Wenzel Groszak, Ölbohrarbeiter auf einer Plattform mitten im Meer, verliert in einer stürmischen Nacht seinen einzigen Freund. Nach dessen Tod reist Wenzel nach Ungarn, bringt dessen Sachen zur Familie. Und jetzt? Soll er zurück auf eine Plattform? Vor der westafrikanischen Küste wird er seine Arbeitskleider wegwerfen, wird über Malta und Italien aufbrechen nach Norden, in ein erloschenes Ruhrgebiet, seine frühere Heimat. Und je näher er seiner großen Liebe Milena kommt, desto offener scheint ihm, ob er noch zurückfinden kann. Anja Kampmanns überraschender Roman erzählt in dichter, poetischer Sprache von der Rückkehr aus der Fremde, vom Versuch, aus einer bodenlosen Arbeitswelt zurückzufinden ins eigene Leben.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.01.2018Die Lupe der Sehnsucht
Überscharfe Wahrnehmung, somnambule Trance und geballte Gegenwart: Anja Kampmann erzählt
in ihrem grandiosen Debütroman „Wie hoch die Wasser steigen“ von der Odyssee eines modernen Wanderarbeiters
VON HELMUT BÖTTIGER
Das Besondere an diesem Buch ist, dass es zugleich unbedingt im Heute und in einer nicht genau zu umreißenden, fernen Zeitlosigkeit spielt. Und es ist die Sprache, die aus hoch technisierten Abläufen auf Ölbohrplattformen im offenen Meer und einer archaischen Existenz im Gebirge dieselben poetischen Funken schlagen kann. Wie bei allen literarischen Texten, die auch nach der Lektüre noch im Kopf bleiben, kommt es nicht so sehr auf eine Handlung an, die sich nacherzählen lässt, sondern auf die Atmosphäre und die Worte, in denen und mit denen sie spielt. Dabei passiert viel.
Waclaw arbeitet unter schwierigsten, mitunter auch lebensgefährlichen Bedingungen auf Bohrinseln, die über die ganze Welt verstreut sein können, bei globalen Konzernen, welche die Bedingungen diktieren und die frühere Sklavenhaltergesellschaft nahtlos ins computergesteuerte und coole Selbstvermarktungs-Business des 21. Jahrhunderts überführen. Mit seinem Freund Mátyás befindet er sich gerade in einem Niemandsland vor der marokkanischen Küste. Als sie einem Sturmtief ausgeliefert sind, das von den Färöer-Inseln im Norden ausgeht, kommt Mátyás unter ungeklärten Umständen auf seiner Schicht um. Dieser Tod löst eine Odyssee Waclaws aus. Sie führt ihn zu verschiedenen Stationen, die alle etwas mit seinem Leben zu tun haben – doch wie wenig greifbar dieses Leben geworden ist, stellt sich erst im Lauf der Zeit heraus.
So, wie die Orte und Zeiten in einem imaginären Raum zwischen Marokko und den Färöer-Inseln schwanken, ist auch Waclaw eine unsichere, nicht greifbare Figur. Manchmal wird sie unvermittelt „Wenzel“ genannt, wie um auf eine andere, unerzählte Geschichte zu verweisen. In Nahsicht und sehr plastisch wird die Tätigkeit auf hoher See geschildert, realistisch und in Großaufnahme – doch Waclaw/Wenzel bewegt sich eher wie eine Kunstfigur durch die Szenerie, wie eine phantasmagorische Gestalt, die Erinnerungen aus der Literaturgeschichte mit sich herumzuschleppen scheint und doch eine ganz konkrete Biografie hat. Dies ist eine der vielen Eigenarten dieses Romans, der eine unsichtbare Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit zieht und das zeitgenössische Bewusstsein in einer fremden Art und Weise umreißt.
Waclaw, der zum Zeitpunkt des Geschehens 52 Jahre alt ist, stammt aus dem Ruhrpott. Seine Familie war aus Polen eingewandert, und dass er mit seiner Freundin Milena als Erstes ausgerechnet in ein kleines Dorf bei Poznań ausgerissen ist, wirkt im Nachhinein wie ein Versuch, eine Identität wiederzufinden, die er natürlich nie hatte. Immer wieder tauchen derlei Bruchstücke aus seiner Biografie auf – das Aufwachsen in einer Zechensiedlung in Bottrop, das Leben mit Milena in Wiórek, die erste Anwerbung als Bohrarbeiter.
