Der tschechisch-kanadische Wissenschaftler Vaclav Smil ist einer der weltweit führenden Experten für Energiefragen. In diesem Buch unterzieht er die Hoffnung auf eine schnelle Umstellung auf erneuerbare Energien einem Realitätscheck und konfrontiert die politiischen Ziele mit der wissenschaftlichen Realität. Dabei erinnert er daran, auf welchen materiellen Grundlagen unser modernes Leben beruht und wie abhängig wir bei ihrer Produktion bis auf Weiteres von fossilen Brennstoffen bleiben werden. Denn nicht Datenflüsse sind der harte Kern unserer Zivilisation, sondern so unaufregende Dinge wie Stahl, Zement, Ammoniak und Plastik. Wer die Welt verändern will, sollte erst verstehen, wie sie wirklich funktioniert. Die Menschheit hat so viel Wissen angehäuft wie noch nie in ihrer Geschichte. Doch für den Einzelnen werden immer mehr Geräte und Produkte unseres alltäglichen Lebens zu einer Art Blackbox. Wir können damit umgehen, aber verstehen nicht mehr, wie sie wirklichfunktionieren. Immer mehr Menschen haben zudem nur noch oberflächliche Vorstellungen davon, wie wir die Nahrungsmittel, Rohstoffe und Güter herstellen, auf denen unsere Gesellschaft materiell beruht. Dies führt zu Fehleinschätzungen, etwa der, wir könnten unsere Zivilisation in kurzer Zeit von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energien umstellen. Denn es geht nicht nur um eine nachhaltige Stromproduktion, sondern etwa auch um alternative Verfahren bei der Herstellung von Zement, Stahl, Plastik und Dünger. Technische Innovationen allein reichen nicht, sie müssen auch kommerziell funktionieren und weltweit implementiert werden - in hunderttausenden Fabriken und Produktionsstätten. Wer sich über die Zukunft unseres Planeten Gedanken macht, der sollte die Fakten kennen, die Vaclav Smil in diesem Buch liefert.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Die fossile Ära hält an
Bleiben wir abhängig von Stahl und Zement? Vaclav Smil zweifelt an einer schnell umsetzbaren Energiewende.
Von Joachim Müller-Jung
Der Aufwand ist groß, der Zahlenaufwand zumal, mit dem Vaclav Smil für mehr Realitätssinn im Umgang mit der planetaren Krise wirbt. Der kanadische Umweltforscher ist Emeritus an der University of Manitoba, ein Vielschreiber zu Energie- und Umweltfragen und - wie sein Verlag betont - einer der "Lieblingsautoren" von Bill Gates. Was uns allerdings schon etwas wundert. Anders nämlich als sein größter Fan, der über seine Computerpionierzeit hinaus geradezu progressive Ideen in Sachen Gen- oder Kerntechnik entwickelt hat, tritt Smil auf die Bremse, wenn es um den Ausstieg aus der fossilen Energiewirtschaft und damit um die Rettung des Klimas geht. Täuscht euch nicht, schreibt er, "der Übergang zur nächsten Stufe wird erheblich länger dauern, als die meisten Menschen glauben". Täuschungen, Enttäuschungen und vor allem Orientierungsverlust gibt es tatsächlich genug, wenn es um die Energiewende geht. Das betrifft die globale Energiewende genauso wie die aktuelle deutsche Atomausstiegsdebatte, die ihren peinlichen Höhepunkt hatte, als die Kernfusion als "Schlüsselenergie im Transformationsprozess" bezeichnet wurde und deshalb zu entbürokratisieren sei. Wohlgemerkt die Kernfusion, die