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Was verlieren wir eigentlich durch das fortlaufende Aussterben von Sprachen? Nicholas Evans hat darüber ein ganz vorzügliches Buch geschrieben.
Neuguinea, Kamerun und der Kaukasus sind Weltgegenden, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Doch haben sie eines gemeinsam: eine schier unglaubliche Vielfalt an unterschiedlichen - oft nicht einmal verwandten - Sprachen auf kleinem Raum. So werden von den 6000 Sprachen auf der Welt 1100 allein in Neuguinea gesprochen, bei einer Bevölkerungszahl von nicht mehr als zehn Millionen Menschen.
Wer, wie die meisten Europäer, an großflächige Standardsprachen gewöhnt ist, mag darin einen bizarren Flickenteppich, ein Dickicht aus Kommunikationsbarrieren sehen. Aber menschheitsgeschichtlich ist dieses Szenario der Normalfall. Zu Beginn der Jungsteinzeit gab es schätzungsweise ebenso viele Sprachen wie heute - obwohl die Zahl der damaligen Weltbevölkerung nur einen winzigen Bruchteil der heutigen betrug. Sprachliche Monokulturen mit Millionen von Sprechern kamen erst vor mehreren tausend Jahren auf, als sich große zentralisierte Staaten bildeten. Und nur in diesen Regionen wurde die Beschränkung auf eine Sprache im Alltag zum Normalfall, während für Angehörige kleiner Sprachgemeinschaften die Fähigkeit, zwischen mehreren Idiomen zu wechseln, bis heute selbstverständlich ist.
Die Planierung der sprachlichen Vielfalt nimmt indes immer noch Fahrt auf. Zum Ende dieses Jahrhunderts wird düsteren Schätzungen zufolge nur noch ein Zehntel der heute gesprochenen Sprachen existieren, Optimisten prognostizieren, dass immerhin noch die Hälfte übrig sein wird. Selbst das hieße allerdings, dass alle zwei Wochen eine Sprache verschwindet, weil der letzte Mensch, der sie noch sprechen kann, stirbt, während seine Nachkommen nur noch die überregionale Verkehrssprache ihres Landes sprechen, die Bildung und Aufstieg verheißt.
Welchen Verlust der Untergang sprachlicher Vielfalt bedeutet, schildert Nicholas Evans, Linguist in Canberra und Experte für die Sprachen der Aborigines. Sein Buch spannt ein weites thematisches, geographisches und zeitliches Panorama auf: Es reicht von den indogermanischen Lautverschiebungen bis zur Schrift der Maya, es erzählt, wie die austronesischen Sprachen sich zwischen Madagaskar und Hawaii ausbreiteten und die Idiome Sibiriens nach Amerika gelangten, es schildert den Alltag linguistischer Feldforscher, gibt Einblick in die knifflige Rekonstruktion von Sprachverwandtschaften, es diskutiert das verwickelte Verhältnis zwischen Sprache und Kognition und die Rolle der Poesie für die Entfaltung der Sprachkultur.
Den roten Faden bildet die Wertschätzung für das immense kulturelle Wissen, das den Sprachen der Welt innewohnt. Evans vertritt eine Sprachwissenschaft, die sich aus den besten Traditionen der Romantik speist: aus der Überzeugung, dass die reale Vielfalt und bunte Differenz sprachlicher Möglichkeiten alles übertrifft, was die graue Theorie sich träumen lässt, aus dem Glauben, dass sich auch hinter scheinbar abseitigen Details ungeahnte Aufschlüsse über Natur und Geist des Menschen verbergen, und einem großen Interesse an der historischen Dimension der Sprachen. An etlichen Projekten zur Erforschung und Dokumentation kleiner und bedrohter Sprachen, über die Evans berichtet, sind deutsche Linguisten und Wissenschaftseinrichtungen maßgeblich beteiligt. Das Erbe Wilhelm von Humboldts, sonst vor allem ein Klischee für Sonntagsreden, ist hier noch lebendig.
Ausführlich schildert Evans, wie die vergleichende Untersuchung vieler kleiner Sprachen die Rekonstruktion von jahrtausendealten Kulturen und Wanderungsbewegungen, die nicht schriftlich dokumentiert sind, voranbringt. Aber sie helfen auch, alte Schriften wieder zum Sprechen zu bringen. Ein Beispiel ist die Entschlüsselung des alwanischen Alphabets, das im Königreich Albania, gelegen im heutigen Aserbaidschan, bis in das 12. Jahrhundert hinein im Gebrauch war.
Alwanische Texte aus der Frühzeit des Christentums hatten als Palimpseste in einem Kloster auf dem Berg Sinai überdauert, wo sie in den siebziger Jahren in einem versteckten Kellerraum entdeckt wurden. Ihre Bedeutung erschloss sich erst, als man feststellte, dass sich hinter dem Gemisch aus äthiopischen, armenischen und georgischen Schriftzeichen eine Sprache verbarg, die eine frühe Form des Udischen war. Diese ostkaukasische Sprache, die heute noch von wenigen tausend Menschen gesprochen wird, lieferte den Schlüssel, der dieses Tor zur Vergangenheit öffnete. Ähnlich verhält es sich mit der Schrift der Maya. Sie wurde erst "geknackt", als sich herausstellte, dass die lang gepflegte Theorie, ihre Zeichen stünden nicht für die Silben oder Wörter einer bestimmten Sprache, sondern für universelle Ideen, falsch war. Tatsächlich geben sie eine Sprache wieder, die im heutigen Maya fortlebt, das wiederum den Weg zum Verständnis der alten Inschriften ebnete.