Solche weit zurückliegenden Momente blitzen als isolierte Erinnerungsmomente immer wieder auf. Langsam gibt sich ein Lebensfaden zu erkennen, der aber irgendwie abgerissen zu sein scheint. Als Waclaw nach dem Tod des Freundes seinen Arbeitsplatz verlässt, erlebt er die marokkanische Küste und die Stadt Tanger in einzelnen, glühenden Wahrnehmungssplittern. Es gibt die Felsen am Strand, eine Bar, eine wäscheaufhängende Frau auf der Terrasse des Hauses, in dem er mit Mátyás ein Zimmer gemietet hatte. Größere Zusammenhänge entziehen sich ihm. Er nimmt vor allem den jeweiligen Augenblick wahr. Dieser aber wird wie durch eine Lupe gesehen, entfaltet eine große sinnliche Kraft, und dadurch entsteht ein eigenartiger Sog. Die große Erzählung ist nicht mehr möglich. Die einzelnen Eindrücke stieben auseinander, sind dabei aber ungemein intensiv.
Es sind nicht nur die Orte, die Waclaw aufsucht und die ein düster changierendes Bild ergeben: das Dorf in der Puszta, mit Mátyás’ älterer Schwester Patricia. Malta, wo er aus steuerlichen Gründen gemeldet ist und wo in einer heruntergekommenen Autowerkstatt die persönlichen Dinge gelagert sind. Und vor allem das alte steinerne Haus an einem Hang im italienischen Gebirge, wohin sich Alois zurückgezogen hat, der nun „Enzo“ heißt und der Freund des Vaters und Waclaws Ankerpunkt in Kindheit und Jugend war. Das Motiv der Brieftauben verbindet den Ruhrpott und ein stehen gebliebenes Italien. Es sind Orte, die Waclaw mit einer überscharfen Wahrnehmung und zugleich in somnambuler Trance aufsucht. Sie geraten ins Flirren, weil die Sätze, Absätze und Kapitelfolgen dieses Buches viele Leerstellen eröffnen. Anja Kampmann, die 1983 in Hamburg geboren wurde und in Leipzig lebt, hat bisher einen Gedichtband vorgelegt, und auch ihr erster Roman ist aufgebaut wie ein Gedicht: mit Resonanzräumen, mit Aussparungen, mit einer andeutenden, vieldeutigen, kristallklaren Sprache.
Vor allem die Vergleiche fallen auf – eine stilistische Eigenheit, die ziemlich riskant ist und spätestens seit Gottfried Benn nicht mehr als sprachliches Erkenntnisinstrument gilt. Hier aber haben Vergleiche eine ganz besondere Funktion. Sie schaffen eine künstliche Ebene, eine literarische Binnenstruktur, welche die Entwirklichung des „Helden“ Waclaw ins Bild setzt, ohne erklärende Umschreibungen nötig zu haben. Gleich am Anfang fallen Waclaw während der Reden eines Vorgesetzten „Vögel“ ein, „die Regen imitieren, um Würmer aus dem Erdreich zu locken“.
Bei Überlegungen, an welchen Orten Öl vorkommt, denkt Waclaw „an die Spuren der Gletscher auf dem Meeresgrund, an die Kontinente, die sich aufeinander zubewegen mit der Geschwindigkeit, in der ein Fingernagel wächst“. Und die Frauen im Ruhrpott, die nach dem ersten Kind zu Hause geblieben waren, erleben „Tage, blass und still wie die Früchte in einem Rumtopf“. Waclaw hat nichts, woran er sich festhalten kann: keine Familie, keine Herkunft, kein Arbeitsumfeld und keine sicheren Gefühle. Die Sprache, mit der er in diesem Roman gezeichnet wird, drückt dies aus, ohne es zu benennen.
Auch seine sexuelle Orientierung ist diffus. Waclaw wirkt wie eine Theaterfigur, die in eine magische Szenerie hineingestellt ist und ein heutiges Lebensgefühl in widersprüchliche, aber große Formen gießt. Seine Fußwanderung durch Italien und die anschließende Autofahrt ins Ruhrgebiet hat etwas Überpersönlich-Imaginäres. Und es gibt dabei ein großes Bild für die Sehnsucht: Alois, Waclaws Bezugsperson seit der Kindheit, züchtet an seinem italienischen Fluchtpunkt nach wie vor, wie früher im Kohlenpott, Brieftauben. Dies ist ein zentrales Motiv des Romans, ein Symbol, das alles verdichtet. Alois bittet Waclaw, die Taube, die er dafür am geeignetsten hält, mit über die Alpen zu nehmen und auf einer übrig gebliebenen Abraumhalde im Ruhrgebiet aufsteigen zu lassen – mit der Hoffnung, sie finde den Weg zurück. Dieses Motiv variiert der Roman in vielen überraschenden Wendungen, und dass Waclaw zum Schluss in einer mehrfach gebrochenen Coda sich selbst als Taube imaginiert, bildet dabei den Höhepunkt.
