Why did British boats shoot their way up the Yangzi in 1842, rather than Chinese ones up the Thames? Why do Easterners use English more than Europeans speak in Mandarin or Japanese? To put it bluntly, why does the West rule? There are two schools of thought: the 'Long-Term Lock In' theory, suggesting some sort of inevitability, and the 'Short-Term Accident' theory. But both approaches have misunderstood the shape of history.
Ian Morris presents a startling new theory. He explains with flair and authority why the paths of development differed in the East and West and - analysing a vicious twist in trajectories just ahead of us - predicts when the West's lead will come to an end.
'Here you have three books wrapped into one: an exciting novel that happens to be true; an entertaining but thorough historical account of everything important that happened to any important people in the last 10 millennia; and an educated guess about what will happen in the future. Read, learn, and enjoy!' Jared Diamond
'A great work of synthesis and argument, drawing together an awesome range of materials and authorities to bring us a fresh, sharp reading of East-West relationships.' Andrew Marr
Ian Morris presents a startling new theory. He explains with flair and authority why the paths of development differed in the East and West and - analysing a vicious twist in trajectories just ahead of us - predicts when the West's lead will come to an end.
'Here you have three books wrapped into one: an exciting novel that happens to be true; an entertaining but thorough historical account of everything important that happened to any important people in the last 10 millennia; and an educated guess about what will happen in the future. Read, learn, and enjoy!' Jared Diamond
'A great work of synthesis and argument, drawing together an awesome range of materials and authorities to bring us a fresh, sharp reading of East-West relationships.' Andrew Marr
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2011Die Faulen und Habgierigen verändern die Welt
Sind wir noch im Zeitalter des Westens? Und wann hat es begonnen? Wann wurde China überholt, wann wird uns China überholen?
Ian Morris wagt das Kühnste, was sich ein Historiker vornehmen kann. Er versucht, die Grundmuster der Geschichte zu entschlüsseln Von Jürgen Osterhammel
Eines der populärsten und immer noch besten Werke der Weltgeschichtsschreibung ist die „Kurze Weltgeschichte für junge Leser“, die der sechsundzwanzigjährige Ernst Gombrich im Jahre 1935 in einem Wiener Verlag publizierte. Sie ist seither in viele Sprachen übersetzt worden und in einer Neuausgabe, die der berühmte Kunsthistoriker ein halbes Jahrhundert nach der Erstveröffentlichung herausbrachte, bis heute im Buchhandel lieferbar. Auch Ian Morris beginnt jetzt seine chronologische Erzählung in der Steinzeit, und er schreibt ähnlich wie Gombrich: straff, pointiert, anekdotenreich. Zwar wird der Leser nicht wie bei Gombrich in der zweiten Person angesprochen, aber Morris schreibt in der ersten Person von seinen persönlichen Erfahrungen als grabender Archäologe in Italien und Professor für Altertumswissenschaft in Stanford, und er schmückt sein Buch mit einem Foto des vierjährigen Autors inmitten der Weihnachtsbescherung.
Morris’ Vignetten historischer Persönlichkeiten sind scharf gezeichnet. Beim Urteilen macht er wenig Federlesens. Im Vergleich zu Reichsgründern anderswo war Karl der Große ein Versager. An den Kreuzzügen ist nur bemerkenswert, dass die Christenheit sie verlor. Der Islam entstand deshalb, weil Muhammads Frau dem zweifelnden Propheten riet, seine visionäre Begegnung mit dem Erzengel Gabriel ernst zu nehmen. Der Gründer der chinesischen Ming-Dynastie war in seinen rebellischen Jugendjahren „genau der Mann, den jeder Bandit gern in seiner Bande sah“. Zwölf Zeilen genügen für die Französische Revolution („eine Katastrophe“), und Hollywood wird auf den Peloponnesischen Krieg als schlummernden Filmstoff hingewiesen. Man erfährt, dass 2008 in den USA fünf Millionen Botox-Operationen zur Faltenglättung vorgenommen wurden und dass der berühmte chinesische Admiral Zheng He aus dem frühen 15. Jahrhundert mit einem Leibesumfang von mehr als zwei Metern prunkte.
Ian Morris liebt kontrafaktische Gedankenspiele: Wenn der grausame Kriegsherr Timur auf seinem Feldzug gegen China nicht 1405 gestorben wäre, sondern das Reich der Ming verwüstet hätte – wäre dann die Entwicklung des Ostens nicht um weitere Jahrhunderte zurückgeworfen worden? Und was, wenn die Osmanen 1529 Wien gestürmt hätten? Hätte sich dann der christliche Konfessionsstreit erübrigt, weil in ganz Europa die Minarette neu gebauter Moscheen in den Himmel gewachsen wären? Schließlich: Man stelle sich vor, nicht Großbritannien hätte China im Opiumkrieg (1840-42) provoziert, angegriffen und besiegt, sondern eine chinesische Flotte wäre vor London erschienen, hätte die junge Queen Victoria zur Kapitulation gezwungen und den Prinzgemahl Albert als Geisel nach Peking verschleppt . . .
Solche Spekulationen sind immer unterhaltsam. Doch Ian Morris will mit seinem Geschichts-Blockbuster nur vordergründig den Leser fesseln. Ihm geht es um viel mehr, ja, um das Kühnste, das sich ein Historiker vornehmen kann: „the patterns of history“ zu entschleiern, die Grundmuster der Geschichte, wie es im Untertitel der amerikanischen Ausgabe heißt. Einmal entdeckt, sollen diese Grundmuster die Vergangenheit erklären und den Blick in die Zukunft unserer Welt öffnen.
