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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Prinzipien, Pflichten? Das war einmal. Der Philosoph Andreas Urs Sommer geht der Frage nach, warum wir so bereitwillig von Werten reden und sie dabei ständig neu definieren. Und was das über unsere Gesellschaft verrät.
Heutige Moralphilosophen diskutieren über den kategorischen Imperativ oder das größte Glück der größten Zahl. Die Politiker sprechen derweil über Werte. Ob in der Eurokrise, der Flüchtlingsfrage oder der Burka-Diskussion, gegen die Beschwörung "unserer Werte" hat die Berufung auf die weniger emphatischen Kategorien des Rechts oder gar des Interesses kaum eine Chance. Die eher zartbesaiteten Kritiker dieser Werthuberei pflegen deren intellektuelle Unzulänglichkeit zu beklagen, während ihre polemischer veranlagten Kollegen eine "Tyrannei der Werte" heraufziehen sehen.
Verheißungsvoller als diese inzwischen reichlich abgedroschenen Vorwürfe sind die Fragen, mit denen der Freiburger Philosoph Andreas Urs Sommer den Werten zu Leibe rückt. Sein Standpunkt ist nicht derjenige eines Teilnehmers an der Wertediskussion, sondern derjenige eines Beobachters. Statt der Semantik der Werte ein weiteres Mal die Leviten zu lesen und daraufhin miterleben zu müssen, dass diese sich dadurch nicht im mindesten irritieren lässt, sucht Sommer die Gründe zu ermitteln, denen die Werte ihre diskursive Attraktivität verdanken. "Was verrät es über eine Gesellschaft, dass sie ausgerechnet Werte braucht? Welchen Sinn, welchen Nutzen hat es für eine Gesellschaft, sich über Werte zu definieren?"
Der gesellschaftliche Nutzen der Werte liegt Sommer zufolge ausgerechnet in jener Eigenschaft, die aus der Sicht der philosophischen Kritiker ihre zentrale Schwäche darstellt: ihrer Vielfalt und Veränderungsanfälligkeit. Zum einen werden laufend neue Werte in die Welt gesetzt, während andere zurücktreten und schließlich in gesellschaftlichen Nischen verschwinden. Wer sich vor einer Generation in einer westdeutschen Vorstadtsiedlung zu den Werten sexueller Vielfalt oder einer ökologisch korrekten Ernährung bekannt hätte, wäre bestenfalls ungläubig angestarrt worden. Wer umgekehrt dort heute noch vom Wert der Pflichterfüllung für das Vaterland spricht, gilt als Fall für den Verfassungsschutz.
Zum anderen wird das Verhältnis der vorhandenen Werte zueinander beständig neu ausbalanciert, was zu ebenso subtilen wie tiefgreifenden inhaltlichen Verschiebungen führt. So hat die rasant gestiegene Wertschätzung der beruflichen Selbstverwirklichung von Frauen zu einer weitreichenden Neudefinition des Werts elterlicher Fürsorge geführt. Wahre Fürsorge zeigt sich jetzt darin, den Kindern möglichst frühzeitig die Segnungen professioneller Fremdbetreuung zukommen zu lassen, statt sie egoistisch zu Hause zu behalten.
Dank ihrer Wandlungsfähigkeit vermögen Werte nach Sommers Überzeugung der Dynamik, die die Moderne auszeichnet, weitaus besser Rechnung zu tragen als die herkömmlichen Prinzipien-, Pflichten- oder Tugendethiken. Modernität bedeute vor allem eine Vervielfältigung der Lebenswirklichkeiten. Die Pluralisierung unseres Lebens aber erfordere eine Pluralisierung der seiner Bewältigung dienenden Werte. "Wir brauchen für all die unterschiedlichen Bereiche unserer Leben unterschiedliche Werte, weil diese Leben anders als die Leben in traditionalen Gesellschaften unterschiedlichste Facetten aufweisen. Diese Polymorphie unserer modernen Leben lässt sich nicht auf die Kanten eines so groben Klotzes zurechtzimmern, wie es das Gute mit seinen vermeintlich ein- für allemal festgelegten Maßen war." Ein Wechsel der Werte und ein ständiges Neuaustarieren ihres situativen Gebrauchsnutzens seien vor diesem Hintergrund nicht nur unvermeidlich, sondern sinnvoll, weil sie unseren Wirklichkeitszugriff und unsere Wirklichkeitsmodellierung verfeinerten.
