Karl, ein pensionierter Lehrer, macht sich eines Tages auf, herauszufinden, was das Glück sei. Einen nur leicht veränderten Fragebogen im Gepäck, mithilfe dessen seit 1979 das >Bruttonationalglück< in Bhutan ermittelt wird, lässt sich der Glücksforscher in einem schneelosen Skiort nieder, dessen Bewohner er nun in unbekanntem Auftrag nach ihrer Lebenszufriedenheit befragen will. Das Hotel Post, in dem Karl als einziger Gast unterkommt, wird bewirtschaftet von einer namenlosen Frau und ihrer Hündin Annemarie. Von hier aus beginnt er seine Forschungen, unterbrochen von konfliktgeladenen Telefongesprächen mit seiner Frau Margit. Bald erhält seine Reise Züge einer Flucht, und der Fragende wird unmerklich zum Objekt der Befragung anderer.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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In Anna Weidenholzers feinsinnig versponnenem Roman "Weshalb die Herren Seesterne tragen" tritt ein einsamer Forschungsreisender an, das Glück zu vermessen
"Und alle Fenster finster und hier draußen ich" hebt einer der wunderlichsten Romane dieser Saison an: "Weshalb die Herren Seesterne tragen" von Anna Weidenholzer. Das "ich" des Textes gehört einem pensionierten Lehrer, Karl Hellmann, der sich zu Forschungszwecken in einem Skigebiet aufhält. Doch seine Untersuchung kreist nicht etwa um Tourismus, Reiserouten oder Schneeverhältnisse, wenngleich es dazu viele Fragen gibt in dem namenlosen Ort. Der Schnee will partout nicht fallen, und die Wintergäste bleiben fern. Karl hat Größeres im Sinn. Seine Recherche zielt auf eines der ungelösten Rätsel der Menschheit: die Frage nach dem Glück.
Den Ort unweit der Autobahn, in dessen Zentrum keine Kirche thront, dafür ein Supermarkt, hat er per Zufallsprinzip ermittelt, um den Bewohnern möglichst unvoreingenommen auf den Leib zu rücken. "Wir müssen neue Wege finden, es liegt an uns, damit zu beginnen", ist Karl überzeugt, und sei es, dass er sich dafür bloß in einen Bus Richtung Endstation setzt. Die Erfahrungen der Menschen will er zum Sprechen bringen, um die Gesellschaft zu verstehen. Abgeschaut hat er sich das beim König von Bhutan. Die Himalaja-Monarchie, eines der ärmsten Länder der Welt, lässt tatsächlich das "Bruttonationalglück" ihrer Bewohner amtlich vermessen.
Auch wenn sich Weidenholzers Glückstheoretiker, abgesehen von den Telefonaten mit seiner Frau, allein auf weiter Flur befindet, geht er seine Sache ähnlich entschieden an. Seinen Fragebogen hat er nach scheinbar messbaren Kriterien wie Gesundheit, Bildung, Zeiteinteilung oder Gemeinschaftsgefühl unterteilt. Doch schon sein Interview mit "F1", der ersten Frau, die er befragt, lässt die Aussichtslosigkeit des Unterfangens erahnen. F1 ist die Wirtin der "Post", bei der Karl als einziger Gast ein Zimmer bezogen hat. Das Tonband läuft, und der gespitzte Bleistift liegt bereit, doch schon nach wenigen Minuten nimmt die Befragte selbst das Heft in die Hand und bringt ihr Gegenüber mit anderen Fragen und weitschweifigen Überlegungen aus dem Konzept. Auch ein Redeschwall kann von unangenehmen Situationen ablenken, weiß Karl aus Erfahrung. Die Sitzung endet, indem die Wirtin ihm Tarotkarten legt. Sein Plan war das nicht.
Anna Weidenholzers Prosa lebt von der Skurrilität der Situation, die im spannungsvollen Kontrast zur nüchternen Sprache der zweiunddreißigjährigen Österreicherin steht. Die im enigmatischen Titel aufgeworfene Frage, weshalb eine Gruppe Herren auf einer historischen Fotografie Seesterne am Revers tragen, bleibt dabei so offen wie andere Fragen im Roman. Lesarten gibt es dafür viele, nicht nur, was die Seesterne betrifft, die Statussymbol, Hinweis auf Kinderreichtum oder einfach nur Dankeschön für ein Geschenk sein könnten.
Die Seestern-Episode, nur eine der zahlreichen maritimen Metaphern, die sich in dieser Gebirgsgeschichte finden, ist beispielhaft für den kühn-verschmitzten Text, der gleichwohl von traurigem Ernst grundiert ist. Erst im Laufe der Erzählung begreift man warum: dass dieser Karl Hellmann sich auf Glückssuche begibt, weil er sich selbst abhandengekommen ist. Und so kippt die Suche nach dem Glück mehr und mehr um in die bohrende Frage nach der Angst. Dieses Gefühl, das sich für Karl so unaufhaltsam ausbreitet wie der Flügelknöterich im Garten.
Dem traurigen Glückssucher läuft die Recherche auch sonst aus dem Ruder. Nicht nur hat er Mühe, Gesprächspartner zu finden, nach denen er im Telefonbuch oder auf der Straße fahndet. Bald tuscheln die Bewohner im Ort über ihn, die Frauen fürchten den seltsamen Fremden. "Da kommen Sie mit Ihren Fragen und bringen alles durcheinander", wirft man ihm vor. Das größte Durcheinander freilich herrscht im Forschungsreisenden selbst.
Findet Karl doch einmal Gehör und wird etwa von einem Handwerker, "M1" genannt, in dessen Haus gebeten, dann sieht er sich mit so viel Intimität konfrontiert, die sich beim besten Willen nicht objektivieren lässt. Auch andere Bewohner des Ortes haben eigentümliche Strategien entwickelt gegen das Unvorhergesehene im Leben. Sie klauen Einkaufswagen im Supermarkt oder horten Postkarten, Mineralien oder Servietten bei sich zu Hause. Karl, der vor lauter Information längst den Überblick und die Distanz verloren hat, kommen immer mehr Zweifel an seinem Vorhaben.
"Sie haben sich den Ort ausgesucht", sagt ihm darauf einer auf den Kopf zu, "jetzt müssen Sie auch damit zurechtkommen." Dass Karl am Ende mehr Fragen als Antworten haben würde, ist die simple Pointe, auf der sich die Erzählung aber nicht ausruht. Die feinsinnig versponnene Parabel lebt vielmehr von kleinen hinreißenden Beobachtungen, etwa "wie das raschelt, wenn Hühner sich schütteln", oder warum ein Schlafkleid, das Beinfreiheit ermöglicht, glücklich macht, ein Möbelhaus dagegen nicht. Karl selbst faltet, wenn er nicht mehr weiterweiß, die Pullover im Schrank. Darin findet er seine Ablenkung von der Welt. "Happiness is a warm gun", sangen einst die Beatles. Glück ist keine Frage von brutto und netto, sondern eine Waffe, an der man sich auch die Finger verbrennen kann.
SANDRA KEGEL
Anna Weidenholzer: "Weshalb die Herren Seesterne tragen". Roman.
Verlag Matthes &Seitz, Berlin 2016. 192 S., geb., 20,- [Euro].
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