Wie hofft Morris solche patterns zu finden? Zunächst, indem er zufällige von notwendigen Konstellationen der Geschichte unterscheidet. Dass die Mauern Wiens im Oktober 1529 dem Heer Süleymans des Prächtigen standhielten, war Zufall; erst recht, dass der greise Weltenzertrümmerer Timur in seinem Winterlager dem Fieber zum Opfer fiel. Hinter solch kontingentem Geschehen verbergen sich keine Strukturen. Aber wäre es denkbar gewesen, um die Mitte des 19. Jahrhunderts Großbritannien im Staub vor dem Chinesischen Kaiserreich zu sehen? Kann man sich einen chinesischen Generalgouverneur als Herrscher in Westminster vorstellen? Offensichtlich nicht. Aber aus welchen Gründen?
Ian Morris holt weit aus. Das Szenario einer chinesischen Kolonisierung Europas, mit dem er das Buch eröffnet, erscheint spontan als absurd, weil jeder weiß, dass wir uns um 1840 oder 1850 mitten im „westlichen Zeitalter“ befinden. Damals waren die Machtverhältnisse in der Welt eindeutig geklärt. Die internationale Hierarchie stand unverrückbar fest. Dieses westliche Zeitalter, das Morris exakt im Jahre 1773 beginnen lässt und das in seiner Sicht bis heute andauert, war kein Produkt von Zufällen. Es musste mit strenger Notwendigkeit entstehen.
Wer die Zukunft aus der Vergangenheit erschließen will, kommt um eine Diagnose der Gegenwart nicht herum. Die Frage im Titel der deutschen Übersetzung des Buches – „Wer regiert die Welt?“ – wird unverblümt beantwortet: Im Jahre 2011 dominiert (im Englischen: „rules“) der Westen unter Führung der USA. Man könnte es natürlich auch anders sehen: Niemand „regiert“ die Welt. Es gibt keine globale Zentralgewalt, es hat sie in der Vergangenheit niemals gegeben. Die Phantasien von einem allmächtigen Imperium Americanum, wie sie in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts kurz in Mode kamen, sind zerstoben. Die angeblich grenzenlos durchsetzungsfähige Supermacht kann keine Kriege mehr gewinnen, sie schreckt vor neuen Interventionen zurück, erlebt eine Erosion ihrer industriellen Basis und ist finanziell von asiatischen Gläubigern abhängig. Heute wird sich kaum noch sagen lassen (wie der deutsche Untertitel suggeriert), dass eine „Zivilisation“ eine andere „beherrscht“. Das ist seit der Dekolonisation unmöglich. Ian Morris meint auch gar nicht konkrete koloniale Machtausübung; über Imperien hat er viel weniger zu sagen als große Teile der neueren weltgeschichtlichen Literatur. Was ihn interessiert, das ist das relative Gewicht der beiden bedeutendsten zivilisatorischen Wachstumskerne auf der Erde: des Ostens und des Westens.
Mit dem „Osten“ ist im Grunde China gemeint, keinesfalls der muslimische „Orient“. Japan, Indien, Südostasien und selbst das eurasische Russland werden hier vom Suchscheinwerfer des Welthistorikers nur gestreift. Der Begriff des „Westens“ ist schillernder und origineller. An die nordatlantische Achse kapitalistischer Demokratien, die man heute als „Westen“ bezeichnet, kann man in zeitlicher Tiefenperspektive kaum denken; sie stabilisierte sich erst im 20. Jahrhundert. Und tatsächlich spielen die USA als selbstständiger Akteur bei Morris bis an die Schwelle zur Gegenwart keine Rolle; Thomas Jefferson fehlt im Register. Morris’ „Westen“ ist nicht jene Wertegemeinschaft, die andere Historiker so gerne aus den Tiefen einer monotheistischen jüdisch-christlichen Tradition herleiten und die in neuhumanistischen Varianten solchen Wurzeldenkens lieber auf die (polytheistische) griechische Antike zurückgeführt wird.
Der Altertumswissenschaftler Morris bevorzugt die Geographie. Sie zeigt ihm einen durch die Natur begünstigten Wachstumsraum im Süden des Mittelmeeres, wo die Landwirtschaft entstand und erstmals eine komplexere Staatsbildung gelang – um Einiges früher als im konkurrierenden Zivilisationslabor des chinesischen Ostens. Die Grenzen dieses geographischen Westens verschoben sich mit der Zeit, sein dynamisches Zentrum verlagerte sich vom Fruchtbaren Halbmond über das Italien der Römerzeit immer weiter nach Norden, bis der Atlantik erreicht und siedelnd übersprungen wurde.
Mit „christlichem Abendland“ hat ein so verstandener Westen wenig zu tun. Nach 700 bildete die islamische Welt für eine Weile geradezu den Kern des Westens, die lateinische und griechische Christenheit seine Peripherie. Im virtuellen Wettbewerb mit dem konfuzianischen und buddhistischen Osten startete der ökologisch besser ausgestattete Westen mit einem Vorsprung von etwa zwei Jahrtausenden und behielt die Nase vorn, bis im 6. Jahrhundert die chinesische Welt zu einem großen Spurt ansetzte. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts – eben bis „1773“ – blieb sie dem Westen in vieler Hinsicht überlegen.