Es gibt etliche Szenen in diesem Roman, die sich einprägen; sie sind nicht sofort auszuschöpfen. Als Lebensgefühl bleibt zurück, dass die alte Vorstellung der Insel, als sicheres Rückzugsgebiet und Möglichkeit des Abseits, jetzt die Formen einer künstlichen Bohrinsel angenommen hat. Und es ist global verfügbar, auf dem Bahnsteig im sizilianischen Catania genauso wie im Ruhrgebiet nach einer langen Zeit der Abwesenheit. Waclaw empfindet seine Heimat wie eine „Westernstadt“, der das Schwarz-Weiß ausgetrieben wurde. Trostlos sind der Bolzplatz, „in den investiert worden war“, und die Trikots der Jungs, „die Farben wie mit Glutamat versetzt“. Man schmeckt in diesem Roman die Gegenwart.
Das Motiv der Brieftauben
verbindet den Ruhrpott und
ein stehen gebliebenes Italien
Waclaw empfindet seine Heimat
wie eine Westernstadt, der das
Schwarz-Weiß ausgetrieben wurde
Von Bohrinsel zu Bohrinsel: Der Held in Anja Kampmanns Roman ist auf einer Odyssee, lange nach dem Zeitalter der Inselutopien.
Foto: picture-alliance / dpa
Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2018. 349 Seiten,
23 Euro. E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Überscharfe Wahrnehmung, somnambule Trance und geballte Gegenwart: Anja Kampmann erzählt
in ihrem grandiosen Debütroman „Wie hoch die Wasser steigen“ von der Odyssee eines modernen Wanderarbeiters
VON HELMUT BÖTTIGER
Das Besondere an diesem Buch ist, dass es zugleich unbedingt im Heute und in einer nicht genau zu umreißenden, fernen Zeitlosigkeit spielt. Und es ist die Sprache, die aus hoch technisierten Abläufen auf Ölbohrplattformen im offenen Meer und einer archaischen Existenz im Gebirge dieselben poetischen Funken schlagen kann. Wie bei allen literarischen Texten, die auch nach der Lektüre noch im Kopf bleiben, kommt es nicht so sehr auf eine Handlung an, die sich nacherzählen lässt, sondern auf die Atmosphäre und die Worte, in denen und mit denen sie spielt. Dabei passiert viel.
Waclaw arbeitet unter schwierigsten, mitunter auch lebensgefährlichen Bedingungen auf Bohrinseln, die über die ganze Welt verstreut sein können, bei globalen Konzernen, welche die Bedingungen diktieren und die frühere Sklavenhaltergesellschaft nahtlos ins computergesteuerte und coole Selbstvermarktungs-Business des 21. Jahrhunderts überführen. Mit seinem Freund Mátyás befindet er sich gerade in einem Niemandsland vor der marokkanischen Küste. Als sie einem Sturmtief ausgeliefert sind, das von den Färöer-Inseln im Norden ausgeht, kommt Mátyás unter ungeklärten Umständen auf seiner Schicht um. Dieser Tod löst eine Odyssee Waclaws aus. Sie führt ihn zu verschiedenen Stationen, die alle etwas mit seinem Leben zu tun haben – doch wie wenig greifbar dieses Leben geworden ist, stellt sich erst im Lauf der Zeit heraus.
So, wie die Orte und Zeiten in einem imaginären Raum zwischen Marokko und den Färöer-Inseln schwanken, ist auch Waclaw eine unsichere, nicht greifbare Figur. Manchmal wird sie unvermittelt „Wenzel“ genannt, wie um auf eine andere, unerzählte Geschichte zu verweisen. In Nahsicht und sehr plastisch wird die Tätigkeit auf hoher See geschildert, realistisch und in Großaufnahme – doch Waclaw/Wenzel bewegt sich eher wie eine Kunstfigur durch die Szenerie, wie eine phantasmagorische Gestalt, die Erinnerungen aus der Literaturgeschichte mit sich herumzuschleppen scheint und doch eine ganz konkrete Biografie hat. Dies ist eine der vielen Eigenarten dieses Romans, der eine unsichtbare Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit zieht und das zeitgenössische Bewusstsein in einer fremden Art und Weise umreißt.
