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Freies Denken in der Diktatur und Hitlers miserables Horoskop: Christian Schulteisz erzählt in seinem Debütroman vom Naturphilosophen Hans Jürgen von der Wense
"Wenn ich sterbe, ist die Welt in meinem Zimmer", schreibt der Musiker, Schriftsteller und Naturphilosoph Hans Jürgen von der Wense (1894 bis 1966) zehn Jahre vor seinem Tod. Zu Lebzeiten veröffentlicht der exzentrische Geist kaum fünfzig Seiten. Das Gros seines Mammutwerks landete im Nachlass: Rund 30 000 beidseitig beschriebene Blätter, vierzig Tagebücher, zahlreiche Kompositionen, Collagen, dreitausend Kleinbildfotografien und Hunderte Briefe. 1932, ein Jahr vor der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten, beginnt Wense, ausgerüstet mit Zeiss-Kamerabox und Messtischblättern, Deutschlands Mitte zu erwandern und zu erforschen. 42 000 Kilometer, also einmal rund um den Globus, will er so zwischen Kaufunger Wald, Habichtswald und Eichsfeld zurückgelegt haben.
Wense lebt ohne festen Wohnsitz, als Untermieter in möblierten Zimmern. Er gilt als Sonderling, seine Zuneigung zu jungen Männern wird argwöhnisch beäugt. Zu allem Überfluss collagiert er heimlich den Ungeist der Zeiten im Fokus der geifernden Lokalpresse: eine LTI, selbstgebastelt mit Schere und Leimtopf. 1941 zieht er, angezogen von der Universitätsbibliothek Georgia Augusta, nach Göttingen. 1943 wird er zum Arbeitsdienst in den Physikalischen Werkstätten verpflichtet; die kriegswichtige Firma stellt Radiosonden für die militärische Wettervorhersage her. Die Einschläge kommen näher.
Genau in dieser Spannung zwischen der totalen Kriegsrealität des NS-Staates, die immer stärker alle Alltagsbereiche der Bevölkerung durchdringt, und Wenses staunend-zweckfreiem Blick auf die Welt entwickelt der 1985 geborene Christian Schulteisz seinen Roman. In short cuts, aneinandergereiht in dreizehn Kapiteln, kondensiert er biographische Motive aus Wenses Leben in den Jahren 1943/44. Wie überlebt ein freier musischer Geist, für den Karten "Partituren der Landschaft" sind, in einer Zeit, als es vorrangig "um Nutzflächen und Befahrbarkeit, um Hindernisse und Deckung, ums Einkesseln und Abriegeln" geht und Orientierung zur "soldatischen Pflicht" geworden ist? Noch kann der Sonderling im zerschlissenen Gehrock, der liebend gern seine "Geoästhetik" begründet hätte, durch Wald und Flur stromern. Doch zwischen Kohlenmeilern und Waldweiden drängt sich ein Flakgeschütz in den Blick, ein Lazarettzug voller Verwundeter und Krüppel, das geliebte, im Oktober 1943 zerbombte Kassel.
Die Gefahr, im engmaschigen Überwachungsnetz der Diktatur hängenzubleiben, wächst täglich. Als Wense seine Papiere aus der Universitätsbibliothek räumen muss und die Mappen beim Umzug einem Blockwart vor die Nase fliegen, stockt das Herz: Der Hobbyastrologe hat auch Hitlers unfreundliches Horoskop archiviert. In diesen Zeiten sind andere schon für weniger weggesperrt worden. "Wer überleben will, muss ungenießbar sein", meint Wense mit Blick auf Heckenrose, Schlehe und Disteln.
Eindrücklich die Szenen, die Wenses Arbeit in den Physikalischen Werkstätten schildern. Seiner Korrektheit wegen hat er es auch als Ungelernter zum Leiter einer Abteilung gebracht, die Eichkurven der Radiosonden zur Temperaturmessung in großen Höhen kontrolliert. Wir erleben Wense als widersprüchliche Figur: Eigentlich loyal gegenüber den ihm unterstellten Zwangsarbeitern, meldet er die Russinnen Nadja und Galina wegen kommunistischer Propaganda. Zum französischen Physiker Roger entwickelt sich eine Freundschaft, wohl auch heimliches Begehren - wie gut, dass Wenses Mutter nicht genauer nachfragt. Der ebenfalls dienstverpflichtete Göttinger Pädagoge Herman Nohl, der nach 1933 noch mit nationalsozialistischem Gedankengut flirtete, erinnert subtil daran, dass der Komplettausstieg aus gesellschaftlichen Zwängen kaum möglich ist: Klebt nicht an den regelmäßigen Zuwendungen, die Wense von der Nichte des Reeders Adolph Woermann bezieht, das Blut der Hereros? Zu alldem kommen Hunger, Krankheit, Schinderei bei der "Stadtwacht", einer paramilitärischen Volkssturmtruppe, die Schützengräben für den Endkampf ausheben muss. "Als er schließlich zuhause in seinem Zimmer ist, kommt er sich wie eine Sonde vor: mit pulsierenden Schmerzen als Morsezeichen. Ihm fehlt bloß noch die Formel, um die Geschwindigkeit zu errechnen, mit der er sich von sich selbst entfernt."