Besser als jeder andere vor ihm beschreibt Ian Morris in klugen Vergleichen die Parallelität der Entwicklung in West und Ost: etwa den Niedergang Westroms und die gleichzeitige Fragmentierung und Barbarisierung Chinas nach dem Fall der Han-Dynastie 220 n. Chr. oder die in etwa simultanen ökonomischen und kulturellen Aufschwünge während der chinesischen Song-Zeit und des europäischen Hochmittelalters, bei denen übrigens am höheren Wohlstands- und Verfeinerungsniveau Chinas kein Zweifel bestehen kann.
Ob sich solche Niveaus aber wirklich messen lassen? Ian Morris versucht es mit einer Art von retrospektivem Human Development Index, in den er vier Dimensionen einfließen lässt: Energieausbeute, zivile Organisation, militärische Kapazität und Alphabetisierung. Bis mindestens 3000 v. Chr. zurück glaubt Morris diese Messgrößen mit geschätzten Indexwerten beziffern zu können. Selbst für die Gegenwart ist ein solches Verfahren gewiss nicht unproblematisch. Ein Beispiel: Die Kriegführungskapazität des Ostens – zu dem hier offenbar auch der US-Verbündete Japan gerechnet wird – belaufe sich, so lesen wir, auf ein Zwanzigstel derjenigen des Westens. Was trägt aber im Zeitalter asymmetrischer Kriege ein nicht einsetzbares Nuklearpotential zur operativen Verfolgung militärischer Ziele bei? Für jede Epoche vor 1800 sind ähnliche Zahlen reine Spekulation. Sie wiegen uns in trügerischer Sicherheit.
Je länger man in „Wer regiert die Welt?“ liest, desto höher steigen Spannung und Erwartung, mittels der Kolportagetechnik fortwährender Verrätselung angeheizt. Warum kam das „Zeitalter des Ostens“ – in dem China zwar nicht die Welt beherrschte, aber doch beste Entwicklungschancen zu zeigen schien – im 18. Jahrhundert zu seinem Ende? Weshalb fand der Westen, nach 1200 Jahren im Hintertreffen, zu seiner alten Hochform als Weltchampion zurück?
Viele kluge Leute haben sich darüber die Köpfe zerbrochen und tun es heute noch. Keine einzelne Erklärung hat bisher breite Anerkennung gefunden. Das wird bei Ian Morris’ Lösungsvorschlag, der die Geographie stark macht, nicht anders sein: Der Westen, sprich: das atlantische Europa, genieße das geographische Glück, relativ nahe bei Amerika zu liegen, jedenfalls näher als China, das durch den immensen Pazifik von Kalifornien getrennt ist. Europa konnte daher die unvergleichlichen Ressourcen der Neuen Welt erschließen. Nun mussten nur noch, ziemlich plötzlich und voraussetzungslos, James Watt und ein paar andere geniale Erfinder und Verbesserer der Dampfmaschine auf der historischen Bühne erscheinen, und fertig war die englische Industrielle Revolution. Aus ihr folgte dann bis zum heutigen Tage eine ganze Serie westlicher Vorsprünge.
War aber die Industrielle Revolution, so fragt man sich, wirklich der Urquell aller späteren Dynamik? Zum Beispiel gelangen einige der wichtigsten imperialen Eroberungen – vor allem die Unterwerfung der üppigen Beutestücke Indien und Algerien – mit den Mitteln einer vorindustriellen Militärtechnologie. Im Opiumkrieg von 1840-42 überrannte keineswegs eine industrialisierte Militärmaschine einen archaischen Gegner. Vielmehr vermochten die Briten einen lokalen Vorteil zu Wasser zu nutzen, den ihnen das neu konstruierte Kanonenboot verschaffte. Schon gegenüber Japan war dieses Kanonenboot wenige Jahre später nur noch zu symbolischen Drohgesten einsetzbar.
Die detailreiche, stofflich interessante Argumentation des Buches verdeckt einen fundamentalen Widerspruch: Ian Morris findet kaum Hinweise darauf, dass das erste „Zeitalter des Westens“ (circa 12 500 v. Chr. bis 550 n. Chr.) die Grundlagen für das zweite gelegt haben könnte. Die industrielle „Revolution“ nach 1750 wird konventionell als plötzlicher Einbruch in die historische Kontinuität begriffen.
Damit steht der Ertrag einer langfristigen Sichtweise wieder in Frage. Auch die versprochenen Grundmuster der Geschichte bleiben schemenhaft. Man kann darüber auch erleichtert sein, denn bisher sind alle Versuche fehlgeschlagen, die Vergangenheit in Schemata und Gesetzmäßigkeiten zu zwängen. Was Ian Morris aber als tiefe Einsichten anbietet, sind eher unstrittige Fakten: Jedes Reich und jede Zivilisation seien früher oder später zum Niedergang verurteilt; die Geschichte werde von Biologie, Soziologie und Geographie geprägt, aber auch von Genies und Tölpeln; Gesellschaften reagierten in je besonderer Weise auf Herausforderungen (schon Arnold J. Toynbee hatte dies in den 1930er Jahren betont); Not mache erfinderisch; Innovation gehe oft von Randlagen aus. Geboten wird in diesem breit angelegten Werk auch ein „Morris-Theorem“ – es besagt, dass „Veränderungen von faulen, habgierigen, furchtsamen Menschen bewirkt werden, die zur Bewältigung ihres Alltags nach leichteren, profitableren und sicheren Wegen suchen“.
