In seinem neuen Buch legt er die Positionen der Unterstützer wie Gegner der Suizidhilfe dar und zeigt die Schwachstellen in unserem Gesundheitssystem, die es Schwerstkranken vielfach unmöglich machen, angemessene Hilfe zu erhalten, wenn alle anderen Optionen erschöpft sind. Am eindrücklichsten ist de Ridders Buch dort, wo er von seinen Erfahrungen in der Begleitung sterbewilliger Patienten spricht und erklärt, in welchen Fällen er bereit ist, schwer kranken Menschen zu helfen, ihr Leben selbst zu beenden.
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Selbstbestimmtes Sterben ist ein kontroverses Thema: Ein Arzt schildert seine Erfahrungen - und hat Forderungen an die Politik.
Von Kim Björn Becker
Es wäre in zweifacher Hinsicht übertrieben zu behaupten, dass Michael de Ridder sein Leben dem Tod gewidmet habe. Zwar ist die Begleitung Sterbender dem in Berlin lebenden Arzt offenkundig ein wichtiges Anliegen, wie sein jüngstes Buch verdeutlicht. Es heißt "Wer sterben will, muss sterben dürfen". Doch der engagierte und öffentlich weithin sichtbare Einsatz des Internisten für die Sterbehilfe darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es vor allem die Graubereiche der Medizin sind, die de Ridder zu faszinieren scheinen. Als junger Mann ging er für zwei Monate nach Thailand, um dort Geflüchtete aus Kambodscha zu versorgen. Und als nicht mehr ganz junger Mann wurde er später mit einer Arbeit über Heroin promoviert; jenes Rauschgift, das früher als Schmerzmittel eingesetzt wurde und dann eine verhängnisvolle Karriere machte. Zum anderen würde man Michael de Ridder mit der Behauptung unrecht tun, sein inzwischen wichtigstes Thema sei der Tod. Es geht ihm um das Sterben. Der Prozess steht zwar am Ende eines Lebens, doch er ist ein untrennbarer Teil des Lebens selbst.
Sein Engagement für eine geregelte Form der Sterbehilfe in Deutschland leitet de Ridder aus seinem Selbstverständnis als Arzt her. Er wendet sich gegen das "reduktionistische" Krankheitsverständnis der modernen Medizin, die "den Kranken seiner Personalität entkleidet". Er widerspricht, wenn Ärzte von ihren Patienten nicht als Personen sprechen, sondern von Fällen und Diagnosen. Diese "Zerlegung" des Kranken hat nach Auffassung de Ridders ihren Ursprung im Medizinstudium, das den oft hochmotivierten jungen Menschen zunächst notwendigerweise Wissenschaftlichkeit und Distanz beibringt, es dann aber versäumt, die Grenze dieser nötigen Transformation zu benennen. Wohin das führt, schildert der Autor aus eigener Erfahrung: "Verbundenheit mit dem Kranken zu offenbaren, erfuhr ich als etwas Unärztliches." Anhand mehrerer Beispiele schildert er, wie unheilbar Kranke von der modernen Medizin oft nicht jene Hilfe erhalten, die sie sich zu bekommen versprechen, sollte sich ihr Gesundheitszustand ins Unerträgliche verschlechtern. De Ridders Forderung lautet, dass die Medizin "immer etwas tun" müsse. Wenn sie schon keine Heilung versprechen kann, dann zumindest Palliation, also die ummantelnde Linderung der Leiden. Aus Sicht de Ridders schließt diese die Sterbehilfe ein.
Damit sich Autor und Leser möglichst nicht missverstehen, baut de Ridder an mehreren Stellen kleine Exkurse ein. Er erklärt die Unterschiede zwischen erlaubter Sterbehilfe und der vom Strafrecht untersagten Tötung auf Verlangen und erläutert, wie das sogenannte Sterbefasten funktioniert. An anderer Stelle klärt er, wie das Suizidmittel Natrium-Pentobarbital wirkt. Jene Substanz also, deren Erwerb das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte auf Druck des Bundesgesundheitsministeriums Sterbewilligen verwehrt, trotz anderslautender Rechtsprechung. Bei alledem ist der Hinweis von Bedeutung, dass der Autor beim Thema Sterbehilfe kein neutraler Beobachter ist (und dies auch nicht für sich in Anspruch nimmt), sondern im Streit um die gesetzliche Regelung der Sterbehilfe in Deutschland eine Akteursqualität besitzt. Als der Bundestag die sogenannte geschäftsmäßige - also auf Wiederholung angelegte - Sterbehilfe im Jahr 2015 verboten hat, indem er den neuen Paragraphen 217 ins Strafgesetzbuch schrieb, gingen beim Bundesverfassungsgericht mehrere Klagen da-gegen ein. Schwerkranke sahen sich in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt, Ärzte in ihrer Berufsausübung. Auch Michael de Ridder legte Verfassungsbeschwerde ein. Das Gericht erklärte den Paragraphen im Februar 2020 für verfassungswidrig und damit für nichtig. Wenn de Ridder vom "Jahrhunderturteil" schreibt, dann geht es auch um seinen persönlichen juristischen Erfolg. Diese Rolle macht der Autor im Buch transparent, er schildert seine Eindrücke der mündlichen Verhandlung. "Wer sterben will, muss sterben dürfen" ist insofern ein aktueller Debattenbeitrag, als der Bundestag noch darum ringt, wie die Sterbehilfe gesetzlich neu gefasst werden soll.
