Das bisher persönlichste Buch des chinesischen Nobelpreisträgers. Mo Yan erzählt von seiner Jugend, den Hindernissen auf seinem beruflichen Weg und vom Leben unter dem kommunistischen Regime. Als Junge ist Mo Yan von der Schule geflogen und auch seinen Traum, LKW-Fahrer zu werden, konnte er nicht realisieren. Also geht er zur Armee, beginnt irgendwann zu schreiben und bekommt schließlich die Möglichkeit zu studieren. Während er ein international angesehener Schriftsteller wird, macht sein Klassenkamerad als Geschäftsmann ein Vermögen. Dessen große Liebe aber geht an den gesellschaftlichen Verhältnissen zugrunde.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Schreibt Mo Yan nun mit dem oder gegen das System? Mark Siemons ist sich da nicht so sicher. Auch in diesem Band findet er Geschichten von unten, die mehr am Überlebenskampf kleiner Leute als anhand von Ideen zeigen, was der Kommunismus war, und einen Autor, der sich jeglicher theoretischer Einlassung und Beurteilung enthält. So weit, so gut, meint Siemons. Ein egalitärer Schreibansatz, der dem Rezensenten hier allerdings insofern seltsam vorkommt, als ihm die Auswahl der Stoffe doch recht willkürlich erscheint und frei von jeder grundsätzlichen Auseinandersetzung. Die aber hält Siemons für notwendig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.06.2014Aus der
Froschperspektive
Brillant: Mo Yans Erinnerungen an seine Jugend
als Sohn eines chinesischen Mittelbauern
VON TILMAN SPENGLER
Wenn ein Schriftsteller aus der VR China um Auskunft über „Die großen Veränderungen des chinesischen Kommunismus in den letzten dreißig Jahren“ gebeten wird, erwartet das Publikum nicht unbedingt einen Knüller. Gut, dieser Autor, Mo Yan, wurde 2012 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er ist aber auch im Vorstand des Schriftstellerverbandes und seit Langem Mitglied der Kommunistischen Partei des Landes. Literaten werden in der Volksrepublik seit jeher an engen Leinen geführt – die kritische Untersuchung des eigenen Herrschaftssystems zählt nicht zu den Disziplinen, auf denen das Auge dieser Herrschaft mit Wohlgefallen ruht. Viele Kollegen können das leider bezeugen.
Auch Mo Yan, dessen landesweite Popularität mit dem Roman „Das rote Kornfeld“ (1987) begann, hat, wenn auch vergleichsweise milde, erfahren, wie leicht der Schriftsteller in politische Abwindzonen geraten kann. In seiner Heimat wurde er zur Selbstkritik genötigt: Staatliche Zensur und andere Literaturaufseher kritisierten sein Bild der chinesischen Geschichte sowie der Zustände „hinten in der Provinz“ und bemängelten ein durchgehendes Fehlen des Positiven. Im Ausland und von Exilchinesen wurden ihm dagegen Schönfärberei und Bauernschläue vorgeworfen. Hier werde einer geehrt, der sich vor der Konfrontation drücke, hieß es über seine Romane, als er den Nobelpreis erhielt. Ein in der Diktatur erfolgreicher Schriftsteller, dessen Werke sich durch Buchhandlungen und nicht im Untergrund bewegten, dürfe als glaubwürdiger Künstler nicht gelten.
Und nun also des Autors Auskünfte zum Thema: „Die großen Veränderungen des chinesischen Kommunismus . . .“, ein Band von wenig mehr als hundert Seiten, hervorragend übersetzt von Martina Hasse, deren Kunst zuletzt bei Mo Yans Roman „Die Frösche“ erfreute. Wie das Blatt sich wendet, lautet der deutsche Titel – auf Chinesisch, wo die Schrift im Original erschien, heißt das Buch noch schlichter „bian“, also „Wandel“. Schon damit ist allem Pomp einer gesellschaftstheoretischen Reflexion viel überflüssiges Geleit entzogen.
„Bei diesem Text handelt es sich um meine Memoiren“, bekennt der Autor, um eine Lebensgeschichte als historische Deutung. Es handelt sich um ein brillantes, doch kleines Werk, so ist man genauso gespannt auf das, was erzählt, wie auf das, was nur angedeutet wird. Welche Spuren hinterlassen einschneidende politische Ereignisse im Leben eines Schriftstellers? Die Verfolgung von Intellektuellen etwa, revolutionäre Wirtschaftsreformen oder das Niederschlagen einer Protestbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens?