Was folgt nun aus der bisherigen Geschichte der Welt? Für das 21. Jahrhundert fürchtet Ian Morris große nukleare oder ökologische Dummheiten, mit denen sich die Menschheit selbst den Garaus machen könnte. Er prophezeit – da ist er keineswegs der einzige – den Aufstieg Chinas, allerdings in eher langsamem Tempo, bis spätestens 2103. Und er hält es für die beste aller möglichen Zukünfte, wenn im Zeichen von Robotern und künstlicher Intelligenz Ost und West zu „einer einzigen posthumanen Weltzivilisation“ verschmölzen, erstmals befreit aus den Fesseln der Geographie.
2103 sprechen wir uns wieder.
Ian Morris
Wer regiert die Welt?
Warum Zivilisationen herrschen
oder beherrscht werden
Aus dem Englischen von Klaus Binder, Waltraud Götting und Andreas Simon dos Santos. Campus Verlag,
Frankfurt am Main/New York 2011. 656 Seiten, 24,90 Euro.
Der weit ausgreifende
Altertumswissenschaftler
bevorzugt die Geographie
Was ist entscheidend – Energie,
zivile Organisation,
Militär, Alphabetisierung. . .?
Morris prophezeit große
nukleare oder ökologische
Dummheiten der Menschheit
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Sind wir noch im Zeitalter des Westens? Und wann hat es begonnen? Wann wurde China überholt, wann wird uns China überholen?
Ian Morris wagt das Kühnste, was sich ein Historiker vornehmen kann. Er versucht, die Grundmuster der Geschichte zu entschlüsseln Von Jürgen Osterhammel
Eines der populärsten und immer noch besten Werke der Weltgeschichtsschreibung ist die „Kurze Weltgeschichte für junge Leser“, die der sechsundzwanzigjährige Ernst Gombrich im Jahre 1935 in einem Wiener Verlag publizierte. Sie ist seither in viele Sprachen übersetzt worden und in einer Neuausgabe, die der berühmte Kunsthistoriker ein halbes Jahrhundert nach der Erstveröffentlichung herausbrachte, bis heute im Buchhandel lieferbar. Auch Ian Morris beginnt jetzt seine chronologische Erzählung in der Steinzeit, und er schreibt ähnlich wie Gombrich: straff, pointiert, anekdotenreich. Zwar wird der Leser nicht wie bei Gombrich in der zweiten Person angesprochen, aber Morris schreibt in der ersten Person von seinen persönlichen Erfahrungen als grabender Archäologe in Italien und Professor für Altertumswissenschaft in Stanford, und er schmückt sein Buch mit einem Foto des vierjährigen Autors inmitten der Weihnachtsbescherung.
Morris’ Vignetten historischer Persönlichkeiten sind scharf gezeichnet. Beim Urteilen macht er wenig Federlesens. Im Vergleich zu Reichsgründern anderswo war Karl der Große ein Versager. An den Kreuzzügen ist nur bemerkenswert, dass die Christenheit sie verlor. Der Islam entstand deshalb, weil Muhammads Frau dem zweifelnden Propheten riet, seine visionäre Begegnung mit dem Erzengel Gabriel ernst zu nehmen. Der Gründer der chinesischen Ming-Dynastie war in seinen rebellischen Jugendjahren „genau der Mann, den jeder Bandit gern in seiner Bande sah“. Zwölf Zeilen genügen für die Französische Revolution („eine Katastrophe“), und Hollywood wird auf den Peloponnesischen Krieg als schlummernden Filmstoff hingewiesen. Man erfährt, dass 2008 in den USA fünf Millionen Botox-Operationen zur Faltenglättung vorgenommen wurden und dass der berühmte chinesische Admiral Zheng He aus dem frühen 15. Jahrhundert mit einem Leibesumfang von mehr als zwei Metern prunkte.
Ian Morris liebt kontrafaktische Gedankenspiele: Wenn der grausame Kriegsherr Timur auf seinem Feldzug gegen China nicht 1405 gestorben wäre, sondern das Reich der Ming verwüstet hätte – wäre dann die Entwicklung des Ostens nicht um weitere Jahrhunderte zurückgeworfen worden? Und was, wenn die Osmanen 1529 Wien gestürmt hätten? Hätte sich dann der christliche Konfessionsstreit erübrigt, weil in ganz Europa die Minarette neu gebauter Moscheen in den Himmel gewachsen wären? Schließlich: Man stelle sich vor, nicht Großbritannien hätte China im Opiumkrieg (1840-42) provoziert, angegriffen und besiegt, sondern eine chinesische Flotte wäre vor London erschienen, hätte die junge Queen Victoria zur Kapitulation gezwungen und den Prinzgemahl Albert als Geisel nach Peking verschleppt . . .
Solche Spekulationen sind immer unterhaltsam. Doch Ian Morris will mit seinem Geschichts-Blockbuster nur vordergründig den Leser fesseln. Ihm geht es um viel mehr, ja, um das Kühnste, das sich ein Historiker vornehmen kann: „the patterns of history“ zu entschleiern, die Grundmuster der Geschichte, wie es im Untertitel der amerikanischen Ausgabe heißt. Einmal entdeckt, sollen diese Grundmuster die Vergangenheit erklären und den Blick in die Zukunft unserer Welt öffnen.
