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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Charles Tilly über Gründe des Begründens
Bei der Lektüre dieses Buches drängt sich die titelgebende Frage auf: Why? Warum dieses Buch, das danach fragt, was passiert, wenn Leute Gründe angeben - und warum. Und warum jetzt die Übersetzung einer ursprünglich 2006 erschienenen Publikation des amerikanischen Historikers und Soziologen Charles Tilly? Die Originalität ihres "Kerngedankens" kann es nicht sein, denn damit ist es nicht weit her, wie Tilly selbst im Vorwort zugibt. Dass das Nennen von Gründen eine "soziale Aktivität" sei und dass Gründe je nach gesellschaftlicher Situation unterschiedlich ausfielen, stünde bereits bei Aristoteles. Und da diese Argumentation später von einer Reihe von Autoren vertieft wurde, darf sie als abgeschlossen gelten. Der Test zum Wert seines Buches, so Tilly freimütig, könne somit nicht die Frage sein, ob es die einschlägige Literatur noch "aufbessern" könne. Es gehe eher darum, ob es die Frage nach dem Warum des Begründens beantworten helfe.
Nach Gründen für ein Geschehen zu suchen sei ein universeller Antrieb des Menschen, schreibt Tilly. Man könnte uns geradezu "als Gründe angebende Tiere" bezeichnen. Nur ist Tilly kein Anthropologe, ihn interessiert die soziale Seite von Begründungen, also "wie sich Menschen akzeptierte Gründe mitteilen, sie kommunizieren, anfechten und kollektiv verändern". Wenn Leute Begründungen ihres Tuns angeben oder sich das Handeln anderer mit Begründungen verständlich machen, resultiert das im besten Fall in wechselseitigem Einverständnis. Etwas überzeugt, hat Sinn, wird geglaubt. Es wird also in dieser Situation nicht bezweifelt, bestritten oder geleugnet. Kurz: Begründungen sind immer auch Aussagen über die Faktizität von etwas: Das mögen Motive sein, Zwänge oder persönliche Wünsche. Vor allem aber unterstellen Begründungen die Faktizität eines Wissens von der Welt: Man trägt eine Maske, weil das mich und andere vor Krankheitserregern schützt. Man lässt sich impfen, weil das als die beste Methode des Schutzes vor diesen Erregern gilt. All diese Begründungen setzen auf die mitkommunizierte Annahme der Gültigkeit einer Vielzahl von Sätzen über die Welt, wie sie ist. Im Alltagsleben, bemerkt Tilly, böten wir alle praktisches Wissen auf. Es reiche von der "Logik der Angemessenheit (Formeln) bis zu überzeugenden Erklärungen (kausalen Darstellungen)". Die "Angemessenheit und Überzeugungskraft" dieses Wissens variierten "je nach sozialem Umfeld".
Spätestens wenn Tilly anhand des Terroranschlags vom 11. September 2001 darstellt, wie für ein Ereignis völlig unterschiedliche Begründungen aufgeboten werden, liegt das Problem des Begründens eigentlich auf dem Tisch: Die erheblichen Variationen in der Angemessenheit des "Wissens gewöhnlicher Menschen". Aber Tilly folgt dieser Spur nicht. Er zieht den 11. September zwar immer wieder als Beispiel heran, aber er sieht keinen Anlass zur Sorge, dass dieses Wissen den Kontakt zur Realität verlieren könnte. Lieber warnt er seine "gebildete Leserschaft", sich vor der Annahme zu hüten, "populäre Begründungen" seien "minderwertige und übermäßig vereinfachende Versionen fachlicher Erklärungen". Diesem Irrtum säßen "wir Gebildeten" nämlich häufig auf.
Tilly gibt eine solide Einführung in eine "Erkenntnistheorie des Alltags", Aber wer so etwas wie ein Buch zur Krise des Wissens im "postfaktischen Zeitalter" erwartet, wird enttäuscht. Für einen Soziologen zeigt Tilly ein seltsames Desinteresse an den aktuellen Konfliktlinien zwischen den verschiedenen Wissensformen und darauf aufbauenden Begründungen. Die Möglichkeit, dass Menschen ganz auf Begründungen für ihr Handeln, ihre Weltsicht und Überzeugungen verzichten könnten, scheint ihn nicht zu beunruhigen. Das Phänomen, dass mancher nur noch Begründungen akzeptiert, wenn sie seinem geteilten sozialen Umfeld entstammen, kommt bei Tilly nicht vor. Das empirische Ausmaß solcher Phänomene wie etwa des Autoritätsverlusts wissenschaftlicher Begründungen ist natürlich zu Recht umstritten, gerade das prädestiniert sie aber zu einem Gegenstand einer soziologischen Studie über das sprachliche Aushandeln kollektiv geteilter Gründe. Dass Tilly solche Fragen gar nicht stellt, kann nicht mit dem Alter des Buches begründet werden. Verschwörungstheorien, Wissenschaftsskeptizismus und soziale Medien gab es auch schon vor fünfzehn Jahren.
GERALD WAGNER
Charles Tilly: "Why?" Was passiert, wenn Leute Gründe angeben . . . und warum. Hamburger Edition im HIS Verlag, Hamburg 2021. 232 S., geb., 28,- [Euro].
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