Mo Yan bewegt sich behände zwischen Minimalismus und Panorama und entwickelt noch das Aussparen zu einer hohen Kunst. Deutlicher als in diesen Memoiren ist über den blutigen Sommer des Jahres 1989 und die ängstliche Rolle unseres Autors nie geschwiegen worden. Aber deutlicher wurde auch selten geschildert, was es bedeutete, wenn in der streng hierarchischen Gesellschaft Chinas der 1960er-, 1970er-Jahre der Sohn eines Mittelbauern (eines „einfachen“, und eben nicht eines „armen“ oder eines „unteren“ Mittelbauern) versuchte, an einer Universität unterzukommen. Mo Yan lässt den Leser Schritt für Schritt an diesem, seinem Weg teilhaben, auf dem es schon ein enormer Etappengewinn ist, wenn es dem Höherstrebenden gelingt, auf einem völlig bedeutungslosen Posten bei der Armee unterzukommen.
Soziologen haben die Verschränkung der alten, der „feudalen“ Standesordnungen mit den nicht weniger autoritären „sozialistischen“ Strukturen im nachrevolutionären China schon häufiger zu ihrem Thema gemacht, aber wenig prägt sich dem Gedächtnis tiefer ein als Mo Yans ganz flüchtige Skizze der Macht des „dorfältesten Parteimitglieds“, der Mutter eines armen Lohnbauern. Oder der unterschiedlichen Form des Protestes, wenn der rücksichtlose Chauffeur eines Armeefahrzeugs ein Huhn plattfährt. Oder der Macht eines Lehrers, der den kleinen Mo Yan verdächtigt, ihm den Spitznamen „Großmaul“ angehängt zu haben.
Voraussehbar ist unter diesen Verhältnissen natürlich nur das böse Ende. Allerdings kann man dieses Schicksal aus mancherlei Perspektive betrachten: Für den berühmten Intellektuellen war es ein böses Ende, wenn er sich als „Rechtsabweichler“ im abgelegenen Winkel der ärmsten Provinz als Lehrer wiederfand. Für die Schüler dort, man kann das Dialektik nennen, war es eine einmalige Gelegenheit, zu erahnen, was akademisches Leben bedeutet.
Die Rollen des Romanciers, des Chronisten und des ironisch historischen Deuters lösen sich hier ineinander auf. Der Leser begreift, dass die eingangs erwähnte Bauernschläue eine der wenigen verlässlichen Strategien, vielleicht sogar die Conditio sine qua non bedeutet für das Überleben in dieser Gesellschaft. Das betrifft die Elemente, die man „sozialistisch“ nennen mag, genauso wie die Selbstbehauptung im Kapitalismus mit chinesischem Antlitz. Wo Macht Regeln setzt, auf die kein Verlass ist, muss spekuliert werden. Und wo spekuliert wird, findet der begnadete Erzähler Mo Yan seine reichste Futterkrippe.
Den Veränderungen nach Einführung der Wirtschaftsreformen widmet Mo Yan naturgemäß den größeren Teil seines Staunens. Damit spiegelt er wohl wider, was auch die meisten seiner chinesischen Leser bewegt, denen der ökonomische Wandel allemal näher am Herzen liegt als die Verteilung der politischen Gewalt. Was nun nicht bedeutet, dass Letztere in diesem Buch unkritisiert davonkäme.
Nachzulesen, wie sehr dieser Autor aus dem Leben schöpft, wie sehr er seinem eigenen Realismus verpflichtet ist, bereitet ein ganz besonderes Vergnügen. Hier werden sie „in echt“ vorgestellt, die Personen, die wir aus den Romanen „Frösche“, „Der Überdruss“ oder „Große Brüste und breites Gesäß“ in ihrer literarischen Verkleidung kennengelernt haben. Gestalten, die aus der jüngeren Geschichte Chinas in die Gegenwart hineinreichen und auf ihre sehr individuelle Weise Gewinner und Verlierer des Wandels verkörpern. Kritisch? Jawohl, sehr nah am Leben. Überzeichnet? Nur soweit es zur besseren Wahrnehmung angezeigt ist. Klamauk? Nicht bei diesem Künstler. So wünscht man sich Aufklärung in kleinster Form.