Wie hofft Morris solche patterns zu finden? Zunächst, indem er zufällige von notwendigen Konstellationen der Geschichte unterscheidet. Dass die Mauern Wiens im Oktober 1529 dem Heer Süleymans des Prächtigen standhielten, war Zufall; erst recht, dass der greise Weltenzertrümmerer Timur in seinem Winterlager dem Fieber zum Opfer fiel. Hinter solch kontingentem Geschehen verbergen sich keine Strukturen. Aber wäre es denkbar gewesen, um die Mitte des 19. Jahrhunderts Großbritannien im Staub vor dem Chinesischen Kaiserreich zu sehen? Kann man sich einen chinesischen Generalgouverneur als Herrscher in Westminster vorstellen? Offensichtlich nicht. Aber aus welchen Gründen?
Ian Morris holt weit aus. Das Szenario einer chinesischen Kolonisierung Europas, mit dem er das Buch eröffnet, erscheint spontan als absurd, weil jeder weiß, dass wir uns um 1840 oder 1850 mitten im „westlichen Zeitalter“ befinden. Damals waren die Machtverhältnisse in der Welt eindeutig geklärt. Die internationale Hierarchie stand unverrückbar fest. Dieses westliche Zeitalter, das Morris exakt im Jahre 1773 beginnen lässt und das in seiner Sicht bis heute andauert, war kein Produkt von Zufällen. Es musste mit strenger Notwendigkeit entstehen.
Wer die Zukunft aus der Vergangenheit erschließen will, kommt um eine Diagnose der Gegenwart nicht herum. Die Frage im Titel der deutschen Übersetzung des Buches – „Wer regiert die Welt?“ – wird unverblümt beantwortet: Im Jahre 2011 dominiert (im Englischen: „rules“) der Westen unter Führung der USA. Man könnte es natürlich auch anders sehen: Niemand „regiert“ die Welt. Es gibt keine globale Zentralgewalt, es hat sie in der Vergangenheit niemals gegeben. Die Phantasien von einem allmächtigen Imperium Americanum, wie sie in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts kurz in Mode kamen, sind zerstoben. Die angeblich grenzenlos durchsetzungsfähige Supermacht kann keine Kriege mehr gewinnen, sie schreckt vor neuen Interventionen zurück, erlebt eine Erosion ihrer industriellen Basis und ist finanziell von asiatischen Gläubigern abhängig. Heute wird sich kaum noch sagen lassen (wie der deutsche Untertitel suggeriert), dass eine „Zivilisation“ eine andere „beherrscht“. Das ist seit der Dekolonisation unmöglich. Ian Morris meint auch gar nicht konkrete koloniale Machtausübung; über Imperien hat er viel weniger zu sagen als große Teile der neueren weltgeschichtlichen Literatur. Was ihn interessiert, das ist das relative Gewicht der beiden bedeutendsten zivilisatorischen Wachstumskerne auf der Erde: des Ostens und des Westens.
Mit dem „Osten“ ist im Grunde China gemeint, keinesfalls der muslimische „Orient“. Japan, Indien, Südostasien und selbst das eurasische Russland werden hier vom Suchscheinwerfer des Welthistorikers nur gestreift. Der Begriff des „Westens“ ist schillernder und origineller. An die nordatlantische Achse kapitalistischer Demokratien, die man heute als „Westen“ bezeichnet, kann man in zeitlicher Tiefenperspektive kaum denken; sie stabilisierte sich erst im 20. Jahrhundert. Und tatsächlich spielen die USA als selbstständiger Akteur bei Morris bis an die Schwelle zur Gegenwart keine Rolle; Thomas Jefferson fehlt im Register. Morris’ „Westen“ ist nicht jene Wertegemeinschaft, die andere Historiker so gerne aus den Tiefen einer monotheistischen jüdisch-christlichen Tradition herleiten und die in neuhumanistischen Varianten solchen Wurzeldenkens lieber auf die (polytheistische) griechische Antike zurückgeführt wird.
Der Altertumswissenschaftler Morris bevorzugt die Geographie. Sie zeigt ihm einen durch die Natur begünstigten Wachstumsraum im Süden des Mittelmeeres, wo die Landwirtschaft entstand und erstmals eine komplexere Staatsbildung gelang – um Einiges früher als im konkurrierenden Zivilisationslabor des chinesischen Ostens. Die Grenzen dieses geographischen Westens verschoben sich mit der Zeit, sein dynamisches Zentrum verlagerte sich vom Fruchtbaren Halbmond über das Italien der Römerzeit immer weiter nach Norden, bis der Atlantik erreicht und siedelnd übersprungen wurde.
Mit „christlichem Abendland“ hat ein so verstandener Westen wenig zu tun. Nach 700 bildete die islamische Welt für eine Weile geradezu den Kern des Westens, die lateinische und griechische Christenheit seine Peripherie. Im virtuellen Wettbewerb mit dem konfuzianischen und buddhistischen Osten startete der ökologisch besser ausgestattete Westen mit einem Vorsprung von etwa zwei Jahrtausenden und behielt die Nase vorn, bis im 6. Jahrhundert die chinesische Welt zu einem großen Spurt ansetzte. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts – eben bis „1773“ – blieb sie dem Westen in vieler Hinsicht überlegen.
Besser als jeder andere vor ihm beschreibt Ian Morris in klugen Vergleichen die Parallelität der Entwicklung in West und Ost: etwa den Niedergang Westroms und die gleichzeitige Fragmentierung und Barbarisierung Chinas nach dem Fall der Han-Dynastie 220 n. Chr. oder die in etwa simultanen ökonomischen und kulturellen Aufschwünge während der chinesischen Song-Zeit und des europäischen Hochmittelalters, bei denen übrigens am höheren Wohlstands- und Verfeinerungsniveau Chinas kein Zweifel bestehen kann.
