Ein furioser Roman voll von Punk, Zorn und bissigem Witz: Atemlos folgen wir einer Reise durch die Abgründe der Vorstadtidylle von Helsinki. Seit jener Party der vielversprechenden Jeunesse dorée ist nichts mehr, wie es war in dem eleganten Villenviertel bei Helsinki: Familien zerbrechen, Karrieren enden, und ein düsteres Schweigen liegt über der einst so heiteren Idylle am See. Unerbittlich legt Fagerholm frei, was sich in dieser Nacht ereignet hat: Der charmante Gastgeber Nathan, Gusten und deren zwei Freunde haben das Mädchen Sascha im Keller eingeschlossen, sie stundenlang gequält und vergewaltigt. Und auch wenn Schweigegeld bezahlt und Geständnisse abgelegt werden, kann nichts mehr heil werden, weil es keine Sprache gibt für das, was geschehen ist. Das muss auch Gusten erfahren, als er nach Jahren auf der Suche nach seiner großen Jugendliebe Emmy zurückkehrt …
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Sandra Kegel wundert sich, dass Monika Fagerholm in Deutschland trotz ihres unverwechselbaren Werks so unbekannt ist und hofft, dass sich das mit "Wer hat Bambi getötet", kongenial von Antje Rávik Strubel übersetzt, nun ändert. Die Geschichte habe eine Gruppenvergewaltigung zum Thema, sie frage nach den Geschichten von Opfer und Tätern. Die brutale Handlung trifft hier auf eine fast malerische Sprache, meint Kegel, auch die vielen kulturellen Verweise tragen zu einem intensiven Geflecht bei, das sich unbedingt zu lesen lohnt. Wütend, erschreckend, schmerzhaft ergebe sich hier ein ganz eigener Fagerholm-Sound.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2022Das Gewissen spricht ihn nicht frei
Monika Fagerholm, eine Finnin schwedischer Sprache, gilt es bei uns noch zu entdecken: mit ihrem Roman "Wer hat Bambi getötet?".
Von Sandra Kegel
Monika Fagerholm ist hierzulande praktisch unbekannt. Eine Stichprobe im deutschsprachigen Zeitungsarchiv seit dem Jahr 2004 wirft genau vier Artikel aus. Das ist wenig - und umso erstaunlicher, als die finnische Schriftstellerin schwedischer Sprache, die 1961 in Helsinki geboren wurde und spätestens seit ihrem Erfolg mit "Das amerikanische Mädchen" 2005 in den nordischen Ländern eine feste Größe ist, mit Auszeichnungen bedacht wurde, darunter der renommierte Nordische Preis der Schwedischen Akademie. Erhalten hat sie diesen für ihren letzten Roman, "Wer hat Bambi getötet?", von 2019, der jetzt in der Übersetzung von Antje Rávik Strubel auf Deutsch erschienen ist. Die übersetzende Schriftstellerin hat nicht nur Großes geleistet; sie wirbelt, ungewöhnlich genug, noch dazu, wenn sie den unverwechselbaren Sound von Fagerholms atemloser Prosa herausstellt: "punkig, bissig, zärtlich". Und sie hat recht. Höchste Zeit, sich mit Monika Fagerholm auch hierzulande zu befassen.
Denn es ist tatsächlich sein außergewöhnlicher Ton, der diesen Roman ausmacht, in dessen Zentrum ein Verbrechen steht: die brutale Gruppenvergewaltigung in der märchenhaften Seenlandschaft unweit von Helsinki. Doch die Erzählung will nicht etwa erörtern, wer wohl die Täter sind, diese stehen von Anfang an fest. Der Roman ist vielmehr ein dichtes Geflecht aus Geschichten, Erinnerungen und Dialogen, um aufzuzeigen, was die Vergewaltigung überhaupt erst möglich gemacht hat.
Der Hauptverantwortliche für die Tat, die Jahre zurückliegt, ist Nathan, Sohn einer angesehenen Familie, die nach dem Verbrechen, das in ihrem Haus stattfand, zerbricht. Das Opfer, Sascha, stammt aus einem Schutzheim für junge Frauen. Jahre später wird sie im fernen Amerika an einer Überdosis Drogen sterben. Das Motiv für die Tat war schlicht Rache: Sascha hatte Nathan einst abserviert. Vor Gericht aber will die junge Frau nicht gehen; sie schweigt, weshalb das Geschehen am Ende nicht durch das Opfer, sondern durch eine Kamera bezeugt wird, die alles aufgezeichnet hat.