Mo Yan: Wie das Blatt sich wendet. Aus dem Chinesischen von Martina Hasse. Carl Hanser Verlag, 2014. 111 Seiten, 12,90 Euro.
Der Schriftsteller und Sinologe Tilman Spengler publizierte unlängst die 2. erweiterte Auflage des von ihm edierten Bildbandes mit Werken von Yongbo Zhao (Klinkhardt & Biermann, 11.90 Euro).
Ohne Bauernschläue kam man
auch in der sozialistischen
Gesellschaft schwerlich aus
Den meisten Chinesen liege der ökonomische Wandel „allemal näher am Herzen“ als die Verteilung der politischen Gewalt, schreibt Tilman Spengler .
Zeichnung: Schopf
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Froschperspektive
Brillant: Mo Yans Erinnerungen an seine Jugend
als Sohn eines chinesischen Mittelbauern
VON TILMAN SPENGLER
Wenn ein Schriftsteller aus der VR China um Auskunft über „Die großen Veränderungen des chinesischen Kommunismus in den letzten dreißig Jahren“ gebeten wird, erwartet das Publikum nicht unbedingt einen Knüller. Gut, dieser Autor, Mo Yan, wurde 2012 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er ist aber auch im Vorstand des Schriftstellerverbandes und seit Langem Mitglied der Kommunistischen Partei des Landes. Literaten werden in der Volksrepublik seit jeher an engen Leinen geführt – die kritische Untersuchung des eigenen Herrschaftssystems zählt nicht zu den Disziplinen, auf denen das Auge dieser Herrschaft mit Wohlgefallen ruht. Viele Kollegen können das leider bezeugen.
Auch Mo Yan, dessen landesweite Popularität mit dem Roman „Das rote Kornfeld“ (1987) begann, hat, wenn auch vergleichsweise milde, erfahren, wie leicht der Schriftsteller in politische Abwindzonen geraten kann. In seiner Heimat wurde er zur Selbstkritik genötigt: Staatliche Zensur und andere Literaturaufseher kritisierten sein Bild der chinesischen Geschichte sowie der Zustände „hinten in der Provinz“ und bemängelten ein durchgehendes Fehlen des Positiven. Im Ausland und von Exilchinesen wurden ihm dagegen Schönfärberei und Bauernschläue vorgeworfen. Hier werde einer geehrt, der sich vor der Konfrontation drücke, hieß es über seine Romane, als er den Nobelpreis erhielt. Ein in der Diktatur erfolgreicher Schriftsteller, dessen Werke sich durch Buchhandlungen und nicht im Untergrund bewegten, dürfe als glaubwürdiger Künstler nicht gelten.
Und nun also des Autors Auskünfte zum Thema: „Die großen Veränderungen des chinesischen Kommunismus . . .“, ein Band von wenig mehr als hundert Seiten, hervorragend übersetzt von Martina Hasse, deren Kunst zuletzt bei Mo Yans Roman „Die Frösche“ erfreute. Wie das Blatt sich wendet, lautet der deutsche Titel – auf Chinesisch, wo die Schrift im Original erschien, heißt das Buch noch schlichter „bian“, also „Wandel“. Schon damit ist allem Pomp einer gesellschaftstheoretischen Reflexion viel überflüssiges Geleit entzogen.
„Bei diesem Text handelt es sich um meine Memoiren“, bekennt der Autor, um eine Lebensgeschichte als historische Deutung. Es handelt sich um ein brillantes, doch kleines Werk, so ist man genauso gespannt auf das, was erzählt, wie auf das, was nur angedeutet wird. Welche Spuren hinterlassen einschneidende politische Ereignisse im Leben eines Schriftstellers? Die Verfolgung von Intellektuellen etwa, revolutionäre Wirtschaftsreformen oder das Niederschlagen einer Protestbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens?
Mo Yan bewegt sich behände zwischen Minimalismus und Panorama und entwickelt noch das Aussparen zu einer hohen Kunst. Deutlicher als in diesen Memoiren ist über den blutigen Sommer des Jahres 1989 und die ängstliche Rolle unseres Autors nie geschwiegen worden. Aber deutlicher wurde auch selten geschildert, was es bedeutete, wenn in der streng hierarchischen Gesellschaft Chinas der 1960er-, 1970er-Jahre der Sohn eines Mittelbauern (eines „einfachen“, und eben nicht eines „armen“ oder eines „unteren“ Mittelbauern) versuchte, an einer Universität unterzukommen. Mo Yan lässt den Leser Schritt für Schritt an diesem, seinem Weg teilhaben, auf dem es schon ein enormer Etappengewinn ist, wenn es dem Höherstrebenden gelingt, auf einem völlig bedeutungslosen Posten bei der Armee unterzukommen.