es noch gar nicht gibt auf dem Energiemarkt, und aller Wahrscheinlichkeit nach auch in den nächsten dreißig Jahren nicht geben wird. Smil jedenfalls hat die Kernfusion nicht auf der Rechnung. Allerdings auch nicht die Revolution der Erneuerbaren, die derzeit in Berlin und fast weltweit angestrebt wird. Für Smil, der sich selbst "weder einen Pessimisten oder Optimisten, sondern einen Wissenschaftler" nennt, passen alle diese Energiewendevisionen nicht ins "Muster der Trägheit" unserer Zivilisation. Was für ihn heißt: Die fossile Ära wird noch Jahrzehnte länger dauern, unabhängig davon, was uns die Politik nach der klimapolitischen Wende von Paris mit immer entschlossenerem Gestus weismachen will. Natürlich hat Smil hier einen Punkt: Nach dem Pariser Klimagipfel ist die Abhängigkeit von Gas, Öl und Kohle weltweit noch gestiegen, die Emissionen aus den Verbrennungen sind quasi in allen Sektoren gestiegen, statt zu sinken. Tempo und Umfang der Dekarbonisierung passen zu keinem der Klimaziele. Dass der Umstieg so schleppend vorangeht, obwohl Sonne und Wind als Energiequellen boomen, liegt Smil zufolge nicht an der Technologie. Er ist kein Hightechfeind, so wenig wie er die Dynamik der Klimakrise leugnet, aber er rechnet fest mit dem Beharrungswillen der Politik und der Bequemlichkeit des politisch-ökonomischen Managements. Die optimistischen Szenarien der progressiven Energiewendevertreter seien die "akademische Spielart von Science-Fiction", allenfalls naives Wunschdenken. Klimaneutralität? Für ihn abwegig, jedenfalls für sehr lange Zeit. Stahl, Zement, Stickstoff, Kunststoffe - auch die "stofflichen Säulen unserer Zivilisation" seien ohne die klimaschädlichen fossilen Rohstoffe gar nicht zu ersetzen. Spätestens an der Stelle, als er über die Bewältigung der Corona-Pandemie als den entscheidenden Moment sinniert, an dem jedem die "penetrant unrealistische Einstellung zu bestimmten grundlegenden Realitäten" hätte klar werden müssen, wird das Buch zum Ärgernis. Smils ausufernde, aber vielfach überholte Zahlensammlung lässt keinen Raum für Hoffnungen, wo längst schon die Ansätze für saubere Lösungen und Fortschritt für jeden erkennbar sind. Mit seinem uninspirierten Extrapolieren der fossilen Vergangenheit klammert er natürlich aus, dass die Evolution, anders als er vorgibt, exponentielle Prozesse und Richtungswechsel kennt und dass die Technikevolution - siehe Smartphone-Revolution und Künstliche Intelligenz - davon nicht ausgenommen ist. Dass er sich schließlich auch noch dazu hinreißen lässt, die mit Naturkatastrophen verbundenen Risiken und unsere Wahrnehmung von Alltagsrisiken generell zu relativieren, macht nichts besser. Smil bietet sich ganz offensichtlich als Stichwortgeber für alle an, die vor der Brisanz der aktuellen Entwicklungen die Augen verschließen wollen. Vaclav Smil: "Wie die Welt wirklich funktioniert". Die fossilen Grundlagen unserer Zivilisation und die Zukunft der Menschheit. Aus dem Englischen von Karl-Heinz Siber. C. H. Beck Verlag, München 2023. 392 S., geb., 28,- Euro.
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Bleiben wir abhängig von Stahl und Zement? Vaclav Smil zweifelt an einer schnell umsetzbaren Energiewende.
