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Mit einer Einführung von Thomas Hoebel und Stefan Malthaner Menschen geben von klein auf Begründungen an oder fordern von anderen Gründe ein, und dies tun sie ein Leben lang. Der namhafte Soziologe, Historiker und Politikwissenschaftler Charles Tilly untersucht die Art und Weise, wie Menschen Beziehungen zu anderen Menschen aus den von ihnen angegebenen Gründen aufbauen, verhandeln oder beenden. Unabhängig von dem, was sie sonst noch tun, wenn sie Gründe angeben, gestalten Menschen durch Begründungen ihr soziales Leben. Das Buch handelt nicht davon, ob angegebene Begründungen richtig oder…mehr

Produktbeschreibung
Mit einer Einführung von Thomas Hoebel und Stefan Malthaner Menschen geben von klein auf Begründungen an oder fordern von anderen Gründe ein, und dies tun sie ein Leben lang. Der namhafte Soziologe, Historiker und Politikwissenschaftler Charles Tilly untersucht die Art und Weise, wie Menschen Beziehungen zu anderen Menschen aus den von ihnen angegebenen Gründen aufbauen, verhandeln oder beenden. Unabhängig von dem, was sie sonst noch tun, wenn sie Gründe angeben, gestalten Menschen durch Begründungen ihr soziales Leben. Das Buch handelt nicht davon, ob angegebene Begründungen richtig oder falsch, gut oder schlecht, plausibel oder unglaubwürdig sind. Vielmehr konzentriert es sich auf den sozialen Prozess des Begründens. Jede Art von Begründung hat bestimmte Eigenschaften und variiert im Inhalt – je nachdem, welche sozialen Beziehungen die Gebenden und die Nehmenden von Gründen miteinander verbinden. Insofern hat jede neben anderen Konsequenzen auch Auswirkungen auf ihr soziales Miteinander: Begründungen bestätigen eine bestehende Beziehung, sie bringen sie wieder in Ordnung, erheben Anspruch auf eine neue Beziehung oder bestreiten einen solchen Anspruch. Ebenso handeln Menschen, die Gründe geben oder nehmen, damit ihren Status zueinander aus, ob sie gleichrangig oder ungleich sind. In allen Fällen hängt jedoch die Akzeptanz von angegebenen Begründungen davon ab, ob sie zu den sozialen Beziehungen passen, die zwischen den Beteiligten vorherrschen. Tilly beschreibt forschend, gleichsam einfühlend, was geschieht, wenn Menschen in ihrem Umfeld Gründe angeben, Gründe präsentiert bekommen oder solche miteinander aushandeln. Angereichert mit Anekdoten über alltägliche soziale Erfahrungen bietet Tilly den Leserinnen und Lesern eine faszinierende Geschichte über die Bedeutung von Begründungen in ihrem Leben. In der Reihe Positionen erscheinen klassische und neue Texte, die sich damit auseinandersetzen, was wegweisende Sozialforschung methodisch und theoretisch ausmacht, und die aufzeigen, was sie leisten kann. Sozialforschung weiterdenken heißt, mit Positionen zu experimentieren, die inspirieren und irritieren, weil sie die theoretischen und methodischen Konventionen sozialwissenschaftlichen Forschens hinterfragen, überwinden oder neu arrangieren. Die ausgewählten Werke fordern allesamt heraus; sie geben Orientierung und enthalten überraschende Einsichten; sie machen Deutungsangebote und ermuntern zu Kritik. Ziel der Reihe des Hamburger Instituts für Sozialforschung ist es, methodisch und theoretisch kreativen Impulsen mehr Gewicht in wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen zu verleihen. Dazu versammelt Positionen sowohl Originaltexte als auch Übersetzungen.
Autorenporträt
Charles Tilly (1920-2008), Soziologe, Historiker, Politologe, lehrte während seiner Laufbahn an einer Reihe von Universitäten, zuletzt lange an der Columbia University. Tilly veröffentlichte über fünfzig Bücher und Monografien sowie Hunderte wissenschaftliche Artikel. Seine Forschung gibt Einblicke in eine Reihe von Themen, wie Revolutionen, europäische Nationalstaatsbildung, Demokratie, soziale Bewegungen und kategorische Ungleichheiten.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Für Rezensent Gerald Wagner greift das Buch des Soziologen Charles Tilly über die Frage, wie Menschen sich über das Warum austauschen, also Begründungen kommunizieren, schlicht zu kurz. Vor allem beim Beispiel des 11. September 2001, das der Autor bemüht, fällt Wagner das eigentliche Problem wie Schuppen von den Augen: Es geht um die Variationen des Wissens, um Verschwörungstheorien und Wissenschaftsskepsis, um die sozialen Medien auch. All diese Problemfelder rührt der Autor laut Wagner aber nicht an. Als Propädeutik in die "Erkenntnistheorie des Alltags" taugt der Band, findet Wagner, als Diskussionsbeitrag zur Ära des Postfaktischen eher nicht.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.06.2021