Waclaw, der zum Zeitpunkt des Geschehens 52 Jahre alt ist, stammt aus dem Ruhrpott. Seine Familie war aus Polen eingewandert, und dass er mit seiner Freundin Milena als Erstes ausgerechnet in ein kleines Dorf bei Poznań ausgerissen ist, wirkt im Nachhinein wie ein Versuch, eine Identität wiederzufinden, die er natürlich nie hatte. Immer wieder tauchen derlei Bruchstücke aus seiner Biografie auf – das Aufwachsen in einer Zechensiedlung in Bottrop, das Leben mit Milena in Wiórek, die erste Anwerbung als Bohrarbeiter.
Solche weit zurückliegenden Momente blitzen als isolierte Erinnerungsmomente immer wieder auf. Langsam gibt sich ein Lebensfaden zu erkennen, der aber irgendwie abgerissen zu sein scheint. Als Waclaw nach dem Tod des Freundes seinen Arbeitsplatz verlässt, erlebt er die marokkanische Küste und die Stadt Tanger in einzelnen, glühenden Wahrnehmungssplittern. Es gibt die Felsen am Strand, eine Bar, eine wäscheaufhängende Frau auf der Terrasse des Hauses, in dem er mit Mátyás ein Zimmer gemietet hatte. Größere Zusammenhänge entziehen sich ihm. Er nimmt vor allem den jeweiligen Augenblick wahr. Dieser aber wird wie durch eine Lupe gesehen, entfaltet eine große sinnliche Kraft, und dadurch entsteht ein eigenartiger Sog. Die große Erzählung ist nicht mehr möglich. Die einzelnen Eindrücke stieben auseinander, sind dabei aber ungemein intensiv.
Es sind nicht nur die Orte, die Waclaw aufsucht und die ein düster changierendes Bild ergeben: das Dorf in der Puszta, mit Mátyás’ älterer Schwester Patricia. Malta, wo er aus steuerlichen Gründen gemeldet ist und wo in einer heruntergekommenen Autowerkstatt die persönlichen Dinge gelagert sind. Und vor allem das alte steinerne Haus an einem Hang im italienischen Gebirge, wohin sich Alois zurückgezogen hat, der nun „Enzo“ heißt und der Freund des Vaters und Waclaws Ankerpunkt in Kindheit und Jugend war. Das Motiv der Brieftauben verbindet den Ruhrpott und ein stehen gebliebenes Italien. Es sind Orte, die Waclaw mit einer überscharfen Wahrnehmung und zugleich in somnambuler Trance aufsucht. Sie geraten ins Flirren, weil die Sätze, Absätze und Kapitelfolgen dieses Buches viele Leerstellen eröffnen. Anja Kampmann, die 1983 in Hamburg geboren wurde und in Leipzig lebt, hat bisher einen Gedichtband vorgelegt, und auch ihr erster Roman ist aufgebaut wie ein Gedicht: mit Resonanzräumen, mit Aussparungen, mit einer andeutenden, vieldeutigen, kristallklaren Sprache.
Vor allem die Vergleiche fallen auf – eine stilistische Eigenheit, die ziemlich riskant ist und spätestens seit Gottfried Benn nicht mehr als sprachliches Erkenntnisinstrument gilt. Hier aber haben Vergleiche eine ganz besondere Funktion. Sie schaffen eine künstliche Ebene, eine literarische Binnenstruktur, welche die Entwirklichung des „Helden“ Waclaw ins Bild setzt, ohne erklärende Umschreibungen nötig zu haben. Gleich am Anfang fallen Waclaw während der Reden eines Vorgesetzten „Vögel“ ein, „die Regen imitieren, um Würmer aus dem Erdreich zu locken“.