Monika Fagerholms Text ist verblüffend schlagfertig und zugleich literarisch souverän. Kreiselnd bewegt er sich vor und zurück, ist gespickt mit kulturellen Anspielungen, wie schon der Titel zeigt, der von Felix Saltens Bambi-Roman aus den Zwanzigerjahren über die berühmte Disney-Verfilmung bis zum gleichnamigen Song der Sex Pistols einen breiten Resonanzraum stimuliert. Was sich in den vielen unterbrochenen Sätzen, den Klammern und Zitaten versteckt, ist die eine Wahrheit, die seither über dem Ort hängt wie drückender Nebel und alle trifft, egal wie sehr sie sich dagegen wehren: Es ist geschehen, und es tut weh.
Die verstörende Gleichzeitigkeit von Idylle und Bedrohung erinnert an die Titelmelodie aus David Lynchs Serie "Twin Peaks". Monika Fagerholm aber treibt sie bis ins Äußerste. Der schreckliche Ernst, der hier verhandelt wird, trifft auf eine große Verspieltheit in der Sprache. Und es ist diese Sprache, die die Fragmente der Erlebnisse zusammenhält. Die getriebene Rhetorik verkürzter Sätze und abgehackter Zeilen, die zwischen den Ebenen hin und her springen, setzt eine rhythmische Prosa ins Werk, die fasziniert.
Gusten, einst Nathans bester Freund, der die Vergewaltigung gefilmt hat, war damals als Einziger geständig. Und im Gegensatz zu den anderen fühlt er sich auch als Erwachsener noch schuldig. Nach dem Aufenthalt in einer Psychiatrie unternimmt er zaghafte Versuche, zu schreiben und zu schauspielern, um beides alsbald wieder sein zu lassen. Das Buch zeigt ganz wesentlich auch das: den inneren Kampf eines Täters angesichts seiner Tat. Das Gericht hat ihn freigesprochen, nicht aber das eigene Gewissen.
Der dritte Freund aus jenen Jahren, Cosmo, heute ein erfolgreicher Produzent, war an der Vergewaltigung nicht beteiligt, will aber jetzt einen Film darüber drehen, nicht zuletzt, weil sein Vater als "Promi-Psychologe" seinerzeit die Jugendlichen therapierte und er viel darüber weiß. Cosmo hat bereits die Filmplakate entworfen, als er die Pläne schnell wieder ad acta legt, nachdem Nathans vermögender Vater sich nicht ohne Hintergedanken in die Produktionsgesellschaft einkauft.
Bisweilen bebt der Roman vor Wut, wenn er diese Gesellschaft, eine finnische jeunesse dorée samt Entourage, immer aufs Neue in den Blick nimmt in deren Oberflächlichkeit, Narzissmus und Mangel an Empathie. Fagerholm ist es um die sozialen und mentalen Strukturen eines ganz bestimmten Milieus zu tun, das selbst vor dem Zynismus nicht zurückschreckt, im Nachhinein die Monstrosität der Tat zu leugnen: "Jetzt blättern wir die Seite um, und eines schönen Tages werden wir so viele Seiten umgeblättert haben, dass nichts von alldem passiert ist", beschwichtigt Nathans Mutter.
Es ist auch ein Roman über Klassen. Manche hier haben den Aufstieg ins bessere Viertel geschafft, werden aber nie zum alten Geld gehören, andere verantworten neoliberale Thinktanks oder leben als Blogger und also als Menschen, die ihre eigene Marke sind. In Freundschaften stehen sich finanzielle und künstlerische Ambitionen gegenüber, andere sind einfach nur kriminell wie Nathans Vater, der Sascha zu bestechen versucht, damit sein Sohn nicht vor Gericht stehen muss. Nicht zufällig fallen hier Anspielungen auf die Hohepriesterin des Kapitalismus, Ayn Rand, und kommt die Bezeichnung "Kiddults" gleich mehrfach vor, womit jene Erwachsene gemeint sind, die nie das Kindsein ablegen wollen.
