Als vor acht Jahren Ulli Lusts autobiographischer Comic Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens erschien, wurde er als Meisterwerk gefeiert und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. In ihrem sensationellen neuen Comic erzählt sie die heftige Geschichte einer ménage à trois, einer utopischen Liebe, die in Besitzanspruch und Gewalt umschlägt, eine Geschichte der sexuellen Obsession, der Geschlechterkonflikte und der Selbstbefreiung - ihre Geschichte.
Ungeschützt, sinnlich, kraftvoll erzählt sie in diesem autobiographischen Comic, wie sie als junge, lebensgierige Anarchistin im Wien der neunziger Jahre eine Zukunft als Künstlerin aufzubauen versucht - und von ihrer Liebe zu zwei Männern: dem zwanzig Jahre älteren »perfekten Gefährten« Georg, Schauspieler, und dem »perfekten Liebhaber«, dem nigerianischen Lebemann Kimata. Dessen fehlende Aufenthaltsgenehmigung legt, trotz Ullis Bedenken, eine einzige Lösung nahe: Es muss geheiratet werden. Zugleich führt Kimatas Eifersucht immer öfter zu Gewaltausbrüchen, die zunehmend ihr Leben bedrohen ...
Ungeschützt, sinnlich, kraftvoll erzählt sie in diesem autobiographischen Comic, wie sie als junge, lebensgierige Anarchistin im Wien der neunziger Jahre eine Zukunft als Künstlerin aufzubauen versucht - und von ihrer Liebe zu zwei Männern: dem zwanzig Jahre älteren »perfekten Gefährten« Georg, Schauspieler, und dem »perfekten Liebhaber«, dem nigerianischen Lebemann Kimata. Dessen fehlende Aufenthaltsgenehmigung legt, trotz Ullis Bedenken, eine einzige Lösung nahe: Es muss geheiratet werden. Zugleich führt Kimatas Eifersucht immer öfter zu Gewaltausbrüchen, die zunehmend ihr Leben bedrohen ...
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2017Die beiden Bilderwundertäter aus Berlin
Zwei deutsche Comics machen Sensation: Ulli Lust erzählt in "Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein" ihr Leben weiter, Reinhard Kleist widmet Nick Cave eine Musikerbiographie der besonderen Art.
Es ist ein Ereignis: Nahezu gleichzeitig haben jetzt zwei der bedeutendsten und international erfolgreichsten deutschsprachigen Comiczeichner neue Hauptwerke veröffentlicht. Sie stammen von einer Frau und einem Mann, beide etwa gleich alt (geboren 1967 beziehungsweise 1970), sie in Wien, er in der Nähe von Köln, heute leben beide in Berlin, aber nur einer ihrer Bände hat zentral etwas mit dieser Stadt zu tun. Es handelt sich dabei um eine Musikerbiographie, der andere Band ist autobiographisch. Beide Bücher sind mit mehr als dreihundert Seiten von gewaltigem Umfang, setzen aber nicht nur damit die Entwicklung in Deutschland zu komplexen Comicpublikationen entscheidend fort: Beide loten, obwohl einmal streng schwarzweiß und das andere Mal nur mit einer Zusatzfarbe (Rosa) gedruckt, auch graphisch konsequent aus, was diese Erzählform hergibt. Und es sind beides ganz gegenwärtige Stoffe, wenn auch das Geschehen im autobiographischen Comic zu Beginn der neunziger Jahre angesiedelt ist und die Musikerbiographie ein mittlerweile sechzigjähriges Leben umfasst. Die Rede ist von Ulli Lusts "Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein" und von Reinhard Kleists "Nick Cave - Mercy on me".