Soziologen haben die Verschränkung der alten, der „feudalen“ Standesordnungen mit den nicht weniger autoritären „sozialistischen“ Strukturen im nachrevolutionären China schon häufiger zu ihrem Thema gemacht, aber wenig prägt sich dem Gedächtnis tiefer ein als Mo Yans ganz flüchtige Skizze der Macht des „dorfältesten Parteimitglieds“, der Mutter eines armen Lohnbauern. Oder der unterschiedlichen Form des Protestes, wenn der rücksichtlose Chauffeur eines Armeefahrzeugs ein Huhn plattfährt. Oder der Macht eines Lehrers, der den kleinen Mo Yan verdächtigt, ihm den Spitznamen „Großmaul“ angehängt zu haben.
Voraussehbar ist unter diesen Verhältnissen natürlich nur das böse Ende. Allerdings kann man dieses Schicksal aus mancherlei Perspektive betrachten: Für den berühmten Intellektuellen war es ein böses Ende, wenn er sich als „Rechtsabweichler“ im abgelegenen Winkel der ärmsten Provinz als Lehrer wiederfand. Für die Schüler dort, man kann das Dialektik nennen, war es eine einmalige Gelegenheit, zu erahnen, was akademisches Leben bedeutet.
Die Rollen des Romanciers, des Chronisten und des ironisch historischen Deuters lösen sich hier ineinander auf. Der Leser begreift, dass die eingangs erwähnte Bauernschläue eine der wenigen verlässlichen Strategien, vielleicht sogar die Conditio sine qua non bedeutet für das Überleben in dieser Gesellschaft. Das betrifft die Elemente, die man „sozialistisch“ nennen mag, genauso wie die Selbstbehauptung im Kapitalismus mit chinesischem Antlitz. Wo Macht Regeln setzt, auf die kein Verlass ist, muss spekuliert werden. Und wo spekuliert wird, findet der begnadete Erzähler Mo Yan seine reichste Futterkrippe.
Den Veränderungen nach Einführung der Wirtschaftsreformen widmet Mo Yan naturgemäß den größeren Teil seines Staunens. Damit spiegelt er wohl wider, was auch die meisten seiner chinesischen Leser bewegt, denen der ökonomische Wandel allemal näher am Herzen liegt als die Verteilung der politischen Gewalt. Was nun nicht bedeutet, dass Letztere in diesem Buch unkritisiert davonkäme.
Nachzulesen, wie sehr dieser Autor aus dem Leben schöpft, wie sehr er seinem eigenen Realismus verpflichtet ist, bereitet ein ganz besonderes Vergnügen. Hier werden sie „in echt“ vorgestellt, die Personen, die wir aus den Romanen „Frösche“, „Der Überdruss“ oder „Große Brüste und breites Gesäß“ in ihrer literarischen Verkleidung kennengelernt haben. Gestalten, die aus der jüngeren Geschichte Chinas in die Gegenwart hineinreichen und auf ihre sehr individuelle Weise Gewinner und Verlierer des Wandels verkörpern. Kritisch? Jawohl, sehr nah am Leben. Überzeichnet? Nur soweit es zur besseren Wahrnehmung angezeigt ist. Klamauk? Nicht bei diesem Künstler. So wünscht man sich Aufklärung in kleinster Form.
Mo Yan: Wie das Blatt sich wendet. Aus dem Chinesischen von Martina Hasse. Carl Hanser Verlag, 2014. 111 Seiten, 12,90 Euro.
Der Schriftsteller und Sinologe Tilman Spengler publizierte unlängst die 2. erweiterte Auflage des von ihm edierten Bildbandes mit Werken von Yongbo Zhao (Klinkhardt & Biermann, 11.90 Euro).
Ohne Bauernschläue kam man
auch in der sozialistischen
Gesellschaft schwerlich aus
Den meisten Chinesen liege der ökonomische Wandel „allemal näher am Herzen“ als die Verteilung der politischen Gewalt, schreibt Tilman Spengler .