Unerbittlich zeichnet die Autorin ihr Personal als selbstverliebt, naiv und verantwortungslos. Wie ein Puzzle setzt sie dabei die Scherben zu einem finnischen Zerrbild zusammen. Und der Schrecken hört da noch lange nicht auf, denn sie trägt immer noch mehr zusammen über all die Häuser und Wohnungen und gescheiterten Singer-Songwriter-Karrieren. Saschas quälender Untergang hingegen wird in wenigen Sätzen abgehandelt. Das aber ist kein Zufall und der Autorin auch nicht aus Versehen unterlaufen. Vielmehr ist das Monika Fagerholms ganzer bitterer Ernst.
Monika Fagerholm: "Wer hat Bambi getötet?". Roman.
Aus dem Schwedischen von Antje Rávik Strubel. Residenz Verlag, Salzburg 2022. 256 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Monika Fagerholm, eine Finnin schwedischer Sprache, gilt es bei uns noch zu entdecken: mit ihrem Roman "Wer hat Bambi getötet?".
Von Sandra Kegel
Monika Fagerholm ist hierzulande praktisch unbekannt. Eine Stichprobe im deutschsprachigen Zeitungsarchiv seit dem Jahr 2004 wirft genau vier Artikel aus. Das ist wenig - und umso erstaunlicher, als die finnische Schriftstellerin schwedischer Sprache, die 1961 in Helsinki geboren wurde und spätestens seit ihrem Erfolg mit "Das amerikanische Mädchen" 2005 in den nordischen Ländern eine feste Größe ist, mit Auszeichnungen bedacht wurde, darunter der renommierte Nordische Preis der Schwedischen Akademie. Erhalten hat sie diesen für ihren letzten Roman, "Wer hat Bambi getötet?", von 2019, der jetzt in der Übersetzung von Antje Rávik Strubel auf Deutsch erschienen ist. Die übersetzende Schriftstellerin hat nicht nur Großes geleistet; sie wirbelt, ungewöhnlich genug, noch dazu, wenn sie den unverwechselbaren Sound von Fagerholms atemloser Prosa herausstellt: "punkig, bissig, zärtlich". Und sie hat recht. Höchste Zeit, sich mit Monika Fagerholm auch hierzulande zu befassen.
Denn es ist tatsächlich sein außergewöhnlicher Ton, der diesen Roman ausmacht, in dessen Zentrum ein Verbrechen steht: die brutale Gruppenvergewaltigung in der märchenhaften Seenlandschaft unweit von Helsinki. Doch die Erzählung will nicht etwa erörtern, wer wohl die Täter sind, diese stehen von Anfang an fest. Der Roman ist vielmehr ein dichtes Geflecht aus Geschichten, Erinnerungen und Dialogen, um aufzuzeigen, was die Vergewaltigung überhaupt erst möglich gemacht hat.
Der Hauptverantwortliche für die Tat, die Jahre zurückliegt, ist Nathan, Sohn einer angesehenen Familie, die nach dem Verbrechen, das in ihrem Haus stattfand, zerbricht. Das Opfer, Sascha, stammt aus einem Schutzheim für junge Frauen. Jahre später wird sie im fernen Amerika an einer Überdosis Drogen sterben. Das Motiv für die Tat war schlicht Rache: Sascha hatte Nathan einst abserviert. Vor Gericht aber will die junge Frau nicht gehen; sie schweigt, weshalb das Geschehen am Ende nicht durch das Opfer, sondern durch eine Kamera bezeugt wird, die alles aufgezeichnet hat.
Monika Fagerholms Text ist verblüffend schlagfertig und zugleich literarisch souverän. Kreiselnd bewegt er sich vor und zurück, ist gespickt mit kulturellen Anspielungen, wie schon der Titel zeigt, der von Felix Saltens Bambi-Roman aus den Zwanzigerjahren über die berühmte Disney-Verfilmung bis zum gleichnamigen Song der Sex Pistols einen breiten Resonanzraum stimuliert. Was sich in den vielen unterbrochenen Sätzen, den Klammern und Zitaten versteckt, ist die eine Wahrheit, die seither über dem Ort hängt wie drückender Nebel und alle trifft, egal wie sehr sie sich dagegen wehren: Es ist geschehen, und es tut weh.
