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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Intelligenz und Rock passen eben doch ganz gut zusammen: Heinz Rudolf Kunze legt seine Autobiographie vor und denkt schon über die eigene Beerdigung nach.
Am 12. September 1970 spielten The Who in der Halle Münsterland. An diesem Abend wurde für immer besiegelt, was ich tue, was ich werde, was ich bin." Der Rockmusiker Heinz Rudolf Kunze beschreibt in seiner Autobiographie "Werdegang", wie ein Konzertbesuch zur Initiation wird. Begleitet wird er an diesem Abend von seinem Vater, einem ehemaligen SS-Mitglied. Nach dem Auftritt wird er sagen: "Junge, das klang wie damals, als wir angegriffen haben."
Kunze ist ein Meister der Ambivalenz - im Privaten und im Künstlerischen: Als Chronist der Protestbewegung feierte er seinen ersten Hit erst mit dem kongenial übersetzten Kinks-Song "Lola" über einen unbedarften Mann, der den Reiz einer Trans-Begegnung austestet. Sein größter Hit "Dein ist mein ganzes Herz" verband Lehár-Kitsch mit Unverständlichem ("Du bist mein Reim auf Schmerz"). Und an der Vergangenheit seiner Eltern arbeitete er sich ein Leben lang ab. "Die SS-Mitgliedschaft meines Vaters ist ein Riss in meinem Leben, der sich nicht schließen lässt", schreibt er.
Die Rockmusik wird Kunze zur Zuflucht. "Das Grandiose, das vor Pathos nicht zurückschreckt und doch nie vergisst, dass es im Schmutz der Hinterhofgassen geboren wurde" - das begeisterte ihn an The Who. Dem passionierten Germanisten und zeitweiligen Sozialdemokraten gelang es, in seinen Songs genauso über eine Verbeamtungsprüfung zu singen wie über Menschen mit Phimose, die am Kreuz hängen und nachts Atomsprengköpfen beim Flüstern zuhören. Am Anfang seiner Karriere wurde er folgenreich als "Niedermacher der Achtzigerjahre" bezeichnet. Ein Vertriebener aus der Lausitz mit Wohnort Osnabrück.
Kunze ist 65 Jahre alt. Wäre er seinem Plan gefolgt und Studienrat geworden, würde er bald in den Ruhestand treten. Stattdessen erscheint neben seiner Autobiographie nun ebenfalls ein Album namens "Werdegang". In dem Buch gibt er unterhaltsam, reflektiert und ehrlich Auskunft über sein Leben. Ehrlich ist er, wenn er schildert, wie auch seinem Scheitern Neues erwächst. In einem seiner journalistischen Texte, die er gelegentlich schreibt, hatte er Peter Maffay zerpflückt. Eine Aussprache später erkannte er dessen Verletztheit. Sie wurden Freunde.
Kunze führt Textzeilen aus Liedern vor, die ihm heute peinlich sind. Er legt seine Angststörung offen, seine gescheiterte Ehe, die beinah gestorbene Freundschaft zum ersten Musikpartner Mick Franke, den er für den Hitparadenerfolg zurücklassen musste. "Solange ich denken kann, habe ich Angst gehabt. Nicht die Angst der Panikattacken, sondern Angst vor dem Scheitern. Angst, nicht gut genug zu sein", schreibt er. Getrieben war er von dem Wunsch, etwas zu schaffen, "das taugt, damit die Leute zu mir sagen können: Du darfst bleiben".
Trotz dieser Ehrlichkeit ist Kunzes Lebensbericht keine schwere Kost. Er hat ein anregendes Buch verfasst. Vergnüglich sind die Schilderungen aus dem Inneren der Band. Nachvollziehbar die Lasten des Musical-Übersetzens, dem er sich seit "Les Misérables" hingegeben hat. Und er reflektiert seine Rolle als Songschreiber, der mal in der A-, mal in der B-Liga spielt.
Den Klassensprecher der deutschen Rockszene habe der Jahrgangsbeste und Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes nie geben wollen. Einmal ließ er sich überreden, als es um eine Deutschquote im Radio ging. "Hätte es damals bereits das Internet und seine 'Woke Culture' gegeben, wäre mir nach derart massiven Faschismus-Vorwürfen vermutlich keine andere Wahl geblieben, als den Beruf zu wechseln oder auszuwandern", schreibt er.
Heinz Rudolf Kunze ist ein leidenschaftlicher Künstlerbewunderer: die Frische von Costello, das Konkrete des Ray Davies, das Pathos von Springsteen. All das beschreibt er mit der Begeisterung des Fans. "Tales of Topographic Oceans" von Yes sei die Platte für den besten Sex. Und dann gebe es da noch "jene für die Ewigkeit bestimmte Passage in 'Cinema Show', in der [Genesis-Keyboarder Tony] Banks während des langen Synthesizer-Solos seine Finger beruhigt und dieses strahlend einfache Dur-Motiv spielt, um es anschließend in der Wiederholung mit dem Mellotron in die Sterne zu jubeln". Stimmt. Hätte man nur nicht so schön ausdrücken können.
Kunze schwärmt für die Progband Henry Cow, für seine Interviewpartner Neil Young und Randy Newman, für den Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch. Er zeigt seine Bewunderung für Wolfgang Nierwetberg, Fahrer einer Lieferung der Welthungerhilfe in den Tschad, die Kunze in ein Flüchtlingslager begleitete. Und ein oft geschmähtes Trio erfährt seine Hochachtung: Udo Jürgens, die Scorpions und Dieter Thomas Heck (an dem ihn nur störte, dass er Freunde mitten auf den Mund küsste).
"Die Zeit war reif für sperrige Texte. Der Zufall hatte mich zur richtigen Zeit an den richtigen Ort gespült", schreibt Kunze. "Meine Wege sind tatsächlich beim Gehen entstanden. Ich konnte aus meiner Liebe zu Sprache und Tönen einen Beruf und eine Lebensform machen, bis heute." Manchmal formuliert Kunze in "Werdegang" literarisch, etwa wenn er aus dem Leben seiner Eltern erzählt, die sich nach dem frühen Kennenlernen lange aus den Augen verloren.
Zwischendrin hierarchisiert er sein Werk: Sein wichtigster Song sei "Nicht mal das", der mit dem Kindheitserlebnis einer eingeschlagenen Fensterscheibe und Vatererinnerungen spielt. Über seinen größten Hit, komponiert von Heiner Lürig, schreibt er: "Heiners Melodie ließ sich nicht abschütteln. Sie verfolgte mich wie ein hartnäckiger Geist." Als seine schönste Single bezeichnet er "Finden Sie Mabel", diesen Film noir als Pophit.
Die erste Reihe hat Kunze Lindenberg, Westernhagen und Grönemeyer überlassen. Er hat dem Deutschrock eine unverwechselbare Stimme hinzugefügt, die bisweilen anstrengend penibel zeithistorische Bezüge herstellte und deutlich machte: Intelligenz und Rock funktionieren gut zusammen. Am Ende des Lebens sollen es noch einmal The Who sein. Für seine Beerdigung wünscht er sich deren Hymnen "Baba O'Riley" und "Won't Get Fooled Again". "Und zwar lauter, als man jemals Musik in einer Kapelle gehört hat. Viel lauter." PHILIPP KROHN
Heinz Rudolf Kunze: "Werdegang". Die Autobiographie.
Reclam Verlag, Ditzingen 2021. 288 S., Abb., geb., 28,- Euro.
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