Bei Überlegungen, an welchen Orten Öl vorkommt, denkt Waclaw „an die Spuren der Gletscher auf dem Meeresgrund, an die Kontinente, die sich aufeinander zubewegen mit der Geschwindigkeit, in der ein Fingernagel wächst“. Und die Frauen im Ruhrpott, die nach dem ersten Kind zu Hause geblieben waren, erleben „Tage, blass und still wie die Früchte in einem Rumtopf“. Waclaw hat nichts, woran er sich festhalten kann: keine Familie, keine Herkunft, kein Arbeitsumfeld und keine sicheren Gefühle. Die Sprache, mit der er in diesem Roman gezeichnet wird, drückt dies aus, ohne es zu benennen.
Auch seine sexuelle Orientierung ist diffus. Waclaw wirkt wie eine Theaterfigur, die in eine magische Szenerie hineingestellt ist und ein heutiges Lebensgefühl in widersprüchliche, aber große Formen gießt. Seine Fußwanderung durch Italien und die anschließende Autofahrt ins Ruhrgebiet hat etwas Überpersönlich-Imaginäres. Und es gibt dabei ein großes Bild für die Sehnsucht: Alois, Waclaws Bezugsperson seit der Kindheit, züchtet an seinem italienischen Fluchtpunkt nach wie vor, wie früher im Kohlenpott, Brieftauben. Dies ist ein zentrales Motiv des Romans, ein Symbol, das alles verdichtet. Alois bittet Waclaw, die Taube, die er dafür am geeignetsten hält, mit über die Alpen zu nehmen und auf einer übrig gebliebenen Abraumhalde im Ruhrgebiet aufsteigen zu lassen – mit der Hoffnung, sie finde den Weg zurück. Dieses Motiv variiert der Roman in vielen überraschenden Wendungen, und dass Waclaw zum Schluss in einer mehrfach gebrochenen Coda sich selbst als Taube imaginiert, bildet dabei den Höhepunkt.
Es gibt etliche Szenen in diesem Roman, die sich einprägen; sie sind nicht sofort auszuschöpfen. Als Lebensgefühl bleibt zurück, dass die alte Vorstellung der Insel, als sicheres Rückzugsgebiet und Möglichkeit des Abseits, jetzt die Formen einer künstlichen Bohrinsel angenommen hat. Und es ist global verfügbar, auf dem Bahnsteig im sizilianischen Catania genauso wie im Ruhrgebiet nach einer langen Zeit der Abwesenheit. Waclaw empfindet seine Heimat wie eine „Westernstadt“, der das Schwarz-Weiß ausgetrieben wurde. Trostlos sind der Bolzplatz, „in den investiert worden war“, und die Trikots der Jungs, „die Farben wie mit Glutamat versetzt“. Man schmeckt in diesem Roman die Gegenwart.
Das Motiv der Brieftauben
verbindet den Ruhrpott und
ein stehen gebliebenes Italien
Waclaw empfindet seine Heimat
wie eine Westernstadt, der das
Schwarz-Weiß ausgetrieben wurde
Von Bohrinsel zu Bohrinsel: Der Held in Anja Kampmanns Roman ist auf einer Odyssee, lange nach dem Zeitalter der Inselutopien.
Foto: picture-alliance / dpa
Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2018. 349 Seiten,
23 Euro. E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2018Hauptsache, weg von der Plattform
Viel konkreter wird es nicht: In Anja Kampmanns Debütroman, nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse, irrt ein Ölbohrarbeiter ziellos durch Europa
Man muss es gar nicht erst nachschauen, es reicht, den Roman anzulesen, um zu wissen: Diese Frau ist Lyrikerin. Ebenfalls bei Hanser erschien 2016 ihr Gedichtband "Proben von Stein und Licht". Es geht sehr viel um Meer und Vögel, um Dörfer, Schnee und Wälder. Viel konkreter wird es nicht. Anja Kampmann verharrt im Vagen, das ist ihr Programm - und ihr Problem. Denn das Herumfühlen im Ungenauen liegt meist nur wenige Zentimeter neben dem Kitsch und kann für Leser, die sonst eher das Herumdenken im Präzisen schätzen, schnell unerträglich werden. Dem Kitschverdacht entgeht Anja Kampmann immer gerade so durch bewusstes Flachhalten sämtlicher sprachlicher Bälle. Und nimmt sich damit die Möglichkeit, auch nur einmal ein bisschen aufzudrehen und lauter zu werden und flüstert eben nur so vor sich hin. Aber von vorn.
