Im Geist der großen europäischen Gesellschaftsromane ist in "Westend" - "einem der bedeutendsten Gesellschaftsromane der deutschen Literatur" (Die Zeit) - der eigentliche Gegenstand die Stadt Frankfurt mit ihren Bürgern aller Schichten. Eine ganze Epoche deutscher Nachkriegsgeschichte wird im Schicksal der Figuren lebendig: Spekulanten und Kunsthändler, Müllsammler, Hausmeister und Putzfrauen, die letzten Vertreter Altfrankfurter Bürgerlichkeit und ein jugendliches Liebespaar, das an den Sünden der Väter trägt und sie zu überwinden lernt. Ein fulminantes Epos über die Verwandlung einer städtischen Gesellschaft in den Aufbaujahren der Bundesrepublik - und ein Hauptwerk Martin Mosebachs, das jetzt als Neuausgabe wiederzuentdecken ist.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.2019Das Salatblatt
Abschluss des Festivals "Frankfurt liest ein Buch"
Michael Quast zieht den Hut. Vor Etelka Kalkofens Krabbenmayonnaise und der Bierstube im Frankfurter Bahnhofsviertel, die er für seine Zuhörer aus den Worten Martin Mosebachs erstehen lassen soll. Der Schriftsteller ist in den zwei Wochen des Festivals "Frankfurt liest ein Buch" ein exzellenter Vorleser seines Romans "Westend" gewesen, aber dem Schauspieler fällt zur akustischen Verlebendigung der immer haltloseren Trinkerrunde genauso viel ein. Quast hat großen Spaß an Mosebachs Übertreibungen und Ironien. "Ich wiederhole ihn mal", sagt er zu dem Satz, mit dem er es gerade zu tun hat, und liest ihn abermals vor: "Das Salatblatt, das üppig aus der Krabbenmayonnaise herauswuchs, stand vor ihr wie die grüne Standarte schrankenloser Freizügigkeit." Da kann auch er nur noch die Wendung ins Französische nehmen, die Sprache eleganter Verneigungen: "Chapeau."
Quast gegenüber sitzt Mosebach. Er hat an diesem letzten Tag des Lesefests selbst nichts mehr zu tun, sondern kann sich vorlesen lassen. An 22 von 85 Veranstaltungen hat er teilgenommen, ein Festivalrekord. Draußen naht das Sonntagnachmittagsgewitter, drinnen wartet das Publikum in vier getrennten Räumen unter farbigen Plafonds, Stuck und Kronleuchtern darauf, was die Mitglieder der "Fliegenden Volksbühne" ihm vorlesen. Die Zuhörer bleiben in der Villa Leonhardi des Palmengartens auf ihren Plätzen, die Schauspieler kommen bei ihnen vorbei.
Es passt zu Buch und Autor, dass das Festival in mehreren Räumen gleichzeitig zu Ende geht. "Immer haben Häuser und Zimmer einen sehr starken Reiz für mich gehabt", hat Mosebach ein paar Tage zuvor im Frankfurter Literaturhaus gesagt: "Ein Zimmer spricht schon, ohne dass ein Mensch anwesend ist." Auch Mosebach spricht, bei Lesungen und Diskussionen. Berichtet, scherzt, erklärt, denkt nach. Über Frankfurt: "Es ist eine einzige Stadt zwischen Aschaffenburg und Mainz, in der es nachts nicht mehr dunkel wird." Darüber, dass er sich erst im zweiten von sechs Schreibjahren entschloss, den Roman in seiner Heimatstadt anzusiedeln. Vorher hatte es irgendeine Stadt sein sollen, aber das habe nicht funktioniert, denn: "Irgendeine Stadt gibt's nicht." Darüber, dass er das Buch auf Capri schrieb und es "Das Erdbeben" hatte heißen sollen. Und darüber, dass er keine Verfallsgeschichte à la "Buddenbrooks" im Sinn gehabt habe. Wenn sich im Laufe des Romans Haushalte, Familien und Lebensweisen auflösten, sei das nur die logische Fortentwicklung einer besonders wichtigen bürgerlichen Idee: "Bürgertum nicht mehr als Klasse, sondern als der Ort, der Individualität als wichtigsten Wert begreift."
Dass genau diese Tendenz zu verfeinerter Individualität in den vergangenen drei Jahrzehnten noch einmal stark zugenommen hat, mag einer der Gründe dafür sein, dass der Roman, für den sich Kritiker und Käufer bei seinem ersten Erscheinen 1992 kaum interessierten, jetzt gut ankommt. Aber wieso sollte nicht auch das Publikum Zeit brauchen, wenn der Autor seinen Roman zweimal umschrieb, ehe er zufrieden war? "So habe ich, das kann man sagen, an dem Buch auch schreiben gelernt."
Da genügend Käufer "Westend" schätzen gelernt haben, hat Rowohlt die zweite Auflage der eigens herausgebrachten Neuausgabe in Druck gegeben. Ein Erfolg also, zumal das Festival in diesem Jahr rund 13 000 Besucher gezählt hat. Da kann der nächste Erfolg gerne angesteuert werden. Nun, da Diogenes Jörg Fauser neu herausbringt und Peter Kurzeck nicht länger bei Stroemfeld, stets knapp bei Kasse, sondern bei Schöffling erscheint, sind zwei dringend auszuwählende Autoren möglicher als zuvor.