Ob sich solche Niveaus aber wirklich messen lassen? Ian Morris versucht es mit einer Art von retrospektivem Human Development Index, in den er vier Dimensionen einfließen lässt: Energieausbeute, zivile Organisation, militärische Kapazität und Alphabetisierung. Bis mindestens 3000 v. Chr. zurück glaubt Morris diese Messgrößen mit geschätzten Indexwerten beziffern zu können. Selbst für die Gegenwart ist ein solches Verfahren gewiss nicht unproblematisch. Ein Beispiel: Die Kriegführungskapazität des Ostens – zu dem hier offenbar auch der US-Verbündete Japan gerechnet wird – belaufe sich, so lesen wir, auf ein Zwanzigstel derjenigen des Westens. Was trägt aber im Zeitalter asymmetrischer Kriege ein nicht einsetzbares Nuklearpotential zur operativen Verfolgung militärischer Ziele bei? Für jede Epoche vor 1800 sind ähnliche Zahlen reine Spekulation. Sie wiegen uns in trügerischer Sicherheit.
Je länger man in „Wer regiert die Welt?“ liest, desto höher steigen Spannung und Erwartung, mittels der Kolportagetechnik fortwährender Verrätselung angeheizt. Warum kam das „Zeitalter des Ostens“ – in dem China zwar nicht die Welt beherrschte, aber doch beste Entwicklungschancen zu zeigen schien – im 18. Jahrhundert zu seinem Ende? Weshalb fand der Westen, nach 1200 Jahren im Hintertreffen, zu seiner alten Hochform als Weltchampion zurück?
Viele kluge Leute haben sich darüber die Köpfe zerbrochen und tun es heute noch. Keine einzelne Erklärung hat bisher breite Anerkennung gefunden. Das wird bei Ian Morris’ Lösungsvorschlag, der die Geographie stark macht, nicht anders sein: Der Westen, sprich: das atlantische Europa, genieße das geographische Glück, relativ nahe bei Amerika zu liegen, jedenfalls näher als China, das durch den immensen Pazifik von Kalifornien getrennt ist. Europa konnte daher die unvergleichlichen Ressourcen der Neuen Welt erschließen. Nun mussten nur noch, ziemlich plötzlich und voraussetzungslos, James Watt und ein paar andere geniale Erfinder und Verbesserer der Dampfmaschine auf der historischen Bühne erscheinen, und fertig war die englische Industrielle Revolution. Aus ihr folgte dann bis zum heutigen Tage eine ganze Serie westlicher Vorsprünge.
War aber die Industrielle Revolution, so fragt man sich, wirklich der Urquell aller späteren Dynamik? Zum Beispiel gelangen einige der wichtigsten imperialen Eroberungen – vor allem die Unterwerfung der üppigen Beutestücke Indien und Algerien – mit den Mitteln einer vorindustriellen Militärtechnologie. Im Opiumkrieg von 1840-42 überrannte keineswegs eine industrialisierte Militärmaschine einen archaischen Gegner. Vielmehr vermochten die Briten einen lokalen Vorteil zu Wasser zu nutzen, den ihnen das neu konstruierte Kanonenboot verschaffte. Schon gegenüber Japan war dieses Kanonenboot wenige Jahre später nur noch zu symbolischen Drohgesten einsetzbar.
Die detailreiche, stofflich interessante Argumentation des Buches verdeckt einen fundamentalen Widerspruch: Ian Morris findet kaum Hinweise darauf, dass das erste „Zeitalter des Westens“ (circa 12 500 v. Chr. bis 550 n. Chr.) die Grundlagen für das zweite gelegt haben könnte. Die industrielle „Revolution“ nach 1750 wird konventionell als plötzlicher Einbruch in die historische Kontinuität begriffen.
Damit steht der Ertrag einer langfristigen Sichtweise wieder in Frage. Auch die versprochenen Grundmuster der Geschichte bleiben schemenhaft. Man kann darüber auch erleichtert sein, denn bisher sind alle Versuche fehlgeschlagen, die Vergangenheit in Schemata und Gesetzmäßigkeiten zu zwängen. Was Ian Morris aber als tiefe Einsichten anbietet, sind eher unstrittige Fakten: Jedes Reich und jede Zivilisation seien früher oder später zum Niedergang verurteilt; die Geschichte werde von Biologie, Soziologie und Geographie geprägt, aber auch von Genies und Tölpeln; Gesellschaften reagierten in je besonderer Weise auf Herausforderungen (schon Arnold J. Toynbee hatte dies in den 1930er Jahren betont); Not mache erfinderisch; Innovation gehe oft von Randlagen aus. Geboten wird in diesem breit angelegten Werk auch ein „Morris-Theorem“ – es besagt, dass „Veränderungen von faulen, habgierigen, furchtsamen Menschen bewirkt werden, die zur Bewältigung ihres Alltags nach leichteren, profitableren und sicheren Wegen suchen“.