In ihrem ersten Roman "Wie hoch die Wasser steigen", der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, geht es um einen 52 Jahre alten Mann, der auf einer Bohrinsel vor Marokko arbeitet. Dann stirbt sein Kollege und Freund Matyás bei einem Unfall, der nie aufgeklärt wird, was vor allem daran liegt, dass sich die Vorgesetzten wenig Mühe machen, irgendetwas aufzuklären. Matyás war nur globale Verschiebemasse im Energiegeschäft, ein Wanderarbeiter der besserbezahlten Sorte.
Der Ölbohrarbeiter heißt mal Waclaw und mal Wenzel, was schon gröbere Identitätsverwerfungen andeutet - denn wie heimatlos ist einer, der nicht einmal mehr weiß, wie er heißt? Er begibt sich nach Matyás Tod zunächst zu Patricía, Matyás Halbschwester, um ihr das letzte Bündel Hab und Gut zu übergeben. Er schläft mit ihr, das tut er öfter einmal am Wegesrand, und stellt dann fest, dass er nicht mehr auf die Plattform zurückkehren will, aber auch sonst wenig Ziele mehr hat. "Manchmal kam es ihm so vor, als wären diese Jahre davongerissen worden wie Brocken Ton von einer Töpferscheibe, die sie nur kurz berührten, und die Mitte der Scheibe bleibt leer."
Wer nicht weiß, wohin die Zukunft führt, der flüchtet sich gern einmal in die Vergangenheit. So auch Waclaw, der der Sohn eines polnischen Bergmannes im Ruhrgebiet war. Einer, der sich irgendwann zu Tode hustete, wie die meisten seiner Kollegen. Alois von der Esse hingegen kam rechtzeitig davon und bewohnt nun ein kleines Haus im Apennin. Über verschlungene Wege via Tanger, Malta, Norditalien, Orte, die allesamt eindruckslos vorbeiziehen, führt das Roadmovie Waclaw schließlich zum alten Alois, der noch immer seine Brieftauben züchtet wie damals. Und da bekommt er endlich eine Aufgabe. Er soll eine der Tauben mit ins Ruhrgebiet nehmen und sie dort freilassen. Denn die Brieftauben finden immer nach Hause, nur Waclaw nicht, weil er kein Zuhause hat, was jetzt nicht die subtilste Metaphorik ist, die einem dazu einfallen kann. Und auch Milena - von ihr erfahren wir immerhin, dass sie schön ist, kleine feste Brüste hat und einen Cockerspaniel - hat er irgendwann verloren, denkt aber ständig noch an sie.
Der Roman hat nichts von dem, was Romane normalerweise haben, es ist die lyrische Annäherung an einen Roman. Alles zieht in einem dissoziierten Irgendwo, einem Irgendwann an einem vorbei, vermutlich fühlt es sich so an, wenn man Waclaw ist, man nirgendwo hängenbleibt und auch nichts an einem selbst hängenbleibt. Was aber bleibt, das ist die Sprache, die ihre Gegenstände mit spitzen Fingern anfasst und es immerhin schafft, Zwischentöne des Ungefähren zu finden. "Der Fahrer drosselte die Geschwindigkeit, und während sie mit einem leisen Tuckern an den anderen Booten vorbeizogen, sah Waclaw all die Fliegen, Motten und Falter, die als weiße Schatten um die Scheinwerfer im Hafen tanzten, ein durchsichtig helles Schwärmen, irritierend schön vor dem Dunkel der Nacht. Darin all das Flirrende vieler Jahre, die sich zu nichts verbanden, die ungeordnet auftauchten im begrenzenden Kegel Licht." Ob man mit einem so hohen Ton, der vor Misstönen nicht gefeit ist, der Plackerei eines Ölbohrarbeiters gerecht wird, muss hier zum Glück nicht entschieden werden.
ANDREA DIENER
Anja Kampmann: "Wie hoch die Wasser steigen". Roman.
Hanser Verlag, München 2018. 352 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viel konkreter wird es nicht: In Anja Kampmanns Debütroman, nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse, irrt ein Ölbohrarbeiter ziellos durch Europa
Man muss es gar nicht erst nachschauen, es reicht, den Roman anzulesen, um zu wissen: Diese Frau ist Lyrikerin. Ebenfalls bei Hanser erschien 2016 ihr Gedichtband "Proben von Stein und Licht". Es geht sehr viel um Meer und Vögel, um Dörfer, Schnee und Wälder. Viel konkreter wird es nicht. Anja Kampmann verharrt im Vagen, das ist ihr Programm - und ihr Problem. Denn das Herumfühlen im Ungenauen liegt meist nur wenige Zentimeter neben dem Kitsch und kann für Leser, die sonst eher das Herumdenken im Präzisen schätzen, schnell unerträglich werden. Dem Kitschverdacht entgeht Anja Kampmann immer gerade so durch bewusstes Flachhalten sämtlicher sprachlicher Bälle. Und nimmt sich damit die Möglichkeit, auch nur einmal ein bisschen aufzudrehen und lauter zu werden und flüstert eben nur so vor sich hin. Aber von vorn.