Zeichnung: Schopf
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.03.2014Reise eines alten Armeelastwagens durch die chinesische Geschichte
Was war der Kommunismus? In China ist das eine heikle Frage, der Nobelpreisträger Mo Yan beantwortet sie listig, doppelbödig und autobiographisch grundiert
Diese kleine Erzählung aus dem Leben des Literaturnobelpreisträgers Mo Yan ist listig. Sie beantwortet die Frage: "Was war der Kommunismus?" So lautet die Leitfrage der Buchreihe, die Tariq Ali für den britisch-amerikanisch-indischen Verlag Seagull betreut. Mo Yan hat seine Erzählung für die Reihe 2010 geschrieben und seine Antwort gegeben, indem er den Kommunismus fast gar nicht erwähnt, sich dafür aber umso mehr über einen ausgemusterten Armeelastwagen aus sowjetischer Produktion auslässt, einen "Wagen mit einer glorreichen Vergangenheit", der im Dorf des sich an seine Kindheit erinnernden Erzählers großes Prestige genießt. Bevor er verschrottet wird, spielt er noch eine letzte Rolle in Zhang Yimous Verfilmung von Mo Yans Roman "Das rote Kornfeld", wo man ihn als japanischen Laster verkleidet.
Rund um das alte Gefährt gruppiert Mo Yan die sich zwischen den siebziger Jahren und heute lose überkreuzenden Schicksale dreier Klassenkameraden: das von Lu Wenli, der schönen Tochter des Lastwagenfahrers, die einen verkommenen Funktionärssohn heiratet und nach dessen Tod ihren ehemaligen Lehrer, der dann ebenfalls stirbt; das des draufgängerischen He Zhiwu, der den Lastwagen kauft, um Lu Wenli zu erobern, und später viel Geld mit nicht immer einwandfreien Methoden macht; und schließlich das Schicksal eines gewissen Mo Yans, der bei der Armee selbst Lastwagenfahrer werden will, um dadurch seinem Bauernschicksal zu entrinnen, dann aber, als das nicht klappt, anfängt, Geschichten und Romane zu schreiben.
Statt theoretischer Erörterungen über das System präsentiert Mo Yan also ein weiteres Mal, was sich an Aberwitzigem, Maßlosem, Chaotischem hinter der Ordnung und Askese vortäuschenden Kulisse der Ideologie tat und tut. Das Hauptprinzip dieses antiabstrakten Schreibprogramms ist, ganz innerhalb der Erwartungs- und Erfahrungshorizonte der Menschen zu verbleiben, von denen die Rede ist, und sich aller Urteile aus einem intellektuellen Hochstand zu enthalten.
Auch diesmal, da Mo Yan direkt aus seinem Leben erzählt, ist der Ertrag des Verfahrens erst einmal beträchtlich. Wie sich die Zeiten zwischen Kulturrevolution und dem Partei-Kapitalismus von heute geändert haben, wird hier nicht durch Ideen plastisch, sondern durch die gewandelten Strategien des Überlebenskampfes. Am einen Ende der Geschichte steht der Vater des Autors, ein in sich verschlossener Bauer, enttäuscht von den erfolglosen ersten Versuchen des Sohns, bei der Armee befördert zu werden: "Junge, dein Vater hat der kommunistischen Partei sein ganzes Leben treu gedient. Ich habe immer davon geträumt, Parteimitglied zu werden. Aber ich habe es nicht geschafft. Jetzt seid ihr Kinder meine Hoffnung, denn ich werde an meinem Lebenslauf nichts mehr ändern können."
Am anderen Ende will die Klassenkameradin Lu Wenli, die mittlerweile unglücklich geworden und in die Breite gegangen ist, dem berühmt gewordenen Schriftsteller in seinem Hotel einen Geldumschlag dafür geben, dass er seine Beziehungen spielen lässt, damit ihre Tochter in eine renommierte Opernschulklasse aufgenommen wird. Wie weit der Autor davon entfernt ist, das eine oder das andere zu beurteilen, geschweige denn zu verurteilen, sieht man daran, dass er im einen Fall tatsächlich Parteimitglied wurde (was aber in der Erzählung nicht vorkommt) und im anderen - fiktiven - Fall das Geld nach kurzem Überlegen tatsächlich annimmt.