Was folgt nun aus der bisherigen Geschichte der Welt? Für das 21. Jahrhundert fürchtet Ian Morris große nukleare oder ökologische Dummheiten, mit denen sich die Menschheit selbst den Garaus machen könnte. Er prophezeit – da ist er keineswegs der einzige – den Aufstieg Chinas, allerdings in eher langsamem Tempo, bis spätestens 2103. Und er hält es für die beste aller möglichen Zukünfte, wenn im Zeichen von Robotern und künstlicher Intelligenz Ost und West zu „einer einzigen posthumanen Weltzivilisation“ verschmölzen, erstmals befreit aus den Fesseln der Geographie.
2103 sprechen wir uns wieder.
Ian Morris
Wer regiert die Welt?
Warum Zivilisationen herrschen
oder beherrscht werden
Aus dem Englischen von Klaus Binder, Waltraud Götting und Andreas Simon dos Santos. Campus Verlag,
Frankfurt am Main/New York 2011. 656 Seiten, 24,90 Euro.
Der weit ausgreifende
Altertumswissenschaftler
bevorzugt die Geographie
Was ist entscheidend – Energie,
zivile Organisation,
Militär, Alphabetisierung. . .?
Morris prophezeit große
nukleare oder ökologische
Dummheiten der Menschheit
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.2011In 34 Jahren geht die Welt unter
Eine Strategie für die Zeit nach der Industriegesellschaft fehlt
Für dieses Buch braucht der Leser viel, viel Zeit. Zu überwinden sind 600 engbedruckte, faktenreiche Seiten Papier: mehr Stoff als in einem ganzen Semester politischer Geschichte! Dafür begleitet dieses "opus magnum" seinen Leser auch eine lange Zeit: Es beginnt im Jahre 7500 vor Christus und endet im Jahr 2045. Beantwortet wird die Frage, wer zu welcher Zeit die Weltentwicklung angeführt hat - und anführen wird.
Im Rennen sind zwei sogenannte "Kerngebiete": der Westen (ursprünglich das Gebiet des Mittleren und Nahen Ostens, später erweitert nach Europa, inzwischen Nordamerika) und der Osten (China). Zunächst führte der Westen, bis er um das Jahr 550 die Führung an den Osten abgeben musste, der sie dann anschließend 1200 Jahre lang innehatte. Seit dem 18. Jahrhundert dominiert also wieder der Westen.
Ian Morris ist gebürtiger Brite und seit zwanzig Jahren Historiker und Archäologe an den Universitäten Chicago und Stanford. Sein Werk, zunächst - natürlich - in Amerika erschienen, ist vielfach gelobt worden. Es hat aber auch etwas Verstörendes an sich: Wie kann ein einzelner Mensch eine solch interdisziplinäre und umfassende Theorie der Weltgeschichte schreiben?
Es handelt sich ohne Zweifel um ein Werk, über das noch in Jahrzehnten gesprochen werden wird. Auch deshalb, weil es einen Blick in die Zukunft wirft: "Die nächsten 40 Jahre werden die bedeutsamsten der Weltgeschichte sein." Und Morris - der sich ansonsten Superlativen enthält - beschreibt auch sachkundig, weshalb er das so sieht: "Entweder wir werden bald eine Transformation in Gang setzen, die die industrielle Revolution weit in den Schatten stellen und die meisten unserer aktuellen Probleme in Wohlgefallen auflösen wird; oder wir stolpern in einen Zusammenbruch, wie es bislang keinen gab. Schwer zu sagen, wie irgendein mittlerer Weg funktionieren soll - ein Kompromiss, durch den es allen Menschen ein bisschen bessergeht, China schrittweise die Führung übernimmt und alles andere ähnlich weiterläuft wie bisher."
Was bleibt zu tun, um der Weltendämmerung zu entgehen? Die Weltenlenker müssen die Klimaprobleme in den Griff bekommen. Denn Klimaveränderungen waren es, die im Laufe der Geschichte immer wieder zu Rückschlägen bei der Entwicklung führten. Das ist keine ganz neue Erkenntnis, aber Morris skizziert dies auf einigen Hundert Seiten detailliert nach.
Er erwähnt schließlich den sogenannten Stern-Bericht von 2006, der die wirtschaftlichen Folgen der globalen Erwärmung aufzeigte. Man kann dieses Dokument vermutlich nicht oft genug zitieren, wenn schon Präsidentschaftskandidaten der amerikanischen Republikaner die Ergebnisse nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Einer von Morris Blicken in die Zukunft macht Angst. Er befürchtet einen Atomkrieg und berichtet vom Fermi-Paradoxon. Irgendwann um das Jahr 1950 traf der Physiker Enrico Fermi drei seiner Kollegen zum Mittagessen. Man sprach über Außerirdische, und Fermi fragte: "Aber wo sind sie?" 17 Jahre später präsentierten die Astronomen Josef Schklowski und Carl Sagan eine ernüchternde Lösung. Wenn auch nur einer von 250 000 Sternen von einem bewohnten Planeten umkreist wird, dann, so berechneten sie, gäbe es in der Milchstraße potentiell eine Million extraterrestrische Zivilisationen: "Die Tatsache, dass wir keinerlei Spuren von ihnen haben, könne nur bedeuten, dass fortgeschrittene Zivilisationen sich stets selbst zerstören. Dies muss jeweils innerhalb von 100 Jahren nach der Erfindung von Atomwaffen geschehen, andernfalls hätten die Außerirdischen genügend Zeit gehabt, den Kosmos mit Signalen zu füllen, die wir auffangen könnten." Wenn wir dieses Argument auf unseren eigenen Planeten anwenden, dann spräche alles für eine Weltendämmerung im Jahr 2045, dem 100. Jahrestag der Bomben über Hiroshima und Nagasaki. Fünf Jahre vorher wird das Bruttoinlandsprodukt Chinas das der Vereinigten Staaten von Amerika übertreffen. In den letzten fünf Jahren auf diesem Planeten wird dann wieder der Osten führen.