Glücklicherweise baut Christian Schulteisz, der bislang Kurzhörspiele und dramatische Texte veröffentlicht hat, nicht den spätexpressionistisch-ekstatischen und manchmal etwas nervenden O-Ton Wenses nach. Für sein nur gut 120 Seiten umfassendes, aber sorgfältig durchkomponiertes Romandebüt findet er stattdessen eine eigene Sprache; die Hörspielerfahrung kommt ihm hier zweifellos zupass. Wie sein Protagonist, der nur gelegentlich innehalten kann, um "seinem forteilenden Geist hinterherzusehen", ist der Text in ständiger Bewegung. Mit wenigen Strichen evoziert Schulteisz eine Atmosphäre der Bedrohung; wenn Wense "mit vorgestreckter Aktentasche" einen Zug entert, hüpfen mitreisende Damen schon mal beiseite "als wärs ein Messer".
Daneben, immer wieder, großartige Naturschilderungen, etwa wenn Wense hungrig durch dunklen Tann stapft: "Der Wald liegt dampfend da wie frisch gekochtes Gemüse, Prellsteine im Nebel wie heiße Kartoffeln, der Teich ein Teller Suppe mit eingebrocktem Mond. Nur das Fleisch, die Enten fehlen." Ein Mond, der wie vieles in diesem Buch schwer an Arno Schmidt erinnert, aber vielleicht ist man durch all die Messtischblätter und Zettel-Kästen auf diesen Trip gekommen?
Wie Schmidt kann Schulteisz auch sehr lustig sein, bis an die Slapstick-Grenze: Grandios, wie sich Wense, auf der verzweifelten Suche nach seinem Dackel, völlig gehen lässt und purzelbaumschlagend vor die Füße eines bierernsten Volksgenossen rollt. Uns Lesern bleibt "Wense" nachhaltig als Skizze eines existentiell Gefährdeten im Sinn, der es wohl auch in heutigen Zeiten stetiger Selbstoptimierung nicht leicht hätte: "Er steht am Rand, wie er immer steht, immer auf der Kippe."
NILS KAHLEFENDT.
Christian Schulteisz: "Wense". Roman.
Berenberg Verlag, Berlin 2020. 128 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
sich arrangieren
Christian Schulteisz’ Debütroman
über Jürgen von der Wense
Dieser Sommer bietet sich für Flugreisen nicht richtig an. Deutschland entdecken, hört man gelegentlich, wäre eine Alternative, auch abseits von Ost- und Nordsee. Und tatsächlich gäbe es in Jürgen von der Wense, diesem Nature Writer, bevor der Begriff in Deutschland bekannt wurde, einen passenden originellen Begleiter. Anfang Mai 1932 kam der 1894 in Ostpreußen geborene Wense nach Karlshafen, blieb in der kleinen hessischen Stadt an der Weser hängen und dachte sich sein künftiges Leben aus: „O könnte dies mein Stil sein: jeden Monat in einer anderen Stadt in dem unbekanntesten Deutschland und von da aus schwärmen und forschen.“
Tatsächlich blieb Wense, dessen wunderbare „Wanderjahre“ der Verlag Matthes & Seitz 2009 aus Notizen und Fragmenten zusammengefügt veröffentlicht hat, meist in Deutschland, entdeckte versteinerte vulkanische Landschaften, kleine Dörfer, historische Burgen, ohne je deutschtümelnd zu wirken. Nach dem Karlshafen-Erlebnis zog der vormals atonale Komponist Wense, dessen Mutter einen Steinway-Flügel hatte, auf dem er immer noch gerne spielte, in die Nähe, nach Kassel, und begann, die Mittelgebirge zu erforschen. Er hatte kein eigenes Einkommen, brauchte auch wenig Geld. Und er verfügte über eine Gönnerin, die ihm über zwanzig Jahre hinweg monatlich 222 Mark und 22 Pfennige zuschob. Dann aber schloss sich die Bildhauerin und Reederstochter Hedwig Jaenichen-Woermann, ein ehemaliges Worpsweder „Malweib“, schillernde Freundin Rilkes und Geliebte Rodins, in den Dreißigerjahren den Nazis an. Was überhaupt nicht zu Wense, dem „entarteten“ Künstler aus altem Adel, passte, der den Berliner Spartakusaufstand und die Münchner Räterepublik, für die er sich begeisterte, noch nicht vergessen hatte.