Von Joachim Müller-Jung
Der Aufwand ist groß, der Zahlenaufwand zumal, mit dem Vaclav Smil für mehr Realitätssinn im Umgang mit der planetaren Krise wirbt. Der kanadische Umweltforscher ist Emeritus an der University of Manitoba, ein Vielschreiber zu Energie- und Umweltfragen und - wie sein Verlag betont - einer der "Lieblingsautoren" von Bill Gates. Was uns allerdings schon etwas wundert. Anders nämlich als sein größter Fan, der über seine Computerpionierzeit hinaus geradezu progressive Ideen in Sachen Gen- oder Kerntechnik entwickelt hat, tritt Smil auf die Bremse, wenn es um den Ausstieg aus der fossilen Energiewirtschaft und damit um die Rettung des Klimas geht. Täuscht euch nicht, schreibt er, "der Übergang zur nächsten Stufe wird erheblich länger dauern, als die meisten Menschen glauben". Täuschungen, Enttäuschungen und vor allem Orientierungsverlust gibt es tatsächlich genug, wenn es um die Energiewende geht. Das betrifft die globale Energiewende genauso wie die aktuelle deutsche Atomausstiegsdebatte, die ihren peinlichen Höhepunkt hatte, als die Kernfusion als "Schlüsselenergie im Transformationsprozess" bezeichnet wurde und deshalb zu entbürokratisieren sei. Wohlgemerkt die Kernfusion, die es noch gar nicht gibt auf dem Energiemarkt, und aller Wahrscheinlichkeit nach auch in den nächsten dreißig Jahren nicht geben wird. Smil jedenfalls hat die Kernfusion nicht auf der Rechnung. Allerdings auch nicht die Revolution der Erneuerbaren, die derzeit in Berlin und fast weltweit angestrebt wird. Für Smil, der sich selbst "weder einen Pessimisten oder Optimisten, sondern einen Wissenschaftler" nennt, passen alle diese Energiewendevisionen nicht ins "Muster der Trägheit" unserer Zivilisation. Was für ihn heißt: Die fossile Ära wird noch Jahrzehnte länger dauern, unabhängig davon, was uns die Politik nach der klimapolitischen Wende von Paris mit immer entschlossenerem Gestus weismachen will. Natürlich hat Smil hier einen Punkt: Nach dem Pariser Klimagipfel ist die Abhängigkeit von Gas, Öl und Kohle weltweit noch gestiegen, die Emissionen aus den Verbrennungen sind quasi in allen Sektoren gestiegen, statt zu sinken. Tempo und Umfang der Dekarbonisierung passen zu keinem der Klimaziele. Dass der Umstieg so schleppend vorangeht, obwohl Sonne und Wind als Energiequellen boomen, liegt Smil zufolge nicht an der Technologie. Er ist kein Hightechfeind, so wenig wie er die Dynamik der Klimakrise leugnet, aber er rechnet fest mit dem Beharrungswillen der Politik und der Bequemlichkeit des politisch-ökonomischen Managements. Die optimistischen Szenarien der progressiven Energiewendevertreter seien die "akademische Spielart von Science-Fiction", allenfalls naives Wunschdenken. Klimaneutralität? Für ihn abwegig, jedenfalls für sehr lange Zeit. Stahl, Zement, Stickstoff, Kunststoffe - auch die "stofflichen Säulen unserer Zivilisation" seien ohne die klimaschädlichen fossilen Rohstoffe gar nicht zu ersetzen. Spätestens an der Stelle, als er über die Bewältigung der Corona-Pandemie als den entscheidenden Moment sinniert, an dem jedem die "penetrant unrealistische Einstellung zu bestimmten grundlegenden Realitäten" hätte klar werden müssen, wird das Buch zum Ärgernis. Smils ausufernde, aber vielfach überholte Zahlensammlung lässt keinen Raum für Hoffnungen, wo längst schon die Ansätze für saubere Lösungen und Fortschritt für jeden erkennbar sind. Mit seinem uninspirierten Extrapolieren der fossilen Vergangenheit klammert er natürlich aus, dass die Evolution, anders als er vorgibt, exponentielle Prozesse und Richtungswechsel kennt und dass die Technikevolution - siehe Smartphone-Revolution und Künstliche Intelligenz - davon nicht ausgenommen ist. Dass er sich schließlich auch noch dazu hinreißen lässt, die mit Naturkatastrophen verbundenen Risiken und unsere Wahrnehmung von Alltagsrisiken generell zu relativieren, macht nichts besser. Smil bietet sich ganz offensichtlich als Stichwortgeber für alle an, die vor der Brisanz der aktuellen Entwicklungen die Augen verschließen wollen. Vaclav Smil: "Wie die Welt wirklich funktioniert". Die fossilen Grundlagen unserer Zivilisation und die Zukunft der Menschheit. Aus dem Englischen von Karl-Heinz Siber. C. H. Beck Verlag, München 2023. 392 S., geb., 28,- Euro.
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