JOCHEN ZENTHÖFER.
Ian Morris: Wer regiert die Welt?
Campus Verlag. Frankfurt am Main 2011. 656 Seiten. 24,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Strategie für die Zeit nach der Industriegesellschaft fehlt
Für dieses Buch braucht der Leser viel, viel Zeit. Zu überwinden sind 600 engbedruckte, faktenreiche Seiten Papier: mehr Stoff als in einem ganzen Semester politischer Geschichte! Dafür begleitet dieses "opus magnum" seinen Leser auch eine lange Zeit: Es beginnt im Jahre 7500 vor Christus und endet im Jahr 2045. Beantwortet wird die Frage, wer zu welcher Zeit die Weltentwicklung angeführt hat - und anführen wird.
Im Rennen sind zwei sogenannte "Kerngebiete": der Westen (ursprünglich das Gebiet des Mittleren und Nahen Ostens, später erweitert nach Europa, inzwischen Nordamerika) und der Osten (China). Zunächst führte der Westen, bis er um das Jahr 550 die Führung an den Osten abgeben musste, der sie dann anschließend 1200 Jahre lang innehatte. Seit dem 18. Jahrhundert dominiert also wieder der Westen.
Ian Morris ist gebürtiger Brite und seit zwanzig Jahren Historiker und Archäologe an den Universitäten Chicago und Stanford. Sein Werk, zunächst - natürlich - in Amerika erschienen, ist vielfach gelobt worden. Es hat aber auch etwas Verstörendes an sich: Wie kann ein einzelner Mensch eine solch interdisziplinäre und umfassende Theorie der Weltgeschichte schreiben?
Es handelt sich ohne Zweifel um ein Werk, über das noch in Jahrzehnten gesprochen werden wird. Auch deshalb, weil es einen Blick in die Zukunft wirft: "Die nächsten 40 Jahre werden die bedeutsamsten der Weltgeschichte sein." Und Morris - der sich ansonsten Superlativen enthält - beschreibt auch sachkundig, weshalb er das so sieht: "Entweder wir werden bald eine Transformation in Gang setzen, die die industrielle Revolution weit in den Schatten stellen und die meisten unserer aktuellen Probleme in Wohlgefallen auflösen wird; oder wir stolpern in einen Zusammenbruch, wie es bislang keinen gab. Schwer zu sagen, wie irgendein mittlerer Weg funktionieren soll - ein Kompromiss, durch den es allen Menschen ein bisschen bessergeht, China schrittweise die Führung übernimmt und alles andere ähnlich weiterläuft wie bisher."
Was bleibt zu tun, um der Weltendämmerung zu entgehen? Die Weltenlenker müssen die Klimaprobleme in den Griff bekommen. Denn Klimaveränderungen waren es, die im Laufe der Geschichte immer wieder zu Rückschlägen bei der Entwicklung führten. Das ist keine ganz neue Erkenntnis, aber Morris skizziert dies auf einigen Hundert Seiten detailliert nach.
Er erwähnt schließlich den sogenannten Stern-Bericht von 2006, der die wirtschaftlichen Folgen der globalen Erwärmung aufzeigte. Man kann dieses Dokument vermutlich nicht oft genug zitieren, wenn schon Präsidentschaftskandidaten der amerikanischen Republikaner die Ergebnisse nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Einer von Morris Blicken in die Zukunft macht Angst. Er befürchtet einen Atomkrieg und berichtet vom Fermi-Paradoxon. Irgendwann um das Jahr 1950 traf der Physiker Enrico Fermi drei seiner Kollegen zum Mittagessen. Man sprach über Außerirdische, und Fermi fragte: "Aber wo sind sie?" 17 Jahre später präsentierten die Astronomen Josef Schklowski und Carl Sagan eine ernüchternde Lösung. Wenn auch nur einer von 250 000 Sternen von einem bewohnten Planeten umkreist wird, dann, so berechneten sie, gäbe es in der Milchstraße potentiell eine Million extraterrestrische Zivilisationen: "Die Tatsache, dass wir keinerlei Spuren von ihnen haben, könne nur bedeuten, dass fortgeschrittene Zivilisationen sich stets selbst zerstören. Dies muss jeweils innerhalb von 100 Jahren nach der Erfindung von Atomwaffen geschehen, andernfalls hätten die Außerirdischen genügend Zeit gehabt, den Kosmos mit Signalen zu füllen, die wir auffangen könnten." Wenn wir dieses Argument auf unseren eigenen Planeten anwenden, dann spräche alles für eine Weltendämmerung im Jahr 2045, dem 100. Jahrestag der Bomben über Hiroshima und Nagasaki. Fünf Jahre vorher wird das Bruttoinlandsprodukt Chinas das der Vereinigten Staaten von Amerika übertreffen. In den letzten fünf Jahren auf diesem Planeten wird dann wieder der Osten führen.
JOCHEN ZENTHÖFER.
Ian Morris: Wer regiert die Welt?
Campus Verlag. Frankfurt am Main 2011. 656 Seiten. 24,90 Euro
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A provocative and extraordinary contribution to wide-screen comparative history... a true banquet of ideas Boyd Tonkin Independent