Und Mosebach? Spricht ein paar Abschiedsworte. Wie der Kesselflicker Schlau sei er sich vorgekommen, der in "Der Widerspenstigen Zähmung" betrunken einschläft, aus dem Graben gezogen und in das Himmelbett eines Lords gelegt wird, damit er am nächsten Morgen in einer Welt aufwacht, in der alles Kopf steht. In der es scheint, als könne sich tatsächlich einmal alles nur um ein einziges Buch drehen. Jetzt werde der Trunkenbold aus dem Himmelbett hinausgeworfen und ziehe sich ins Private zurück: "Ich danke Ihnen, dass Sie da waren."
FLORIAN BALKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Abschluss des Festivals "Frankfurt liest ein Buch"
Michael Quast zieht den Hut. Vor Etelka Kalkofens Krabbenmayonnaise und der Bierstube im Frankfurter Bahnhofsviertel, die er für seine Zuhörer aus den Worten Martin Mosebachs erstehen lassen soll. Der Schriftsteller ist in den zwei Wochen des Festivals "Frankfurt liest ein Buch" ein exzellenter Vorleser seines Romans "Westend" gewesen, aber dem Schauspieler fällt zur akustischen Verlebendigung der immer haltloseren Trinkerrunde genauso viel ein. Quast hat großen Spaß an Mosebachs Übertreibungen und Ironien. "Ich wiederhole ihn mal", sagt er zu dem Satz, mit dem er es gerade zu tun hat, und liest ihn abermals vor: "Das Salatblatt, das üppig aus der Krabbenmayonnaise herauswuchs, stand vor ihr wie die grüne Standarte schrankenloser Freizügigkeit." Da kann auch er nur noch die Wendung ins Französische nehmen, die Sprache eleganter Verneigungen: "Chapeau."
Quast gegenüber sitzt Mosebach. Er hat an diesem letzten Tag des Lesefests selbst nichts mehr zu tun, sondern kann sich vorlesen lassen. An 22 von 85 Veranstaltungen hat er teilgenommen, ein Festivalrekord. Draußen naht das Sonntagnachmittagsgewitter, drinnen wartet das Publikum in vier getrennten Räumen unter farbigen Plafonds, Stuck und Kronleuchtern darauf, was die Mitglieder der "Fliegenden Volksbühne" ihm vorlesen. Die Zuhörer bleiben in der Villa Leonhardi des Palmengartens auf ihren Plätzen, die Schauspieler kommen bei ihnen vorbei.
Es passt zu Buch und Autor, dass das Festival in mehreren Räumen gleichzeitig zu Ende geht. "Immer haben Häuser und Zimmer einen sehr starken Reiz für mich gehabt", hat Mosebach ein paar Tage zuvor im Frankfurter Literaturhaus gesagt: "Ein Zimmer spricht schon, ohne dass ein Mensch anwesend ist." Auch Mosebach spricht, bei Lesungen und Diskussionen. Berichtet, scherzt, erklärt, denkt nach. Über Frankfurt: "Es ist eine einzige Stadt zwischen Aschaffenburg und Mainz, in der es nachts nicht mehr dunkel wird." Darüber, dass er sich erst im zweiten von sechs Schreibjahren entschloss, den Roman in seiner Heimatstadt anzusiedeln. Vorher hatte es irgendeine Stadt sein sollen, aber das habe nicht funktioniert, denn: "Irgendeine Stadt gibt's nicht." Darüber, dass er das Buch auf Capri schrieb und es "Das Erdbeben" hatte heißen sollen. Und darüber, dass er keine Verfallsgeschichte à la "Buddenbrooks" im Sinn gehabt habe. Wenn sich im Laufe des Romans Haushalte, Familien und Lebensweisen auflösten, sei das nur die logische Fortentwicklung einer besonders wichtigen bürgerlichen Idee: "Bürgertum nicht mehr als Klasse, sondern als der Ort, der Individualität als wichtigsten Wert begreift."
Dass genau diese Tendenz zu verfeinerter Individualität in den vergangenen drei Jahrzehnten noch einmal stark zugenommen hat, mag einer der Gründe dafür sein, dass der Roman, für den sich Kritiker und Käufer bei seinem ersten Erscheinen 1992 kaum interessierten, jetzt gut ankommt. Aber wieso sollte nicht auch das Publikum Zeit brauchen, wenn der Autor seinen Roman zweimal umschrieb, ehe er zufrieden war? "So habe ich, das kann man sagen, an dem Buch auch schreiben gelernt."
Da genügend Käufer "Westend" schätzen gelernt haben, hat Rowohlt die zweite Auflage der eigens herausgebrachten Neuausgabe in Druck gegeben. Ein Erfolg also, zumal das Festival in diesem Jahr rund 13 000 Besucher gezählt hat. Da kann der nächste Erfolg gerne angesteuert werden. Nun, da Diogenes Jörg Fauser neu herausbringt und Peter Kurzeck nicht länger bei Stroemfeld, stets knapp bei Kasse, sondern bei Schöffling erscheint, sind zwei dringend auszuwählende Autoren möglicher als zuvor.
Und Mosebach? Spricht ein paar Abschiedsworte. Wie der Kesselflicker Schlau sei er sich vorgekommen, der in "Der Widerspenstigen Zähmung" betrunken einschläft, aus dem Graben gezogen und in das Himmelbett eines Lords gelegt wird, damit er am nächsten Morgen in einer Welt aufwacht, in der alles Kopf steht. In der es scheint, als könne sich tatsächlich einmal alles nur um ein einziges Buch drehen. Jetzt werde der Trunkenbold aus dem Himmelbett hinausgeworfen und ziehe sich ins Private zurück: "Ich danke Ihnen, dass Sie da waren."
FLORIAN BALKE
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Dieses Buch ist umgeben von einer ungeheuren Fama. (...) wieder verblüffend aktuell. Helmut Böttiger Deutschlandfunk Kultur 20190329