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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Hellsichtige Diagnosen eines streitbaren Historikers: Ein neuer Band mit Essays von Tony Judt.
Seitdem Tony Judt im Jahr 2010 verstarb, erscheinen Zug um Zug zu Lebzeiten verstreut publizierte Essays, noch vor seinem Tode Fertiggestelltes sowie unveröffentlichte Fragmente des zuletzt in New York lehrenden Historikers. "Wenn sich die Fakten ändern", herausgegeben von seiner Witwe Jennifer Homans, versammelt Texte aus den späten neunziger und zweitausender Jahren, gerahmt durch biographische Skizzen. Die Einleitung von der Herausgeberin zeichnet das ebenso kluge wie liebevolle Bild eines Historikers, der als britisch, europäisch oder amerikanisch unzureichend beschrieben ist. Judt war ein transnationaler Intellektueller, nicht im Sinne disziplinärer Moden, sondern aufgrund seiner Interessen, einem durch sein Großwerk "Postwar" enormen Leserkreis sowie dank seiner buchstäblich bewegten Biographie und tiefen Skepsis gegenüber Identitätskonstruktionen.
In drei Nachrufen auf François Furet ("alles andere als ein aufgeblasener, eitler Akademiker"), Amos Elon ("klug und respektlos, verachtete Dummheit und Borniertheit") und Leszek Kolakowski ("Ironie und messerscharfe Argumentation") wird ein Porträt des Historikers als nicht mehr ganz so jungen Mannes reflektiert: geistreich und integer, mit einer Präferenz für Fakten anstelle von Theorien, methodisch eher bei der guten alten Chronologie als in der Intertextualität zu Hause und noch stets ein beeindruckend belesener, polyglotter, im positiven Sinne streitsüchtiger Intellektueller.
Dies ist auch der Grundton in Judts Rezension von Eric Hobsbawms "Age of Extremes", die den Auftakt der hier versammelten, in vier asymmetrische Hauptteile (Europa, Israel, Vereinigte Staaten, die Sozialdemokratie überhaupt) angeordneten Texte macht. Bisweilen scharfzüngig, immer scharfsinnig entwickelt Judt meist aus Buchbesprechungen größere Zusammenhänge. Beim Seelenverwandten Hobsbawm ignoriert er dessen Festhalten an einigen überkommenen Gewissheiten keineswegs - neue Fakten! -, doch tragen Wärme und Sympathie seine Lektüre.
Dass er auch anders kann, zeigt Judt, wenn er die handwerklichen Fehler, intellektuellen Unzulänglichkeiten und - als wäre das noch nicht genug des Überdrusses - antisemitischen Subtexte im Werk des Europahistorikers und selbsternannten Retters polnischer Größe, Norman Davies, schonungslos zerrupft. Das ist hart, aber glorreich. Wer die Faktenlage schludrig oder, schlimmer noch, wissentlich verkennt, findet bei Judt keine Gnade.
Doch nicht nur Fakten ändern sich, auch Kontexte wechseln, und der Leser dieser vorzüglichen Sammlung wird vielfach andere Assoziationen haben als ihr Autor. Schreibt Judt von der wachsenden Selbstisolation der Vereinigten Staaten und ihrem erodierenden Führungsanspruch im Zeitalter George Bushs des Jüngeren, so liest man heute wie selbstverständlich Donald Trump in diese Zeilen hinein. Geht es um den Nahen Osten, werden aus dem hier noch sehr lebendigen Ariel Scharon - laut Judt ein Verhängnis für den israelischen Staat - die Einbahnstraßen- und Eskalationspolitiker Benjamin Netanjahu und Avigdor Lieberman. Schreibt Judt im Jahr 1996 über Europa als "große Illusion", ist man versucht, darin die Prophezeiung von Brexit, ungarischem Rechtsbruch und AfD zu erkennen.
Und Judts Vision einer "Sozialdemokratie der Angst" liest sich nach den Bundestagswahlen 2017 auch anders, als sie 2009 gemeint war. Doch so finster die Formulierung daherkommt, stimmt Judt gerade nicht in den Abgesang auf sozialdemokratische Werte wie Wohlfahrtsstaat und Gerechtigkeit ein, sondern ruft zu ihrer Verteidigung auf. Das konservative Bewahren solcher Errungenschaften sei heute Kernaufgabe der Sozialdemokratie; mit der "Abrissbirne" der Innovationsrhetorik operierten hingegen die Zerstörer der Rechten.
An hellsichtigen Gedanken ist fürwahr kein Mangel in diesem Band. In den neunziger Jahren beschreibt Judt luzide, wie nationalistische Bewegungen - noch sind es Jean-Marie Le Pen und Jörg Haider - Kapital aus dem diskreditierten Wohlstandsversprechen der Europäischen Union ebenso schlagen wie aus Ängsten vor globalen Migrationsbewegungen. Wenn man liest, dass der EU-Beitritt Ungarn und die Slowakei "vor ihren eigenen Dämonen schützen" solle, ist man gelinde verblüfft. Auch das Bild der amerikanischen Außenpolitik als SUV sitzt: im Zeitalter von Überbevölkerung, Ressourcenknappheit und Klimawandel sei dies ein "gefährlicher Anachronismus", weil er verkenne, dass Unilateralismus und militärische Macht nicht dasselbe seien wie Einfluss und Überzeugungskraft. Und wenn Judt urteilt, das amerikanische Ansehen habe "einen historischen Tiefpunkt", möchte man nur die Jahreszahl auswechseln, ehe man unterschreibt.
Mit den Vereinigten Staaten geht Judt ebenso hart ins Gericht wie mit Israel - nicht aus Antipathie, sondern aus der Enttäuschung des amerikanischen Staatsbürgers und ehemaligen Kibbuzniks. Über Jahrzehnte hinweg haben beide Staaten in seinen Augen so ziemlich alles falsch gemacht. Israels Elite habe nie begriffen, dass man nicht gleichzeitig jüdischer Staat und Demokratie sein könne, während in den Vereinigten Staaten Präsidenten gewählt würden, die Folter, gezielte Tötungen und andere Völkerrechtsbrüche autorisierten. Die Vision, die beide Staatsprojekte einmal darstellten, sei moralisch diskreditiert, und hier wie dort vermisst Judt ein Minimum an Vernunft, Vertrauen, Anstand. Für diese Werte, die er seinen Vorbildern Camus und Orwell entlehnt und Europa in höherem, vielleicht zu hohem Maße zuschreibt, sprechen wiederum die Fakten, und diese implizieren Gesprächsfähigkeit, Kooperation und Solidarität.
Die dazu passende Metapher findet Judt in der Eisenbahn als Sinnbild der Moderne, in welcher der Individualverkehr nur eine weitere Verirrung des zwanzigsten Jahrhunderts sein könne. In der Bahn verdichtet sich Judts durch und durch sozialdemokratisches Verständnis von Staat und Gesellschaft: nicht als antagonistische Konstellation, in der die eine vor dem anderen geschützt werden muss, sondern als Komplemente, die einander bedingen und bedürfen. Insofern erklärt sich leicht, warum Margaret Thatcher nie mit der Bahn fuhr: Dort hätte sie jene Gesellschaft gefunden, an deren Existenz sie nicht glaubte.
KIM CHRISTIAN PRIEMEL
Tony Judt: "Wenn sich die Fakten ändern". Essays 1995-2010.
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 384 S., geb., 25,- [Euro].
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