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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Zusammen mit Karl-Ove Knausgård steht er für die neue norwegische Literatur: Tomas Espedal setzt mit "Wider die Kunst" sein hochkonzentriertes autobiographisches Romanprojekt fort.
Von Julia Encke
Es gibt in einem der Romane des norwegischen Schriftstellers Tomas Espedal eine Szene, in der er beschreibt, wie er mit seiner Freundin im Bett liegt und beide jeweils ein Exemplar eines Knausgård-Romans in den Händen halten: "Hast du das schon gelesen? Das ist ja ganz unglaublich, dass er sich das traut", sagt die Freundin und spricht damit nicht über irgendeinen Autor, sondern über einen Freund. Denn der vierundfünfzigjährige Espedal und sein sieben Jahre jüngerer Schriftstellerkollege Karl-Ove Knausgård kennen sich gut. Früher haben sie zusammen in Bergen an der Akademie für Schreibkunst studiert, haben sich angefreundet und werden jetzt immer wieder in einem Atemzug genannt: Knausgård und Espedal stehen für die neue norwegische Literatur, die im Moment überall gefeiert wird, eine autobiographische Art des Schreibens, wie sie radikaler nicht sein könnte. Erklärtermaßen und unverhohlen schreiben beide über ihr eigenes Leben.
Doch so ähnlich ihr Zugang auf den ersten Blick erscheint - ihre Bücher sind grundverschieden. Knausgård, dessen fünfter Band seines autobiographischen Großkampfprojekts "Min Kamp", "Träumen", gerade in der deutschen Übersetzung erschienen ist (F.A.Z. vom 21. September) und der bis vor wenigen Tagen im deutschsprachigen Raum auch auf großer Lesereise war, erzählt so detailliert und so ausführlich wie möglich aus seinem Leben. Jede Geste, jede noch so nebensächliche Einzelheit buchstabiert er aus, worin man die Absicht sehen kann, das Banale ins Extreme zu führen, so sehr, dass es sich in sein Gegenteil verkehren kann. Tomas Espedal dagegen verfährt umgekehrt. Er verdichtet und konzentriert Ereignisse, Reflexionen, Wahrnehmungen und Erinnerungen. Was ihn interessiert, ist die Essenz.
Für all jene, die Knausgård mit Faszination und Interesse begegnen, aber dann doch irgendwann abspringen, weil sie glauben, begriffen zu haben, was der Punkt ist, oder weil sie einfach nicht durchhalten, ist Tomas Espedal deshalb der richtige Kandidat. Seine Sprache ist eine Art beiläufige Poesie, die einen verzaubert beim Lesen, weil sie so unaufgeregt und selbstverständlich daherkommt und doch imstande ist, alles zu sagen. "Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen" und "Wider die Natur" hießen die Bücher, die der Verlag Matthes & Seitz bisher auf Deutsch herausgebracht hat. Jetzt ist der neue Band, "Wider die Kunst", erschienen, in welchem es um die Erfahrung von gleich zwei Todesfällen geht: Erst stirbt Espedals Mutter, kurz darauf seine Frau Agnete, von der er getrennt lebt. Zwei gemeinsame Töchter haben sie, die eine ist bereits aus dem Haus. Der jüngeren, fünfzehnjährigen zuliebe zieht er in das einsame Haus der Exfrau auf einer Insel vor Bergen.
Es ist manchmal schwierig, den Bewegungen dieser Erzählung zu folgen, weil sie niemals chronologisch verfährt, sondern zwischen Familiengeschichte, Erinnerungen an die Kindheit und Gegenwart hin und her springt. Das Meditative der Sprachmelodie ist es, die den Zusammenhang herstellt. Und es sind einzelne Beschreibungen, die einen von Beginn an für dieses Buch einnehmen, insbesondere all jene, die die Beziehung von Vater und Tochter betreffen: Espedal erzählt, wie er, nachdem seine Tochter die Mutter verloren hat, versucht, ihr ein guter Vater zu sein, und wie er zugleich auch noch versucht, ihr eine Art Mutter zu sein - und wie sich dies als ein großer Fehler herausstellt, den er "mit aller Kraft und unbeugsamem Willen" begeht. Er erzählt, wie er mit dem Schreiben aufhört, einige Freundschaften beendet und sich in dem neuen Zuhause einrichtet. Wie er zu Hause bleibt, aufräumt und unermüdlich die Zimmer putzt und kocht. Bis das Kind, das nicht nur seine Mutter, sondern jetzt auch noch den Vater vermisst, irgendwann zu ihm sagt: "Warum bist zu immer zu Hause? Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen, einen Tag alleine lassen, für mich, wann gehst du endlich mal raus?"
Espedal beschreibt, wie die Tochter zur Schule geht und er dasitzt und darauf wartet, dass sie nach Hause kommt - und gleichzeitig weiß, dass sie eines Tages anrufen und sagen wird, dass sie bei einer Freundin übernachtet oder bei einem Freund und später in die Stadt ziehen und dann wieder in eine andere Stadt ziehen wird. "Ich warte darauf, verlassen zu werden", heißt die mit diesen Gedanken einhergehende Erkenntnis, die so unaufgeregt daherkommt und zugleich alles erschüttert. Denn das ist die Kunst, in welche Tomas Espedal das Leben verwandelt: "Ich mache mich darauf gefasst, allein zu sein. Die Morgensonne wärmt die Holzwände des Hauses. Das weiße Haus. Das weiße Bett. Ich warte auf den ersten Satz: ,Dann strömt das Licht plötzlich herein und verbirgt uns ganz.'"
Wenn es - mittendrin und beiläufig - in "Wider die Kunst" an einer Stelle heißt: "Lange Zeit hindurch hatte ich keinen anderen Wunsch als früh ins Bett zu gehen und lange liegen zu bleiben", dann kann man darin natürlich eine augenzwinkernde Anspielung auf den berühmten ersten Satz von Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" sehen: "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen." Doch vielleicht es ist nicht einmal augenzwinkernd gemeint. Denn so sehr bei Proust die durch den Geschmack von Lindenblütentee und Madeleine-Keks ausgelöste unwillkürliche Erinnerung eine Verdichtung anstrebt, so desaströs gerät in der "Suche nach der verlorenen Zeit" das Erzählen als ein Schreiben ohne Ende mit der Zeit völlig aus den Fugen. Marcel Proust ist damit beides, ausufernd und um Konzentration bemüht. Er ist Tomas Espedal und Karl-Ove Knausgård in einem.
Tomas Espedal: "Wider die Kunst (Die Notizbücher)".
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2015. 195 S., geb., 19,90 [Euro].
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