Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Sollen Parasiten mit ins Boot? Lothar Frenz erzählt auf erhellende Weise vom Zusammenhang des Lebens auf der Erde.
Das am Weltklimagipfel von Paris im Jahr 2015 gesteckte Ziel, die Erderwärmung zu bremsen, hat sich dem öffentlichen Bewusstsein eingeprägt. Doch wie viele Menschen haben schon von den Aichi-Zielen für den Schutz der biologischen Vielfalt gehört, die 2010 vereinbart und bis 2020 katastrophal verfehlt wurden? Und in welcher Talkshow wird darüber debattiert, dass im Oktober ein UN-Umweltgipfel analog zum Pariser Klimavertrag neue Ziele für den Naturschutz festlegen soll?
Der Klimaschutz lässt sich auf wenige Zahlen reduzieren - letztlich auf den Anteil der Treibhausgase Kohlendioxid und Methan in der Erdatmosphäre. Bei der Biodiversität und ihrem Schwinden ist alles komplizierter, es geht um die Vielfalt des Lebens weltweit, um unzählige kleine und große Ursachen. Während beim Klima inzwischen ein Gefühl von Dringlichkeit sich Bahn bricht, fehlt dies im Naturschutz. Pandas, Bienen und Wale kommen vielen in den Sinn, Trinkwasser, Nahrung, Gesundheit eher nicht.
Das Buch des Biologen und Journalisten Lothar Frenz leistet da gute Aufklärung. Es bietet Einblick in Bemühungen, die Vielfalt des Lebens zu bewahren, und vermeidet dabei konsequent die Fallen des Genres. Weder verfällt der Autor in die Melodramatik von BBC-Naturfilmen, noch lässt er den Menschen als Quelle allen Übels auftreten. Vielmehr erzählt er, gut lesbar und aus eigenem reichen Erfahrungsschatz schöpfend, Geschichten von der Verknüpfung des Schicksals menschlicher und nichtmenschlicher Erdbewohner. Nicht vom Ideal einer heilen Welt handelt sein Buch, sondern von der Frage, wie eine komplizierte Beziehung verbessert werden kann.
Dazu gehört auch eine ehrliche Bestandsaufnahme des Naturschutzes, für die im ersten Teil des Buchs die Geschichte der amerikanischen Naturliebe skizziert wird. Die im neunzehnten Jahrhundert idealisierten menschenleeren Naturreichtümer des Westens - sie waren entvölkert durch die vorangegangenen Genozide an den indigenen Einwohnern. Dass das Bison durch die weißen Invasoren nicht ganz ausgerottet wurde, sondern die ersten Nationalparks entstanden, schreibt Frenz dem nostalgischen Bemühen einiger Weniger zu: "Den Anfang des Natur- und Artenschutzes markierte eine Mischung aus Vergnügen und Schuldgefühl."
Gelungene Rettungsaktionen jüngeren Datums, die Frenz bietet, zeigen, wie aufwendig es ist, selten gewordene Arten zu bewahren. Etwa das legendäre Weiße Oryx, das Jäger bis auf wenige Tiere dezimiert hatten und für das ein Zuchtprogramm in den Vereinigten Staaten nötig war, um es genetisch aufzupäppeln, bevor es wieder in seiner alten arabischen Heimat angesiedelt werden konnte.
Die Beispiele führen Frenz zu einer tiefergehenden Frage: Wie soll entschieden werden, wer überleben darf? Geht es um Seltenheit? Dann müssten sich alle Bemühungen auf ultrarare Arten wie den Nasengrabfrosch und den Hispaniola-Schlitzrüssler konzentrieren, die kurz vor dem Aussterben stehen. Oder geht es um Bekanntheit und Beliebtheit, damit Spendenkampagnen möglichst viel Geld für den Lebensraumschutz einbringen? Oder geht es um Schlüsselarten mit zentralen ökologischen Funktionen, wie etwa den Seeotter, dessen Vorliebe für Seeigel dafür sorgt, dass Letztere die Riesentangwälder des Nordpazifiks nicht kahlfressen?
Die Antwort, dass man doch am besten alle Arten schützen solle, lässt Frenz zuerst als naiv dastehen. Seine Erfahrungen mit Natur- und Artenschutzprojekten in aller Welt haben ihm gezeigt, dass Ressourcen immer knapp sind und Entscheidungen getroffen werden müssen. Doch dann präsentiert er eine Studie, welche die Kosten dafür, alle vom Aussterben bedrohten Arten weltweit zumindest vom Abgrund wegzubringen, auf lediglich 21 Milliarden Dollar im Jahr beziffert.
Doch mit Artenschutz allein ist es nicht getan. Die Biosphäre besteht nicht aus einzelnen Arten, sondern durch deren Zusammenspiel, den Menschen selbstredend inbegriffen. Mit der Vorstellung einer unberührten Natur räumt Frenz am Beispiel des Amazonasgebiets auf, unter dessen vermeintlich ursprünglicher Vegetation an immer mehr Stellen der Humusboden früherer Kultivierungen gefunden wird. Und in der heutigen Welt sei es menschliches Handeln, das ökologische Hotspots entstehen oder regenerieren lässt, von kleinen Versuchsflächen in Deutschland bis zu Großexperimenten wie dem Chinko-Reservat in Zentralafrika. Frenz scheut auch vor provokanten Fragen nicht zurück, etwa der nach der Schutzwürdigkeit von Parasiten. Die machen wahrscheinlich mehr als die Hälfte aller Arten weltweit aus und würden in ihrer Bedeutung für die Evolution unterschätzt.
Wer im "Superjahr der Umweltpolitik", auf das Experten wegen der anstehenden UN-Klima- und -Naturschutzgipfel im Herbst hoffen, vom Autor einen umfassenden Plan erwartet, wird von diesem Buch wahrscheinlich etwas enttäuscht sein. Politische Fragen oder wirtschaftliche Triebkräfte der Naturzerstörung tauchen nur am Rand auf. Aber Probleme, die zu politischen Entscheidungen drängen, werden viele behandelt. Und auch die drei knapp skizzierten Szenarien gegen Ende des Buchs, wie es mit Mensch und Natur weitergehen könnte, und der wirklich überraschende Vorschlag, den Frenz für eine wünschenswerte Rolle des Menschen in der Ökologie der Erde macht, bieten Stoff zum Nachdenken.
CHRISTIAN SCHWÄGERL
Lothar Frenz: "Wer wird überleben?" Die Zukunft von Natur und Mensch.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021. 448 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main