Auf beide Comics haben wir sehnlich gewartet, weil sie thematisch an die berühmtesten Werke dieser beiden Autoren anknüpfen. Kleist ist einer der produktivsten deutschen Zeichner, aber seinen großen Durchbruch hatte er 2006 mit einer anderen Musikerbiographie, "Cash - I see a darkness" über den Country-Star Johnny Cash, damals sein Debüt bei Carlsen, dem traditionsreichsten Comicverlag hierzulande. Ihm blieb Kleist bis heute treu, obwohl er zwei seiner erfolgreichsten Comics, die vielfach preisgekrönten Geschichten "Der Boxer" und "Der Traum von Olympia", in dieser Zeitung erstveröffentlichte, bevor sie dann auch als Bücher erschienen. Nebenher zeichnete Kleist journalistisch und als Illustrator, doch weltweit zum Maßstab geworden ist er seit "Cash" im biographischen Genre; auch Fidel Castro hat er einen umfangreichen Band gewidmet. Von seinem Nick-Cave-Projekt erzählte er erstmals vor drei Jahren; da hatte ihm der australische Musiker gerade seine Zustimmung erteilt.
Ulli Lust macht sich als Zeichnerin dagegen sehr rar. Wahrgenommen wurde sie außerhalb der Berliner Szene erst 2009, dann aber gewaltig: "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" erschien im hochambitionierten, aber kleinen Avant Verlag und erzählt schonungslos über Ulli Lusts Jugend als Punkerin und Ausreißerin nach Italien. Danach brauchte es vier Jahre für die gefeierte Romanadaption von Marcel Beyers "Flughunde", die bei Suhrkamp herauskam - als zweiter Comic des wichtigsten deutschen Literaturverlags nach dem Sensationserfolg von Nikolas Mahlers "Alte Meister" nach Thomas Bernhard. Und nun hat Suhrkamp auch wieder den Zuschlag erhalten für das dritte große Lust-Werk, "Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein", das graphisch wie inhaltlich "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" fortsetzt. Wenn man darauf wartet, dass endlich einmal ein bedeutender deutscher Literaturpreis an einen Comic geht, dann hat man mit Kleists und Lusts neuen Büchern heiße Kandidaten.
Was macht ihre Bedeutung aus? Die Intensität des Erzählens bei Ulli Lust, die Originalität des Zeichnens bei Reinhard Kleist. In "Nick Cave" wird das Prinzip der Seitenarchitektur als feste Verfugung der Bilder auf einer Seite einem anderen Verfahren geopfert: der Verschmelzung von Panels, die ineinandergreifen und zu ganzseitigen Arrangements werden, die gerade nicht mehr Stabilität, sondern Spontaneität und Transgression vermitteln wollen - ihrem Thema adäquat, der Rockmusik und speziell dem Schaffen von Nick Cave. In Chaos und Wildwuchs der Karriere dieses exzentrischen Künstlers, der nach Drogenexzessen und musikalischem Scheitern schließlich im West-Berlin der achtziger Jahre zu sich und seinem Stil fand, hat Kleist den geeigneten Stoff für eine graphische Tour de Force gefunden. Und für eine inhaltliche.
Denn hier wird nicht chronologisch erzählt, ja nicht einmal realistisch. Der Comic vermischt Lebensstationen mit Liedtexten, ohne eine einzige Jahreszahl zu nennen. Cave trifft immer wieder auf diverse Alter Egos: jüngere, ältere, Figuren aus seinen Liedern und aus seinem Roman "Und die Eselin sah den Engel". Wiederkehrendes Motiv ist das religiös grundierte Erlösungsstreben, doch das wird kontrastiert mit einem ebenso unsentimentalen wie rücksichtslosen Umgang mit seinen Mitstreitern. Im Zentrum steht immer Nick Cave; nur nebenbei wird im Comic zum Beispiel erwähnt, dass sein Freund und Gitarrist Blixa Bargeld die Band verlassen hat und ein gewisser Warren Ellis eingetreten ist. Wer nicht schon einiges über Nick Cave (und damit über Blixa Bargeld und Warren Ellis) weiß, der darf nicht erwarten, von Kleist Erläuterungen zu bekommen. Er arrangiert Begebenheiten, kommentiert sie aber nicht.