Michael de Ridder verlangt, dass Ärzte nicht unter allen Umständen "Anwälte des Lebens" sein sollten. Dies sei "wenig verantwortungsvoll" und teilweise "sogar unmenschlich". Eine moralische Bewertung des Sterbewunsches eines Patienten stehe keinem Arzt zu. Gleichwohl müssten für die ärztliche Hilfe beim Suizid einige Kriterien gelten, die zu prüfen seien. Der Wunsch zu sterben müsse "freiverantwortlich, wohl erwogen und nachhaltig" sein, fordert de Ridder. Um das zu begründen, beruft er sich nicht nur auf die Karlsruher Richter, die die Bedeutung der Selbstbestimmung im Tod hervorgehoben haben. Er ruft auch zahlreiche Umfragen, denen zufolge die Deutschen dem Thema vergleichsweise offen gegenüberstehen, als Zeugen auf. Weniger überzeugend ist der Versuch, den "Schlingerkurs" der Bundesärztekammer in dieser Frage indirekt als Argument heranzuziehen.
Die Stärke des Buches zieht der Autor aus seinen Erlebnissen. Dass die Sterbehilfe geregelt sein müsse, leitet er aus früheren Szenen aus dem Graubereich der Medizin ab. Da war der Chefarzt, der seinem unheilbar lungenkranken Patienten eine Banane zu essen gab, die er mit etlichen Tabletten Valium präpariert hatte. Auch die Sterbehilfe, die de Ridder seinem Vater ermöglicht hat, beschreibt und reflektiert er in dem Buch kritisch. De Ridder fragt sich, ob er den Sterbewunsch seines Vaters, der 1979 unheilbar an Prostatakrebs erkrankt war, hinreichend gründlich geprüft hat. "Nur noch schlafen", so habe er es ausgedrückt. "Nicht mehr wach werden." De Ridder gab seinem Vater nach eigenen Angaben Morphium, dieser schlief ein und war drei Tage später tot. Heute kämen ihm da "Fragen und Zweifel", schreibt de Ridder. "Habe ich meinen Vater nach den heute gültigen strafrechtlichen Kriterien umgebracht?"
De Ridder geht auch auf die Vorhaltung von Gegnern der Sterbehilfe ein, die einen Dammbruch befürchten, eine regelhafte soziale Entsorgung von Alten und Kranken. Den möglichen Eindruck, dass er als Arzt jedem Sterbewunsch willfährig gegenüberstehen könnte, zerstreut er - in der Sache und am konkreten Beispiel. Ärztliche Sterbehilfe müsse klaren Kriterien folgen und eine Entscheidung des Gewissens sein, das fordert und begründet er ausführlich. In seinem Buch protokolliert de Ridder einige Anfragen, die ihn zu dem Thema erreicht haben, sowie drei Beispiele vollzogener Sterbehilfe. Manche Anfragen "offenbaren eine geradezu himmelschreiende Unbedarftheit", schreibt er, "manche einen als Suizid verkapselten Hilferuf". Die meisten, die um Sterbehilfe bitten, benötigten in erster Linie "Lebenshilfe", schreibt de Ridder.
Und dann ist da Richard S., dessen Pflegerin ihn für ein Erstgespräch eigens von Bielefeld nach Berlin fährt. Der pensionierte Lehrer leidet an fortschreitenden Lähmungen und sucht nach einem Ausweg, der Gefangenschaft seines erlahmenden Körpers entkommen zu können. Hinzu tritt eine plötzliche Bauchfellentzündung, der ein Nierenversagen folgt. "Meine Kraft ist dahin, physisch und mental", habe der Mann gesagt. De Ridder hinterfragt seiner Schilderung zufolge immer wieder, ob es andere Möglichkeiten gibt. Ob alle Therapien ausgeschöpft sind, ob da doch noch ein Rest Lebensfreude ist. Der Pensionär und die Krankenakten überzeugen den Arzt vom Gegenteil. De Ridder setzt eine letzte Frist, zwei Wochen, dann will er ihm die todbringenden Medikamente beschaffen, damit der Mann sich selbst töten kann. Ein letztes Treffen, der Arzt erklärt dem Mann, wie er die Mittel einnehmen muss. Noch kann der Kranke es selbst, er will es allein tun. Zwei Wochen später ist er tot.
Michael de Ridder: "Wer sterben will, muss sterben dürfen". Warum ich schwer kranken Menschen helfe, ihr Leben selbstbestimmt zu beenden.
Deutsche Verlagsanstalt, München 2021. 224 S., geb., 20,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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