In ihrem ersten Roman "Wie hoch die Wasser steigen", der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, geht es um einen 52 Jahre alten Mann, der auf einer Bohrinsel vor Marokko arbeitet. Dann stirbt sein Kollege und Freund Matyás bei einem Unfall, der nie aufgeklärt wird, was vor allem daran liegt, dass sich die Vorgesetzten wenig Mühe machen, irgendetwas aufzuklären. Matyás war nur globale Verschiebemasse im Energiegeschäft, ein Wanderarbeiter der besserbezahlten Sorte.
Der Ölbohrarbeiter heißt mal Waclaw und mal Wenzel, was schon gröbere Identitätsverwerfungen andeutet - denn wie heimatlos ist einer, der nicht einmal mehr weiß, wie er heißt? Er begibt sich nach Matyás Tod zunächst zu Patricía, Matyás Halbschwester, um ihr das letzte Bündel Hab und Gut zu übergeben. Er schläft mit ihr, das tut er öfter einmal am Wegesrand, und stellt dann fest, dass er nicht mehr auf die Plattform zurückkehren will, aber auch sonst wenig Ziele mehr hat. "Manchmal kam es ihm so vor, als wären diese Jahre davongerissen worden wie Brocken Ton von einer Töpferscheibe, die sie nur kurz berührten, und die Mitte der Scheibe bleibt leer."
Wer nicht weiß, wohin die Zukunft führt, der flüchtet sich gern einmal in die Vergangenheit. So auch Waclaw, der der Sohn eines polnischen Bergmannes im Ruhrgebiet war. Einer, der sich irgendwann zu Tode hustete, wie die meisten seiner Kollegen. Alois von der Esse hingegen kam rechtzeitig davon und bewohnt nun ein kleines Haus im Apennin. Über verschlungene Wege via Tanger, Malta, Norditalien, Orte, die allesamt eindruckslos vorbeiziehen, führt das Roadmovie Waclaw schließlich zum alten Alois, der noch immer seine Brieftauben züchtet wie damals. Und da bekommt er endlich eine Aufgabe. Er soll eine der Tauben mit ins Ruhrgebiet nehmen und sie dort freilassen. Denn die Brieftauben finden immer nach Hause, nur Waclaw nicht, weil er kein Zuhause hat, was jetzt nicht die subtilste Metaphorik ist, die einem dazu einfallen kann. Und auch Milena - von ihr erfahren wir immerhin, dass sie schön ist, kleine feste Brüste hat und einen Cockerspaniel - hat er irgendwann verloren, denkt aber ständig noch an sie.
Der Roman hat nichts von dem, was Romane normalerweise haben, es ist die lyrische Annäherung an einen Roman. Alles zieht in einem dissoziierten Irgendwo, einem Irgendwann an einem vorbei, vermutlich fühlt es sich so an, wenn man Waclaw ist, man nirgendwo hängenbleibt und auch nichts an einem selbst hängenbleibt. Was aber bleibt, das ist die Sprache, die ihre Gegenstände mit spitzen Fingern anfasst und es immerhin schafft, Zwischentöne des Ungefähren zu finden. "Der Fahrer drosselte die Geschwindigkeit, und während sie mit einem leisen Tuckern an den anderen Booten vorbeizogen, sah Waclaw all die Fliegen, Motten und Falter, die als weiße Schatten um die Scheinwerfer im Hafen tanzten, ein durchsichtig helles Schwärmen, irritierend schön vor dem Dunkel der Nacht. Darin all das Flirrende vieler Jahre, die sich zu nichts verbanden, die ungeordnet auftauchten im begrenzenden Kegel Licht." Ob man mit einem so hohen Ton, der vor Misstönen nicht gefeit ist, der Plackerei eines Ölbohrarbeiters gerecht wird, muss hier zum Glück nicht entschieden werden.
ANDREA DIENER
Anja Kampmann: "Wie hoch die Wasser steigen". Roman.