Dass die Erzählung ausgerechnet mit dieser amoralischen Anekdote abrupt endet, kann man für eine zusätzliche Bekräftigung des egalitären Schreibansatzes halten, der noch nicht einmal in ethischer Hinsicht eine Sonderstellung einnehmen will, auf jeden Fall aber jede Präzeptorenrolle von sich weist. Und doch stimmt bei diesem Text etwas nicht mit der Perspektive von unten. In Wirklichkeit scheint diese Behauptung bloß die Rechtfertigung für eine recht willkürliche Auswahl dessen abzugeben, was erzählt wird. Mo Yan berichtet, wie er bei der Armee zum politischen Instrukteur ernannt wurde, der Berufsschulrekruten in Philosophie und politischer Ökonomie unterrichtete. Ganz so fern von der Theorie war also auch das Leben dieses Bauernjungen schon in jungen Jahren nicht! Doch er verzichtet darauf, zu erzählen, was er damals darüber dachte und wie er es später mit dem Zeitenlauf in ein Verhältnis setzte. "Allerdings fehlte mir der Hintergrund, solches Wissen zu vermitteln", lautet sein einziger Kommentar dazu.
Ende 1988 erhält er einen Studienplatz für Literatur an einer Pekinger Universität. Die Pekinger Studentenbewegung von 1989 und deren blutige Niederschlagung bekommt er also aus nächster Nähe mit, doch er erwähnt das Ereignis nur als Begründung dafür, dass er nicht mehr Zeit zum Englischlernen hatte: "Die Lage spitzte sich zu. Niemand hatte den Kopf mehr frei für den Unterricht." Wovon der Kopf der Studenten und wahrscheinlich auch seiner voll war - kein Wort davon.
In solchen Passagen erscheint das Programm der Theorie-Enthaltung aus Gründen der Basisnähe bloß als Konstruktion im Dienst des Ausweichens. Eine wirkliche Geschichte von unten muss manchmal eben auch die Auseinandersetzung mit Grundsätzlichem einschließen, durch die sie angetrieben wird. Das etwas Unheimliche ist, dass Mo Yan sich kaum Mühe gibt, das zu verbergen. Sein ursprüngliches Vorhaben, "nur das, was ich wollte, und nur so, wie ich wollte, zu schreiben", habe sich als unmöglich herausgestellt, bemerkt er in der Einleitung. Statt das näher zu erläutern, lobt er den Verleger, der es hingekriegt habe, ihn auf einem Foto "ziemlich cool" erscheinen zu lassen. Diesen Autor, soll das wohl heißen, soll man sich nicht als zu überlegen vorstellen, eher als jemanden, der fern vom westlichen Idealbild des unabhängig-souveränen Intellektuellen in Anbetracht des auf ihm lastenden Drucks ins Schwitzen gerät. Mo Yan mutet dem Leser zu, sogar beim Ausgesparten die traditionelle Perspektive kleiner Leute einzunehmen, die wie selbstverständlich mit Redeverboten von oben rechnen. Insofern ist die Zensur tatsächlich ein ständig präsenter Teil dieser Literatur.
Spätestens seit dem Literaturnobelpreis umgibt Mo Yan, der sich keine öffentliche Kritik am System gestattet, der Verdacht, ein Staatsschriftsteller zu sein. Doch in Romanen wie zuletzt "Frösche" hat er unter Beweis gestellt, wie sein überbordendes, phantasmagorisches, scheinbar abschweifendes Erzählen durchaus zielbewusst und schonungslos Auswüchse des Systems wie die staatlichen Zwangsabtreibungen sezieren kann. Die List des Autors steht da im Dienst einer Unterwanderung der offiziellen Sprachregelungen. Doch bei der Beschreibung des eigenen Lebens stößt die List an ihre Grenzen.
MARK SIEMONS
Mo Yan: "Wie das Blatt sich wendet". Eine Erzählung aus meinem Leben.
Aus dem Chinesischen von Martina Haase. Carl Hanser Verlag, München 2014. 111 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was war der Kommunismus? In China ist das eine heikle Frage, der Nobelpreisträger Mo Yan beantwortet sie listig, doppelbödig und autobiographisch grundiert
Diese kleine Erzählung aus dem Leben des Literaturnobelpreisträgers Mo Yan ist listig. Sie beantwortet die Frage: "Was war der Kommunismus?" So lautet die Leitfrage der Buchreihe, die Tariq Ali für den britisch-amerikanisch-indischen Verlag Seagull betreut. Mo Yan hat seine Erzählung für die Reihe 2010 geschrieben und seine Antwort gegeben, indem er den Kommunismus fast gar nicht erwähnt, sich dafür aber umso mehr über einen ausgemusterten Armeelastwagen aus sowjetischer Produktion auslässt, einen "Wagen mit einer glorreichen Vergangenheit", der im Dorf des sich an seine Kindheit erinnernden Erzählers großes Prestige genießt. Bevor er verschrottet wird, spielt er noch eine letzte Rolle in Zhang Yimous Verfilmung von Mo Yans Roman "Das rote Kornfeld", wo man ihn als japanischen Laster verkleidet.