Damit verzerrt Sommer Anspruch und Leistungsfähigkeit der philosophisch dominierenden Ethikmodelle allerdings fast bis zur Karikatur. Keines dieser Modelle läuft auf die Proklamierung eines unveränderlichen Normenkatalogs hinaus. Gerade um eine solche Konsequenz zu vermeiden, fasst Kant seinen kategorischen Imperativ als ein rein formales Beurteilungsprinzip, betont Hegel die Geschichtlichkeit des objektiven Geistes und beziehen sich die Utilitaristen auf die konkreten gesellschaftlichen Interessen und Bedürfnisse.
Was diese Konzeptionen tatsächlich von der Werterhetorik unterscheidet, ist ihr Verständnis dessen, was eine gute Begründung ausmacht. Statt Werte einfach als geltend zu behaupten, suchen sie deren Relevanz durch höherstufige Begründungs- und Legitimationsmaßstäbe auszuweisen. Man glaubt Sommer zwar aufs Wort, dass derartige Anforderungen im Kampf um die diskursive Deutungshoheit lästig erscheinen. Aber Sommer äußert sich nicht als Politikberater, sondern als Philosoph. Dass er den diskursstrategischen Vorzug der Werterhetorik unterstreicht, den dafür zu zahlenden Preis in Gestalt einer begründungstheoretischen Niveauabsenkung aber verschweigt, ist enttäuschend.
Nicht weniger anfechtbar ist ein zweiter von Sommer vorgetragener Begründungsansatz. Dank ihrer Unbestimmtheit seien Werte Projektionsflächen, die es einem jeden erlaubten, darauf einzutragen, was er für wichtig halte. Der Hedonist könne sich ebenso zu Werten bekennen wie der Idealist, der Kantianer ebenso wie der Utilitarist - vom Christen und seinen christlichen Werten ganz zu schweigen. "Solche Projektionsflächen sind jetzt und künftig nötig, weil unterschiedlichste Menschen in modernen Gesellschaften zusammenfinden müssen, deren Bedürfnisse, Interessen, Präferenzen denkbar verschieden sind. Unter der Projektionspräambel von Werten können sie sich zusammenfinden."
Wirklich? Auch IS-Terroristen haben bekanntlich ihre Werte. Ihre Untaten werden dadurch aber um keinen Deut entschuldbarer. Nicht der Besitz von Werten als solcher, sondern die Akzeptabilität dieser Werte für andere stiftet Zusammengehörigkeit.
Näher an die Ursachen des Erfolgs der Wertesemantik gegenüber ihren philosophisch besser beleumdeten Konkurrentinnen führt eine dritte Überlegung Sommers. Die spezifische Qualität der Werte besteht danach in ihrer nivellierenden Kraft. "Was das Geld in der sozialen Alltagspraxis ermöglicht, ermöglichen die Werte in der sozialen Denk- und Gefühlspraxis. Werte sind ein Zaubermittel, alles mit allem in Beziehung zu setzen." Eine bestimmte Kleiderordnung am Strand kann so zur Repräsentantin des Werts der Laizität aufsteigen, und der Erhalt einer Juchtenkäferkolonie kann für wertvoller erklärt werden als ein Bahnhofsneubau. Die Hochschätzung der Werte, denen, wie Sommer zu Recht hervorhebt, der Relativismus notwendig eingepflanzt ist, reflektiert zugleich die Aversion moderner Gesellschaften gegen alles Absolute, der Verrechenbarkeit Entzogene. Insofern kommt der Rede von den Werten hierzulande eine ähnliche Funktion zu, wie sie im englischsprachigen Raum der Utilitarismus übernimmt.
Vor allem aber erlaubt es die Wertesemantik kraft ihrer Tendenz zu Amalgamierungen, sämtliche Sachprobleme als Moralfragen zu deklarieren und sie damit auf ein Feld zu verlagern, in dem sich jedermann ein Urteil zutraut. Im Hinblick auf ihre politische Mobilisierungskraft sind die Werte deshalb unschlagbar. Was die Einzelregelungen des TTIP genau besagen, vermögen allenfalls Experten einzuschätzen. Dass dadurch unseren Werten schwerer Schaden zugefügt werden würde, weiß auch die evangelische Kirche in der Wetterau. Leider blendet Sommer den Zusammenhang zwischen Massendemokratie, Medienöffentlichkeit und Werterhetorik weitgehend aus. Dadurch vergibt er ein Gutteil der in seiner Themenstellung steckenden Möglichkeiten. Als "Skizze zu einer historia naturalis valorum, einer Naturgeschichte der Werte, die andere schreiben mögen", ist sein Buch aber trotzdem anregend, Verzeihung: wertvoll.
MICHAEL PAWLIK.
Andreas Urs Sommer: "Werte". Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016. 199 S., geb., 19,95 [Euro].
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