Aber einer, der nicht emigrierte, musste sich arrangieren. Wie genau hat der notorische Einzelgänger Wense in den anpassungsintensiven zwölf Jahren nach 1933 gelebt? Das muss sich der 1985 in Gelnhausen geborene Autor Christian Schulteisz gefragt haben, der mit einem schmalen Wense-Roman sein Debüt vorlegt hat. Es spielt in den Vierzigerjahren, als der schon im Ersten Weltkrieg dienstuntaugliche, mittlerweile fünfzig Jahre alte Wense in der Phywe, den „Physikalischen Werkstätten“ Göttingen Arbeitsdienst leistet. Wense muss kriegswichtige Radiosonden prüfen und wird schließlich Abteilungsleiter. Daneben nimmt der Eigensinnige alle möglichen alten Projekte und Studien wieder auf: Übersetzungen aus dem Alt-Irischen, Alt-Isländischen, Arabischen und Dänischen beispielsweise. Sprachen, die sich der hochbegabte Universaldilettant im Selbststudium beigebracht hat. Aber er findet auch zu alten Kompositions- und Schreibvorhaben zurück, wie etwa den Essays über den „Stab“ und das „Stehen“. Und hinterlässt einen vieltausendseitigen Nachlass.
Schulteisz’ Wense ist ein sympathischer, zurückhaltend-verschrobener Einzel- und Spaziergänger, der sich in einer Bibliothek einschließen lässt, um mehr Zeit zum Lesen zu haben, und wegen seiner Homosexualität Angst vor Verfolgung hat. Aber auch sonst kann er sich nicht ganz aus der Zeit heraushalten. 1935 schreibt er in sein „Tagebuch“: „Dass jetzt Zensur eingeführt wurde, alle geistigen Arbeiten von oben kontrolliert und kritisiert werden, bedeutet meine Vernichtung.“
Andererseits „muss“ Wense bei Schulteisz zwei polnische Phywe-Zwangsarbeiterinnen, die er mit kommunistischen Flugblättern hantieren sieht, melden, da bleibt ihm „keine Wahl“. Wirklich keine Wahl, warum, fragt man sich – und stößt damit auf eine problematische Seite von Schulteisz’ Darstellung. Sie wirkt genau recherchiert, aber dass schlicht jeder Hinweis auf Quellen fehlt, mutet bei einem derart deutlich auf biografischen Vorgaben fußenden Roman doch etwas sehr lässig an. Gerade, wenn es um nicht ganz unwichtige Beschäftigungen wie „Verrat“ geht.
Auch den von der „Jugendbewegung“ geprägten, völkisch-nationalen Pädagogen Herman Nohl, der Hitlers Machtstreben einst begrüßt hat, aber 1937 von seiner Göttinger Professur entlassen wurde, hat es zur Phywe verschlagen. Schulteisz beschreibt ihn als Vertrauten von Wense. Auch ihn würde man gerne detaillierter kennenlernen. Andererseits gelingt es Schulteisz, die vage, unsichere Atmosphäre zu vermitteln, in der sein vorsichtiger, stets verfolgungsgefährdeter, „innerlicher“ Wense lebt. Und er schafft es, die enge, schwierige Beziehung etwas genauer auszuleuchten, die Wense mit seiner Mutter verbindet. Man beginnt die Zwänge zu begreifen, denen dieser Einzelgänger auf seinen ungewöhnlichen deutschen Wanderungen entfloh. So taugt Schulteisz’ Debüt dann doch als Einstieg in Wenses Welt.
HANS-PETER KUNISCH
Auch ein verschrobener
Einzelgänger kann sich in dieser
Zeit nicht ganz heraushalten
Christian Schulteisz: Wense. Roman. Berenberg Verlag, Berlin 2020. 125 Seiten, 22 Euro.
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