Damit gehorcht sein Comic dem Prinzip eines Pop-Albums, und er bietet denn auch immer wieder graphisch interpretierte Liedtexte, die sich stilistisch deutlich vom Rest der Geschichte unterscheiden. Wobei Kleist für die immer wieder ins Phantastische spielende Cave-Biographie zu den eigenen Anfängen zurückgekehrt ist, zu Bravourstücken wie seinem Band "Amerika" von 1998 oder der Heftserie "Fucked" von 2000 - beides Arbeiten, auf die Kleist sich jahrelang nicht gerne ansprechen ließ. Nun aber erweisen sich deren Stimmungen als genau passend zum rauen Stil von Caves erster Band, The Birthday Party, und dem der späteren Bad Seeds.
Auch Ulli Lust greift graphisch über den Vorgängerband "Flughunde" zurück, wobei das der Kontinuität zu ihrer ersten autobiographischen Erzählung geschuldet ist: Der Drastik bei der Schilderung sexueller Affären und der Ich-Fixiertheit der Protagonistin Ulli entspricht die bewusst kleinteilige Seitenarchitektur und bisweilen krude Gestaltung der Figuren. Thema ist das Liebesleben einer jungen Frau in Wien, die ihre erste große Leidenschaft platonisch werden lässt, um mit anderen Partnern ihre erotischen Träume auszuleben. Geschickt blendet Ulli Lust an Schlüsselstellen ruhiggestellte ganzseitige Bilder ein, dann wieder lässt sie den sexuellen Exzess auch graphisch regieren, wobei sie manchmal Bildideen ihrer belgischen Kollegen Judith Vanistendael variiert. Doch für die schockierende Intensität dieses scheinbar unbedeutenden individuellen Schicksals gibt es in Europa kaum Vorbilder; man muss bis nach Amerika zu Chester Brown oder Jason Lutes sehen, um annähernd Vergleichbares zu finden. Ulli Lust zählt mit ihrem neuen Band endgültig zur internationale Spitze der Comic-Autobiographen.
Sie kennt keine Skrupel, pfeift auf politische Korrektheit, hier ist alles radikal subjektiv und expressiv, ein Selbstporträt mit bedingungslosem Mut zur Entblößung. Das ist ein ganz anderer Ton als bei Reinhard Kleist, der bislang noch nie dezidiert autobiographisch erzählt hat (mit Ausnahme der journalistischen Comics natürlich). Doch seinem "Nick Cave" merkt man die persönliche Anteilnahme an. Die masochistische Rücksichtslosigkeit des Erzählens ist hier nur besser kaschiert als bei Ulli Lust. Was mag Nick Cave, der dem Comic nach Fertigstellung seinen Segen gegeben hat, etwa bei einer Szene gleich zu Beginn empfunden haben, in der ein Junge in einen Abgrund stürzt? Wem bekannt ist, dass Cave erst vor wenigen Jahren einen seiner Söhne durch einen tödlichen Klippensturz verloren hat, der mag eine Vorstellung davon haben, was auch Reinhard Kleist hier riskiert hat. Ohne Caves Billigung wäre dieser Band nicht erschienen. Aber wie hätte ein großer Künstler ein großes Kunstwerk verkennen können? Hier wird ohne Sicherheitsnetz erzählt. Aber mit doppeltem Boden.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei deutsche Comics machen Sensation: Ulli Lust erzählt in "Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein" ihr Leben weiter, Reinhard Kleist widmet Nick Cave eine Musikerbiographie der besonderen Art.
