Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
© BÜCHERmagazin, Anna Gielas
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wirtschaftlicher Erfolg als universale Messlatte: Die Demographen Reiner Klingholz und Wolfgang Lutz warnen vor einer globalen Bildungskatastrophe.
Bildung ist wichtig, ja lebenswichtig. Dass dieser Satz gerne von Politikern bemüht wird, macht ihn nicht falsch. Die Demographen Reiner Klingholz und Wolfgang Lutz haben nun ein ganzes Buch dem Ziel gewidmet, die Behauptung zu belegen. Sie tragen Daten und Statistiken zur ökonomischen Bedeutung der Bildung zusammen und verknüpfen sie zur drastischen Warnung vor einer globalen Unbildungskultur mit fatalen Folgen.
Dass es auch heute noch weltweit 780 Millionen Analphabeten gibt und 63 Millionen Jugendliche keine Schule besuchen, beschreiben die Autoren als Versagen nicht nur einzelner Regierungen, sondern auch globaler Institutionen. Nur zwei bis vier Prozent der Entwicklungshilfegelder wanderten in Bildungsanstrengungen, nur ein Zehntel der Kosten des Irak-Kriegs hätten gereicht, um die Bildungsausgaben aller Entwicklungsländer bis zum Jahr 2030 zu bestreiten.
Als Messlatte von Bildungserfolg nehmen die Autoren stets wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlstand. Sie korrelieren, was das Zeug hält, um den Sprung von Ländern wie Singapur und Mauritius in die westlich geprägte Moderne zu feiern. Dabei begehen sie aber den Fehler, die Geschichte europäischer Expansion seit Kolumbus auf Bildungsvorsprünge zu reduzieren, was zwischen den Zeilen die Botschaft erzeugt, dass der Rest der Welt eben dümmer gewesen und es nicht primär Waffengewalt gewesen sei, mit der Kolonialisierung betrieben wurde.
Bei ihrer welthistorischen Reise vom Konfuzianismus bis ins moderne Finnland, das den Weg "von der Sauna nach Pisa" geschafft habe, gehen die Autoren recht holzschnittartig vor. Sie bringen eine angeblich bis heute nachwirkende katholische Bildungsfeindlichkeit in Stellung gegen protestantischen Modernismus, die intellektuellen Juden gegen die nicht so schriftaffinen Roma, und das südlich der Sahara gelegene Afrika habe zwar reiche Traditionen hervorgebracht, aber eben "keine Hochkultur, die zum globalen Wissenschaftsschatz beitragen konnte".
Diese Argumentation bringt zwar interessante Zahlen und Fakten mit sich. Sie führt auch zu überlegenswerten Diagnosen wie der, dass die Bildungszukunft der Menschheit sich maßgeblich in Ländern wie Äthiopien, Nigeria und Pakistan entscheide. Auch sind die Szenarien verschiedener Verläufe der Zukunft - zwischen einem Regime der Unbildung, das Krieg und Umweltzerstörung mit sich bringt, und einer Art globalem Arkadien, in dem Schulen den Weg zu Wohlstand ebnen - in sich plausibel.
Doch die Argumentation dahinter ist einseitig der westlichen Modernisierungstheorie verhaftet, in der Bildung vor allem als eine Art Waffe im globalen ökonomischen Wettbewerb betrachtet wird. Was Bildung jenseits dieses Ziels sein könnte und sollte, wird dabei so wenig Gegenstand wie eine kritische Betrachtung des verwendeten Fortschrittskonzepts.
Die Behauptung etwa, dass Bildung dem Umweltschutz zugutekomme, ist äußerst fragwürdig angesichts des überproportionalen Anteils ökonomisch entwickelter Staaten an den weltweiten Emissionen von Treibhausgasen. Könnte es sein, dass Bildung und Wissen hier gar nicht die Schlüsselgrößen sind? Dass tradiertes und informelles Wissen, wie es in formal ungebildeten Gesellschaften existiert, ebenso wichtig ist?
Was in einem Buch zur Bildungsfrage ebenso auch vorkommen müsste, sind Betrachtungen zu der Frage, wie der Bildungsprozess im 21. Jahrhundert überhaupt aussehen sollte. Reicht es, die Schulen alten Typs zu digitalisieren, jedem Schüler ein Tablet in die Hand zu drücken, die Tafel durch ein Smartboard zu ersetzen und den Schülern standardisierte Module einzutrichtern? Oder müsste eine Schule von morgen viel stärker auf Kontextwissen setzen, auf direkte Anschauung, sinnliche Erfahrung, kooperatives Machen, Helfen, Entwickeln außerhalb des Klassenzimmers?
Dass allein eine Ausgestaltung westlicher Bildungsmodelle die Lösung der Überlebensfrage sein soll, erscheint doch eher naiv. Zudem zeigt das im Buch zur Warnung skizzierte Szenario einer Welt, in der zehn Milliarden Menschen unter der Fuchtel von Ideologen leben, gerade die Möglichkeit des Gegenteils: dass Überleben durchaus auch ohne Bildung möglich ist.
Das westliche Gegenteil einer solchen Unbildungskultur haben die Autoren gar nicht erst erwähnt. Denn welche Rolle hat individuelle, formale Bildung noch, wenn bald Millionen Jobs von Rechtsanwälten oder Finanzberatern mit künstlicher Intelligenz (KI) wegrationalisiert werden? Könnten dann nicht eher soziale und emotionale Kompetenzen, die die Rechner noch nicht nachbilden können, über Lebenswege entscheiden? Der Ausblick in eine Welt, in der wir immer von "Agenten" umgeben sind, die schlauer sind als wir, aber schlauer auf eine ganz bestimmte, dem wirtschaftlichen Erfolg ihres Betreiber nützliche Art, hätte nicht fehlen dürfen.
Vielleicht könnten die Entwicklungen auf dem Feld der KI genau jene globale Bildungsoffensive erleichtern, die den Autoren vorschwebt, weil dann jedes Kind nur ein Smartphone braucht, um zu jeder beliebigen Tageszeit an jedem beliebigen Ort Einzelunterricht von einer unendlichen Zahl unendlich kluger Lehrer zu bekommen. Oder droht hier eine andere, rational hervorgebrachte Unbildungskultur, wenn IT-Konzerne künftig den Kontext von Wissen kontrollieren?
Angesichts der hohen Zahl von Analphabeten gibt es für Regierungen unzweifelhaft viel Naheliegendes und Grundlegendes im Sinne der Autoren zu tun. Ihre Behauptung ist richtig, dass Bildungsinvestitionen zu den absoluten Prioritäten internationaler Politik gehören sollten und dass sich viele existentielle Probleme und auch viele individuelle Leiden nur überwinden lassen werden, wenn jeder Mensch Zugang zu Schulen und globalem Wissen hat. Doch das Buch greift dort zu kurz, wo die Bildungsfrage jenseits dieser grundlegenden Einsicht zu verhandeln wäre.
CHRISTIAN SCHWÄGERL
Reiner Klingholz und Wolfgang Lutz: "Wer überlebt?" Bildung entscheidet über die Zukunft der Menschheit.
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2016. 300 S., Abb., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main