Rund um das alte Gefährt gruppiert Mo Yan die sich zwischen den siebziger Jahren und heute lose überkreuzenden Schicksale dreier Klassenkameraden: das von Lu Wenli, der schönen Tochter des Lastwagenfahrers, die einen verkommenen Funktionärssohn heiratet und nach dessen Tod ihren ehemaligen Lehrer, der dann ebenfalls stirbt; das des draufgängerischen He Zhiwu, der den Lastwagen kauft, um Lu Wenli zu erobern, und später viel Geld mit nicht immer einwandfreien Methoden macht; und schließlich das Schicksal eines gewissen Mo Yans, der bei der Armee selbst Lastwagenfahrer werden will, um dadurch seinem Bauernschicksal zu entrinnen, dann aber, als das nicht klappt, anfängt, Geschichten und Romane zu schreiben.
Statt theoretischer Erörterungen über das System präsentiert Mo Yan also ein weiteres Mal, was sich an Aberwitzigem, Maßlosem, Chaotischem hinter der Ordnung und Askese vortäuschenden Kulisse der Ideologie tat und tut. Das Hauptprinzip dieses antiabstrakten Schreibprogramms ist, ganz innerhalb der Erwartungs- und Erfahrungshorizonte der Menschen zu verbleiben, von denen die Rede ist, und sich aller Urteile aus einem intellektuellen Hochstand zu enthalten.
Auch diesmal, da Mo Yan direkt aus seinem Leben erzählt, ist der Ertrag des Verfahrens erst einmal beträchtlich. Wie sich die Zeiten zwischen Kulturrevolution und dem Partei-Kapitalismus von heute geändert haben, wird hier nicht durch Ideen plastisch, sondern durch die gewandelten Strategien des Überlebenskampfes. Am einen Ende der Geschichte steht der Vater des Autors, ein in sich verschlossener Bauer, enttäuscht von den erfolglosen ersten Versuchen des Sohns, bei der Armee befördert zu werden: "Junge, dein Vater hat der kommunistischen Partei sein ganzes Leben treu gedient. Ich habe immer davon geträumt, Parteimitglied zu werden. Aber ich habe es nicht geschafft. Jetzt seid ihr Kinder meine Hoffnung, denn ich werde an meinem Lebenslauf nichts mehr ändern können."
Am anderen Ende will die Klassenkameradin Lu Wenli, die mittlerweile unglücklich geworden und in die Breite gegangen ist, dem berühmt gewordenen Schriftsteller in seinem Hotel einen Geldumschlag dafür geben, dass er seine Beziehungen spielen lässt, damit ihre Tochter in eine renommierte Opernschulklasse aufgenommen wird. Wie weit der Autor davon entfernt ist, das eine oder das andere zu beurteilen, geschweige denn zu verurteilen, sieht man daran, dass er im einen Fall tatsächlich Parteimitglied wurde (was aber in der Erzählung nicht vorkommt) und im anderen - fiktiven - Fall das Geld nach kurzem Überlegen tatsächlich annimmt.
Dass die Erzählung ausgerechnet mit dieser amoralischen Anekdote abrupt endet, kann man für eine zusätzliche Bekräftigung des egalitären Schreibansatzes halten, der noch nicht einmal in ethischer Hinsicht eine Sonderstellung einnehmen will, auf jeden Fall aber jede Präzeptorenrolle von sich weist. Und doch stimmt bei diesem Text etwas nicht mit der Perspektive von unten. In Wirklichkeit scheint diese Behauptung bloß die Rechtfertigung für eine recht willkürliche Auswahl dessen abzugeben, was erzählt wird. Mo Yan berichtet, wie er bei der Armee zum politischen Instrukteur ernannt wurde, der Berufsschulrekruten in Philosophie und politischer Ökonomie unterrichtete. Ganz so fern von der Theorie war also auch das Leben dieses Bauernjungen schon in jungen Jahren nicht! Doch er verzichtet darauf, zu erzählen, was er damals darüber dachte und wie er es später mit dem Zeitenlauf in ein Verhältnis setzte. "Allerdings fehlte mir der Hintergrund, solches Wissen zu vermitteln", lautet sein einziger Kommentar dazu.