Die verstörende Gleichzeitigkeit von Idylle und Bedrohung erinnert an die Titelmelodie aus David Lynchs Serie "Twin Peaks". Monika Fagerholm aber treibt sie bis ins Äußerste. Der schreckliche Ernst, der hier verhandelt wird, trifft auf eine große Verspieltheit in der Sprache. Und es ist diese Sprache, die die Fragmente der Erlebnisse zusammenhält. Die getriebene Rhetorik verkürzter Sätze und abgehackter Zeilen, die zwischen den Ebenen hin und her springen, setzt eine rhythmische Prosa ins Werk, die fasziniert.
Gusten, einst Nathans bester Freund, der die Vergewaltigung gefilmt hat, war damals als Einziger geständig. Und im Gegensatz zu den anderen fühlt er sich auch als Erwachsener noch schuldig. Nach dem Aufenthalt in einer Psychiatrie unternimmt er zaghafte Versuche, zu schreiben und zu schauspielern, um beides alsbald wieder sein zu lassen. Das Buch zeigt ganz wesentlich auch das: den inneren Kampf eines Täters angesichts seiner Tat. Das Gericht hat ihn freigesprochen, nicht aber das eigene Gewissen.
Der dritte Freund aus jenen Jahren, Cosmo, heute ein erfolgreicher Produzent, war an der Vergewaltigung nicht beteiligt, will aber jetzt einen Film darüber drehen, nicht zuletzt, weil sein Vater als "Promi-Psychologe" seinerzeit die Jugendlichen therapierte und er viel darüber weiß. Cosmo hat bereits die Filmplakate entworfen, als er die Pläne schnell wieder ad acta legt, nachdem Nathans vermögender Vater sich nicht ohne Hintergedanken in die Produktionsgesellschaft einkauft.
Bisweilen bebt der Roman vor Wut, wenn er diese Gesellschaft, eine finnische jeunesse dorée samt Entourage, immer aufs Neue in den Blick nimmt in deren Oberflächlichkeit, Narzissmus und Mangel an Empathie. Fagerholm ist es um die sozialen und mentalen Strukturen eines ganz bestimmten Milieus zu tun, das selbst vor dem Zynismus nicht zurückschreckt, im Nachhinein die Monstrosität der Tat zu leugnen: "Jetzt blättern wir die Seite um, und eines schönen Tages werden wir so viele Seiten umgeblättert haben, dass nichts von alldem passiert ist", beschwichtigt Nathans Mutter.
Es ist auch ein Roman über Klassen. Manche hier haben den Aufstieg ins bessere Viertel geschafft, werden aber nie zum alten Geld gehören, andere verantworten neoliberale Thinktanks oder leben als Blogger und also als Menschen, die ihre eigene Marke sind. In Freundschaften stehen sich finanzielle und künstlerische Ambitionen gegenüber, andere sind einfach nur kriminell wie Nathans Vater, der Sascha zu bestechen versucht, damit sein Sohn nicht vor Gericht stehen muss. Nicht zufällig fallen hier Anspielungen auf die Hohepriesterin des Kapitalismus, Ayn Rand, und kommt die Bezeichnung "Kiddults" gleich mehrfach vor, womit jene Erwachsene gemeint sind, die nie das Kindsein ablegen wollen.
Unerbittlich zeichnet die Autorin ihr Personal als selbstverliebt, naiv und verantwortungslos. Wie ein Puzzle setzt sie dabei die Scherben zu einem finnischen Zerrbild zusammen. Und der Schrecken hört da noch lange nicht auf, denn sie trägt immer noch mehr zusammen über all die Häuser und Wohnungen und gescheiterten Singer-Songwriter-Karrieren. Saschas quälender Untergang hingegen wird in wenigen Sätzen abgehandelt. Das aber ist kein Zufall und der Autorin auch nicht aus Versehen unterlaufen. Vielmehr ist das Monika Fagerholms ganzer bitterer Ernst.
Monika Fagerholm: "Wer hat Bambi getötet?". Roman.
Aus dem Schwedischen von Antje Rávik Strubel. Residenz Verlag, Salzburg 2022. 256 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main