Kontakt zur Welt
Charles Tilly über Gründe des Begründens

Bei der Lektüre dieses Buches drängt sich die titelgebende Frage auf: Why? Warum dieses Buch, das danach fragt, was passiert, wenn Leute Gründe angeben - und warum. Und warum jetzt die Übersetzung einer ursprünglich 2006 erschienenen Publikation des amerikanischen Historikers und Soziologen Charles Tilly? Die Originalität ihres "Kerngedankens" kann es nicht sein, denn damit ist es nicht weit her, wie Tilly selbst im Vorwort zugibt. Dass das Nennen von Gründen eine "soziale Aktivität" sei und dass Gründe je nach gesellschaftlicher Situation unterschiedlich ausfielen, stünde bereits bei Aristoteles. Und da diese Argumentation später von einer Reihe von Autoren vertieft wurde, darf sie als abgeschlossen gelten. Der Test zum Wert seines Buches, so Tilly freimütig, könne somit nicht die Frage sein, ob es die einschlägige Literatur noch "aufbessern" könne. Es gehe eher darum, ob es die Frage nach dem Warum des Begründens beantworten helfe.

Nach Gründen für ein Geschehen zu suchen sei ein universeller Antrieb des Menschen, schreibt Tilly. Man könnte uns geradezu "als Gründe angebende Tiere" bezeichnen. Nur ist Tilly kein Anthropologe, ihn interessiert die soziale Seite von Begründungen, also "wie sich Menschen akzeptierte Gründe mitteilen, sie kommunizieren, anfechten und kollektiv verändern". Wenn Leute Begründungen ihres Tuns angeben oder sich das Handeln anderer mit Begründungen verständlich machen, resultiert das im besten Fall in wechselseitigem Einverständnis. Etwas überzeugt, hat Sinn, wird geglaubt. Es wird also in dieser Situation nicht bezweifelt, bestritten oder geleugnet. Kurz: Begründungen sind immer auch Aussagen über die Faktizität von etwas: Das mögen Motive sein, Zwänge oder persönliche Wünsche. Vor allem aber unterstellen Begründungen die Faktizität eines Wissens von der Welt: Man trägt eine Maske, weil das mich und andere vor Krankheitserregern schützt. Man lässt sich impfen, weil das als die beste Methode des Schutzes vor diesen Erregern gilt. All diese Begründungen setzen auf die mitkommunizierte Annahme der Gültigkeit einer Vielzahl von Sätzen über die Welt, wie sie ist. Im Alltagsleben, bemerkt Tilly, böten wir alle praktisches Wissen auf. Es reiche von der "Logik der Angemessenheit (Formeln) bis zu überzeugenden Erklärungen (kausalen Darstellungen)". Die "Angemessenheit und Überzeugungskraft" dieses Wissens variierten "je nach sozialem Umfeld".

Spätestens wenn Tilly anhand des Terroranschlags vom 11. September 2001 darstellt, wie für ein Ereignis völlig unterschiedliche Begründungen aufgeboten werden, liegt das Problem des Begründens eigentlich auf dem Tisch: Die erheblichen Variationen in der Angemessenheit des "Wissens gewöhnlicher Menschen". Aber Tilly folgt dieser Spur nicht. Er zieht den 11. September zwar immer wieder als Beispiel heran, aber er sieht keinen Anlass zur Sorge, dass dieses Wissen den Kontakt zur Realität verlieren könnte. Lieber warnt er seine "gebildete Leserschaft", sich vor der Annahme zu hüten, "populäre Begründungen" seien "minderwertige und übermäßig vereinfachende Versionen fachlicher Erklärungen". Diesem Irrtum säßen "wir Gebildeten" nämlich häufig auf.

Tilly gibt eine solide Einführung in eine "Erkenntnistheorie des Alltags", Aber wer so etwas wie ein Buch zur Krise des Wissens im "postfaktischen Zeitalter" erwartet, wird enttäuscht. Für einen Soziologen zeigt Tilly ein seltsames Desinteresse an den aktuellen Konfliktlinien zwischen den verschiedenen Wissensformen und darauf aufbauenden Begründungen. Die Möglichkeit, dass Menschen ganz auf Begründungen für ihr Handeln, ihre Weltsicht und Überzeugungen verzichten könnten, scheint ihn nicht zu beunruhigen. Das Phänomen, dass mancher nur noch Begründungen akzeptiert, wenn sie seinem geteilten sozialen Umfeld entstammen, kommt bei Tilly nicht vor. Das empirische Ausmaß solcher Phänomene wie etwa des Autoritätsverlusts wissenschaftlicher Begründungen ist natürlich zu Recht umstritten, gerade das prädestiniert sie aber zu einem Gegenstand einer soziologischen Studie über das sprachliche Aushandeln kollektiv geteilter Gründe. Dass Tilly solche Fragen gar nicht stellt, kann nicht mit dem Alter des Buches begründet werden. Verschwörungstheorien, Wissenschaftsskeptizismus und soziale Medien gab es auch schon vor fünfzehn Jahren.

GERALD WAGNER

Charles Tilly: "Why?" Was passiert, wenn Leute Gründe angeben . . . und warum. Hamburger Edition im HIS Verlag, Hamburg 2021. 232 S., geb., 28,- [Euro].

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