchs überwiegen sie sogar, und man erfährt einiges über Alltag, Eheleben und Urlaubsreisen eines Frührentners wider Willen. So wird das sprechende Ich zur Figur, was den Vorteil hat, dass sich alles, was an seinen Ansichten fragwürdig oder beschränkt ist, aus der Voraussetzung des eben so und nicht anders beschaffenen Charakters erklärt. Im Schutz dieser Konstruktion lässt der Erzähler Dampf ab. Delius macht sich damit von den anspruchsvolleren Erfordernissen der Abhandlung und des Essays frei und gönnt sich von Herzen, was er an den Anderen, den Gegnern und Opportunisten, verdammt: das der Rechenschaft nicht bedürftige Meinen bis hin zum Ressentiment. Das bloße Meinen freilich ist, wie Europa seit Platon weiß, das genaue Gegenteil der Wahrheit, um die es angeblich geht.
Delius bzw. seinem Alter Ego, dem geschassten Redakteur, darf man bescheinigen, dass er sich mit seiner Meinerei die geringstmögliche Mühe gegeben hat. Die Themen sind politisch: Einwanderung, Euro- und Griechenlandkrise, Klimawandel und natürlich die Angst, nicht etwa vor China, sondern „den Chinesen“; aber so etwas wie eine politische Analyse findet nicht statt. Trump ist „dieser seltsam kranke Präsident“, Putin ein „Ganove“. Dass Russland unter seiner Führung eine höchst zielstrebige und erfolgreiche Strategie verfolgt und wie sie im Einzelnen vorgeht, scheint ihm nicht der Betrachtung wert zu sein. Alles ist hier Gefühl und Moral. Der frühere EU-Kommissionspräsident Romano Prodi wird als „hochanständiger“ Mensch gerühmt, Helmut Kohl dagegen hat sich einen Platz in der Hölle verdient. Der frühere griechische Finanzminister Varoufakis figuriert als Held, während sein deutscher Kollege (nicht genannt soll er werden und heißt darum nur abkürzend „Sch.“) dämonisch im Rollstuhl herumsaust wie Peter Sellers als Doctor Strangelove. Erfrischung verspricht sich der Tagebuchschreiber von einem Beschimpfungskatalog, den er dem barocken Simplicissimus entlehnt: „Ihr Speivögel, ihr ausgestochnen Bösewichte, Spitzköpfe, Siebdreher vom Starnberger See! (...) Ihr Schunderer von der Commerzbank!“ Der Erzähler findet „Schunderer“ eine ganz ausgezeichnete Worterfindung, es schwängen darin so viele Assoziationen mit von Schulden, Schuld, Schande, Schund und Schinder… Ob so ein Commerzbanker überhaupt kapiert, als was er da beleidigt werden soll?
Wiederholt (und wiederholt wird hier fast alles, zwei-, drei-, viermal und öfter) bezeichnet das schreibende Ich seine journalistische und diaristische Tätigkeit als „Vogeldeutung“, so wie im alten Rom die Auguren die Zeichen des Vogelflugs im Hinblick auf die Geschicke von Staat und Gesellschaft interpretierten. Verglichen mit dem, was Delius liefert, ist das Handwerk dieser Propheten eine exakte Wissenschaft zu nennen.
BURKHARD MÜLLER
Friedrich Christian Delius: Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich. Roman. Rowohlt Berlin 2019, 256 Seiten, 20 Euro.
Erst im Nachhinein lässt
sich abschätzen, ob der alte Onkel
recht gehabt haben wird
Verglichen mit diesem Buch waren
die Prophezeiungen antiker
Auguren exakte Wissenschaft
Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius.
Foto: Jens Kalaene
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Alles ist Gefühl und Moral: Der Büchnerpreisträger Friedrich Christian Delius rekapituliert die Merkel-Jahre
Vor einiger Zeit hat Friedrich Christian Delius, langjähriger Chronist der alten und neuen Bundesrepublik und Büchnerpreisträger des Jahres 2011, in der Zeitschrift Sinn und Form mit dem Gedanken gespielt, man könnte einen Roman über Angela Merkel schreiben und sie zeigen, wie sie, nachdem ihre lange Kanzlerinnenschaft dann doch zu Ende gegangen ist, auf den Rügener Kreideklippen stünde, nachsinnend über sich und die Geschichte …
So lange wollte Delius nun offenbar doch nicht warten und hat sich schon vorher ans Werk gemacht. Nur dass es sich nun nicht mehr um die Kanzlerin selbst handelt, die auf den Rügener Klippen steht, sondern um ihr Denkmal. Errichtet wird es von Chinesen, die ihr aufrichtig dankbar sind, dass sie durch ihre zaudernde und inkonsistente Politik den Siegeszug Chinas in Europa ermöglicht hat. Es trägt die Inschrift: „Der deutsch-chinesischen Kanzlerin. Der Erfinderin der marktkonformen Demokratie. Der Heldin von Piräus.“
Der griechische Hafen Piräus ist nämlich auf dem Höhepunkt der griechischen Schuldenkrise an einen chinesischen Investor verkauft worden, was Delius für den unwiderruflichen Anfang vom Ende Europas hält. Zum (knappen) Glück erweist sich diese Denkmalsetzung vorerst nur als Halluzination des vor Schreck kollabierenden Protagonisten.