Ende 1988 erhält er einen Studienplatz für Literatur an einer Pekinger Universität. Die Pekinger Studentenbewegung von 1989 und deren blutige Niederschlagung bekommt er also aus nächster Nähe mit, doch er erwähnt das Ereignis nur als Begründung dafür, dass er nicht mehr Zeit zum Englischlernen hatte: "Die Lage spitzte sich zu. Niemand hatte den Kopf mehr frei für den Unterricht." Wovon der Kopf der Studenten und wahrscheinlich auch seiner voll war - kein Wort davon.
In solchen Passagen erscheint das Programm der Theorie-Enthaltung aus Gründen der Basisnähe bloß als Konstruktion im Dienst des Ausweichens. Eine wirkliche Geschichte von unten muss manchmal eben auch die Auseinandersetzung mit Grundsätzlichem einschließen, durch die sie angetrieben wird. Das etwas Unheimliche ist, dass Mo Yan sich kaum Mühe gibt, das zu verbergen. Sein ursprüngliches Vorhaben, "nur das, was ich wollte, und nur so, wie ich wollte, zu schreiben", habe sich als unmöglich herausgestellt, bemerkt er in der Einleitung. Statt das näher zu erläutern, lobt er den Verleger, der es hingekriegt habe, ihn auf einem Foto "ziemlich cool" erscheinen zu lassen. Diesen Autor, soll das wohl heißen, soll man sich nicht als zu überlegen vorstellen, eher als jemanden, der fern vom westlichen Idealbild des unabhängig-souveränen Intellektuellen in Anbetracht des auf ihm lastenden Drucks ins Schwitzen gerät. Mo Yan mutet dem Leser zu, sogar beim Ausgesparten die traditionelle Perspektive kleiner Leute einzunehmen, die wie selbstverständlich mit Redeverboten von oben rechnen. Insofern ist die Zensur tatsächlich ein ständig präsenter Teil dieser Literatur.
Spätestens seit dem Literaturnobelpreis umgibt Mo Yan, der sich keine öffentliche Kritik am System gestattet, der Verdacht, ein Staatsschriftsteller zu sein. Doch in Romanen wie zuletzt "Frösche" hat er unter Beweis gestellt, wie sein überbordendes, phantasmagorisches, scheinbar abschweifendes Erzählen durchaus zielbewusst und schonungslos Auswüchse des Systems wie die staatlichen Zwangsabtreibungen sezieren kann. Die List des Autors steht da im Dienst einer Unterwanderung der offiziellen Sprachregelungen. Doch bei der Beschreibung des eigenen Lebens stößt die List an ihre Grenzen.
MARK SIEMONS
Mo Yan: "Wie das Blatt sich wendet". Eine Erzählung aus meinem Leben.
Aus dem Chinesischen von Martina Haase. Carl Hanser Verlag, München 2014. 111 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Was der jetzt auf Deutsch erschienene Roman von Mo Yan über China zu erzählen weiß, ist spektakulär." Mark Siemons, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.02.2013
"Es handelt sich um ein brillantes, doch kleines Werk, so ist man genauso gespannt auf das, was erzählt, wie auf das, was nur angedeutet wird. So wünscht man sich Aufklärung in kleinster Form." Tilman Spengler, Süddeutsche Zeitung, 24.06.14
"Mo Yan entwirft ein ruhig reflektierendes Erinnerungsspiel zwischen Enttäuschungen und Erfolg." Martin Zähringer, Deutschlandfunk, 20.10.14
"Es handelt sich um ein brillantes, doch kleines Werk, so ist man genauso gespannt auf das, was erzählt, wie auf das, was nur angedeutet wird. So wünscht man sich Aufklärung in kleinster Form." Tilman Spengler, Süddeutsche Zeitung, 24.06.14
"Mo Yan entwirft ein ruhig reflektierendes Erinnerungsspiel zwischen Enttäuschungen und Erfolg." Martin Zähringer, Deutschlandfunk, 20.10.14