Ein Argument, das für den Erhalt der Sprachenvielfalt regelmäßig angeführt wird, ist die Whorfsche These von den Sprachen als den Quellen unterschiedlicher Weltbilder und Wahrnehmungsweisen, deren geistiger Reichtum zu bewahren sei. Evans vertritt eine abgemilderte, empirisch geläuterte Variante dieser linguistisch umstrittenen Position: Er führt eine Reihe neuerer Untersuchungen an, die sprachspezifische Einflüsse auf die Wahrnehmung von Raum und Zeit, den Umgang mit Zahlen und Mengen, die Klassifizierung von Farben oder die Unterscheidung von Stoffen und Objekten belegen sollen. Sprachliche Unterschiede lenkten demnach die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Facetten der Realität, sie seien "wie Ausstechformen, die die Kategorien bestimmen, welche wir aus dem Teig der Erfahrung formen". Das klingt nüchterner als die phantasievollen Erzählungen, die in ethnoromantischen Milieus über die vermeintlich "ganz anderen" Erlebniswelten der Hopi, Inuit und anderer indigener Völker lange Zeit kursierten. Ob die kognitiven Wirkungen von Sprachstrukturen aber nicht möglicherweise noch begrenzter sind, nämlich nur diejenigen Denkprozesse betreffen, die der Produktion und Verarbeitung sprachlicher Formulierungen unmittelbar zugrunde liegen, ist eine immer noch offene Frage.
Ein wichtiger Grund für den Erhalt multilingualer Verhältnisse, abseits aller wissenschaftlichen Interessen, ist das Recht kleiner Ethnien auf Wahrung ihrer Identität. Welch bedeutende Rolle hier die Sprache spielt, zeigen Evans' Berichte über Clans und Volksgruppen, die bewusst grammatische und phonetische Besonderheiten in ihre Sprachen einbauen, um den Abstand zu verwandten Idiomen und deren Sprechern zu vergrößern. Dieses Bedürfnis nach Distinktion - das freilich meistens mit der Fähigkeit, mehrsprachig zu kommunizieren, einhergeht - treibt die Auseinanderentwicklung von Sprachen viel stärker voran als geographische Hindernisse. Eine ähnliche Mentalität begegnet einem in abgemilderter Form durchaus auch hierzulande: Mit Stolz in der Stimme erzählt der Plattdeutsche, dass die Leiter überall sonst "Ledder", im eigenen Dorf aber "Ladder" heiße. In einer Zeit, da Wirtschaft und Politik Sprache zum bloßen Schmiermittel der Zirkulation erklären, wird das identitätspolitisch aufgeladene Bedürfnis nach Vielfalt zum Sand im Getriebe der Globalisierung.
Evans schreibt in einem engagierten Ton, der aber angenehm frei ist von jenem sentimentalen Pathos, das Klagen über "sterbende Sprachen" oftmals begleitet. Wer sich über die ganze Bandbreite dieses Themas informieren will und auch vor grammatischen Details nicht zurückschreckt, wird das Buch mit Gewinn lesen. Die Übersetzung von Robert Mailhammer ist flüssig und kommt dem Leser dadurch entgegen, dass statt der englischen oft deutsche Wörter und Formen herangezogen werden, um als Kontrastfolie für die Beispiele aus den vielen exotisch anmutenden Sprachen zu dienen. Verhindern müssen hätte ein Lektorat allerdings diesen Schnitzer: Die Jungsteinzeit begann nicht vor "zehn Millionen" Jahren - da existierte die menschliche Gattung noch nicht einmal -, sondern vor zehntausend Jahren, wie es die "ten millennia" des Originals auch sagen.
Schlampig ist auch der Umgang mit einer Gedichtstrophe von Jorge Luis Borges über die Grenzen von Erinnerung und Sprache, mit der das Buch eingeleitet wird. Im Original ist von "inolvidables cosas" die Rede, doch aus diesen "unvergesslichen Dingen" werden in der deutschen Übersetzung "einige Dinge". Und das spanische "volver", das in diesem Zusammenhang etwa "zu etwas zurückkehren" bedeutet, erscheint als "wiedergeben". Als Quelle wird die deutsche Fassung des Gedichts von Gisbert Haefs angegeben. Schlägt man dort nach, liest man es jedoch ganz anders: Dort ist nicht von "einigen", sondern von "ewigen Dingen" die Rede, und es heißt auch nicht "wiedergeben", sondern "wiederfinden". Beides ist eine durchaus vertretbare Wortwahl, die durch die falsche Zitierweise entstellt wird. Eine mangelhafte Betreuung ist für kein Buch akzeptabel - wenn es den Wert der Sprachen und der Dichtung thematisiert, gilt das erst recht.
WOLFGANG KRISCHKE
Nicholas Evans: "Wenn Sprachen sterben". Und was wir mit ihnen verlieren. Aus dem Englischen von Robert Mailhammer. Verlag C. H. Beck, München 2014. 416 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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