Der Ich-Erzähler (sein Name tut nichts zur Sache) hatte ja schon damit gerechnet, dass seine Zeitung ihn, den altgedienten, unverbesserlichen Wirtschaftsredakteur, der sich lästigerweise bei seinen Recherchen von der Idee der Wahrheit leiten ließ, nicht mehr lang halten würde. Aber als er am 30. September 2017 seine Kündigung bekommt, versetzt es ihm doch einen Schlag. Da gibt es nur eines: weiterschreiben! Die Frage ist allerdings, wie, wo und für wen. Ein Blog? Auf diesem Feld tummeln sich doch bloß lauter engstirnige Rechthaber. Ein Buch? Bücher gibt es zu Tausenden, und sie haben im neuen Medienumfeld sowieso keine Chance. Da zieht er sich lieber gleich ins Private zurück und entscheidet sich fürs Tagebuch. (Der performative Widerspruch, dass die Weigerung, ein Buch zu verfassen, in Buchform erscheint, sei mit der legitimen Differenz zwischen Autor und Erzähler entschuldigt.)
Damit dieses doch sehr selbstbezogene Genre aber nicht völlig im Selbstgespräch des Altmännergegrummels versackt, adressiert das tagebuchführende Ich sein Werk an die 18-jährige Nichte Lena, die „liebe Nichte“, die gerade Abitur macht. Doch sie soll das Geschriebene erst mal nicht zu Gesicht kriegen. Stattdessen wird ihr geraten, das Diarium besser erst mit 40 oder 50 zu lesen, wenn sie eine gewisse Reife erlangt hätte und im Nachhinein abschätzen kann, ob der alte Zausel von Onkel denn nun recht behalten hat oder nicht: eine etwas umwegige Flaschenpost in die Zukunft.
Delius’ Buch nennt sich zwar ein Roman (wie heute so ziemlich jedes Druckerzeugnis in Prosa von mehr als 90 Seiten), stellt aber ein hybrides Produkt dar. Die Form des fiktiven Tagebuchs erlaubt erzählende Elemente; am Ende des Buchs überwiegen sie sogar, und man erfährt einiges über Alltag, Eheleben und Urlaubsreisen eines Frührentners wider Willen. So wird das sprechende Ich zur Figur, was den Vorteil hat, dass sich alles, was an seinen Ansichten fragwürdig oder beschränkt ist, aus der Voraussetzung des eben so und nicht anders beschaffenen Charakters erklärt. Im Schutz dieser Konstruktion lässt der Erzähler Dampf ab. Delius macht sich damit von den anspruchsvolleren Erfordernissen der Abhandlung und des Essays frei und gönnt sich von Herzen, was er an den Anderen, den Gegnern und Opportunisten, verdammt: das der Rechenschaft nicht bedürftige Meinen bis hin zum Ressentiment. Das bloße Meinen freilich ist, wie Europa seit Platon weiß, das genaue Gegenteil der Wahrheit, um die es angeblich geht.
Delius bzw. seinem Alter Ego, dem geschassten Redakteur, darf man bescheinigen, dass er sich mit seiner Meinerei die geringstmögliche Mühe gegeben hat. Die Themen sind politisch: Einwanderung, Euro- und Griechenlandkrise, Klimawandel und natürlich die Angst, nicht etwa vor China, sondern „den Chinesen“; aber so etwas wie eine politische Analyse findet nicht statt. Trump ist „dieser seltsam kranke Präsident“, Putin ein „Ganove“. Dass Russland unter seiner Führung eine höchst zielstrebige und erfolgreiche Strategie verfolgt und wie sie im Einzelnen vorgeht, scheint ihm nicht der Betrachtung wert zu sein. Alles ist hier Gefühl und Moral. Der frühere EU-Kommissionspräsident Romano Prodi wird als „hochanständiger“ Mensch gerühmt, Helmut Kohl dagegen hat sich einen Platz in der Hölle verdient. Der frühere griechische Finanzminister Varoufakis figuriert als Held, während sein deutscher Kollege (nicht genannt soll er werden und heißt darum nur abkürzend „Sch.“) dämonisch im Rollstuhl herumsaust wie Peter Sellers als Doctor Strangelove. Erfrischung verspricht sich der Tagebuchschreiber von einem Beschimpfungskatalog, den er dem barocken Simplicissimus entlehnt: „Ihr Speivögel, ihr ausgestochnen Bösewichte, Spitzköpfe, Siebdreher vom Starnberger See! (...) Ihr Schunderer von der Commerzbank!“ Der Erzähler findet „Schunderer“ eine ganz ausgezeichnete Worterfindung, es schwängen darin so viele Assoziationen mit von Schulden, Schuld, Schande, Schund und Schinder… Ob so ein Commerzbanker überhaupt kapiert, als was er da beleidigt werden soll?
Wiederholt (und wiederholt wird hier fast alles, zwei-, drei-, viermal und öfter) bezeichnet das schreibende Ich seine journalistische und diaristische Tätigkeit als „Vogeldeutung“, so wie im alten Rom die Auguren die Zeichen des Vogelflugs im Hinblick auf die Geschicke von Staat und Gesellschaft interpretierten. Verglichen mit dem, was Delius liefert, ist das Handwerk dieser Propheten eine exakte Wissenschaft zu nennen.
BURKHARD MÜLLER
Friedrich Christian Delius: Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich. Roman. Rowohlt Berlin 2019, 256 Seiten, 20 Euro.
Erst im Nachhinein lässt
sich abschätzen, ob der alte Onkel
recht gehabt haben wird
Verglichen mit diesem Buch waren
die Prophezeiungen antiker
Auguren exakte Wissenschaft
Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius.
Foto: Jens Kalaene
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Friedrich Christian Delius' Erzählung aus dem Jahre 1991 liest sich sehr aktuell ... Sie versammelt verblüffend viele ost-westdeutsche Vorurteile und Befürchtungen, die fast drei Jahrzehnte später noch virulent sind - beziehungsweise sich erfüllt haben. Jürgen Kanold Südwest Presse 20191107