Hanser Verlag, München 2018. 352 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Tobias Lehmkuhl fühlt sich an die Helden und die Weltaneignung durch Sprache in Peter Handkes Romanen erinnert mit Anja Kampmanns Debüt. Bemerkenswert findet er die Geschichte um einen verlassenen Ölbohrinselarbeiter, der die Verbindung zu seinen Gefühlen verliert und dessen Wahrnehmung der äußeren Dinge wächst, nicht so sehr als Text über eine Heimat- und Sinnsuche, sondern wegen ihrer nichtlinearen Erzählweise, die mittels Erinnerungsschüben und Bilder das Tempo drosselt und Plot und Figurenentwicklung eher abbremst. Ein ganz eigener Raum der Sinne entsteht, der dem Rezensenten das Gefühl vermittelt, die Zeit wäre mit den Händen zu greifen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"'Wie hoch die Wasser steigen' sticht aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht nur dieses Frühjahrs heraus. Hier ist eine Autorin zu entdecken, deren umfassende Weltaneignung durch Sprache sich am ehesten mit dem Schreibfuror Peter Handkes vergleichen lässt." Tobias Lehmkuhl, Die Zeit, 22.02.18
"Ein Roman über Entwurzelung in Zeiten der Globalisierung ... Für ihre Geschichte über die Auflösung aller Bindungen, angefangen von der Klassenzugehörigkeit und Nationalität bis zu Liebesbeziehungen, wählt Anja Kampmann eine poetische Sprache ... Ihr gelingen Episoden von enormer Kraft." Maike Albath, Deutschlandfunk Kultur, 02.02.18
"Es ist ein tief beeindruckendes Buch, in dem es tost und braust, aus Farben wie mit Glutamat versetzt und voller unerlöster Gefühle. Und dabei ist es ein großes Buch der Stille ... Ein mit enormer erzählerischer Umsicht geschriebener und herzergreifend unsentimentaler Roman über die Weite, die zwischen dem Ich und der Welt liegt." Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 31.01.18
"Ein grandioser Debütroman." Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 29.01.18
"Das Besondere an diesem Buch ist, dass es zugleich unbedingt im Heute und in einer nicht genau zu umreißenden, fernen Zeitlosigkeit spielt. Und es ist die Sprache, die aus hoch technisierten Abläufen auf Ölbohrplattformen im offenen Meer und einer archaischen Existenz im Gebirge dieselben poetischen Funken schlagen kann." Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 29.01.18
"Anja Kampmann bringt etwas zur Sprache, für das uns sonst die Worte fehlen. Mit 'Wie hoch die Wasser steigen' ist ihr ein hochaktueller Roman gelungen, der von den flexiblen Tagelöhnern unserer Gegenwart erzählt."
Tino Dallmann, NDR Kultur, 28.01.2018
"Ein Roman über Entwurzelung in Zeiten der Globalisierung ... Für ihre Geschichte über die Auflösung aller Bindungen, angefangen von der Klassenzugehörigkeit und Nationalität bis zu Liebesbeziehungen, wählt Anja Kampmann eine poetische Sprache ... Ihr gelingen Episoden von enormer Kraft." Maike Albath, Deutschlandfunk Kultur, 02.02.18
"Es ist ein tief beeindruckendes Buch, in dem es tost und braust, aus Farben wie mit Glutamat versetzt und voller unerlöster Gefühle. Und dabei ist es ein großes Buch der Stille ... Ein mit enormer erzählerischer Umsicht geschriebener und herzergreifend unsentimentaler Roman über die Weite, die zwischen dem Ich und der Welt liegt." Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 31.01.18
"Ein grandioser Debütroman." Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 29.01.18
"Das Besondere an diesem Buch ist, dass es zugleich unbedingt im Heute und in einer nicht genau zu umreißenden, fernen Zeitlosigkeit spielt. Und es ist die Sprache, die aus hoch technisierten Abläufen auf Ölbohrplattformen im offenen Meer und einer archaischen Existenz im Gebirge dieselben poetischen Funken schlagen kann." Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 29.01.18
"Anja Kampmann bringt etwas zur Sprache, für das uns sonst die Worte fehlen. Mit 'Wie hoch die Wasser steigen' ist ihr ein hochaktueller Roman gelungen, der von den flexiblen Tagelöhnern unserer Gegenwart erzählt."
Tino Dallmann, NDR Kultur, 28.01.2018