Es ist ein Ereignis: Nahezu gleichzeitig haben jetzt zwei der bedeutendsten und international erfolgreichsten deutschsprachigen Comiczeichner neue Hauptwerke veröffentlicht. Sie stammen von einer Frau und einem Mann, beide etwa gleich alt (geboren 1967 beziehungsweise 1970), sie in Wien, er in der Nähe von Köln, heute leben beide in Berlin, aber nur einer ihrer Bände hat zentral etwas mit dieser Stadt zu tun. Es handelt sich dabei um eine Musikerbiographie, der andere Band ist autobiographisch. Beide Bücher sind mit mehr als dreihundert Seiten von gewaltigem Umfang, setzen aber nicht nur damit die Entwicklung in Deutschland zu komplexen Comicpublikationen entscheidend fort: Beide loten, obwohl einmal streng schwarzweiß und das andere Mal nur mit einer Zusatzfarbe (Rosa) gedruckt, auch graphisch konsequent aus, was diese Erzählform hergibt. Und es sind beides ganz gegenwärtige Stoffe, wenn auch das Geschehen im autobiographischen Comic zu Beginn der neunziger Jahre angesiedelt ist und die Musikerbiographie ein mittlerweile sechzigjähriges Leben umfasst. Die Rede ist von Ulli Lusts "Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein" und von Reinhard Kleists "Nick Cave - Mercy on me".
Auf beide Comics haben wir sehnlich gewartet, weil sie thematisch an die berühmtesten Werke dieser beiden Autoren anknüpfen. Kleist ist einer der produktivsten deutschen Zeichner, aber seinen großen Durchbruch hatte er 2006 mit einer anderen Musikerbiographie, "Cash - I see a darkness" über den Country-Star Johnny Cash, damals sein Debüt bei Carlsen, dem traditionsreichsten Comicverlag hierzulande. Ihm blieb Kleist bis heute treu, obwohl er zwei seiner erfolgreichsten Comics, die vielfach preisgekrönten Geschichten "Der Boxer" und "Der Traum von Olympia", in dieser Zeitung erstveröffentlichte, bevor sie dann auch als Bücher erschienen. Nebenher zeichnete Kleist journalistisch und als Illustrator, doch weltweit zum Maßstab geworden ist er seit "Cash" im biographischen Genre; auch Fidel Castro hat er einen umfangreichen Band gewidmet. Von seinem Nick-Cave-Projekt erzählte er erstmals vor drei Jahren; da hatte ihm der australische Musiker gerade seine Zustimmung erteilt.
Ulli Lust macht sich als Zeichnerin dagegen sehr rar. Wahrgenommen wurde sie außerhalb der Berliner Szene erst 2009, dann aber gewaltig: "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" erschien im hochambitionierten, aber kleinen Avant Verlag und erzählt schonungslos über Ulli Lusts Jugend als Punkerin und Ausreißerin nach Italien. Danach brauchte es vier Jahre für die gefeierte Romanadaption von Marcel Beyers "Flughunde", die bei Suhrkamp herauskam - als zweiter Comic des wichtigsten deutschen Literaturverlags nach dem Sensationserfolg von Nikolas Mahlers "Alte Meister" nach Thomas Bernhard. Und nun hat Suhrkamp auch wieder den Zuschlag erhalten für das dritte große Lust-Werk, "Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein", das graphisch wie inhaltlich "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" fortsetzt. Wenn man darauf wartet, dass endlich einmal ein bedeutender deutscher Literaturpreis an einen Comic geht, dann hat man mit Kleists und Lusts neuen Büchern heiße Kandidaten.
Was macht ihre Bedeutung aus? Die Intensität des Erzählens bei Ulli Lust, die Originalität des Zeichnens bei Reinhard Kleist. In "Nick Cave" wird das Prinzip der Seitenarchitektur als feste Verfugung der Bilder auf einer Seite einem anderen Verfahren geopfert: der Verschmelzung von Panels, die ineinandergreifen und zu ganzseitigen Arrangements werden, die gerade nicht mehr Stabilität, sondern Spontaneität und Transgression vermitteln wollen - ihrem Thema adäquat, der Rockmusik und speziell dem Schaffen von Nick Cave. In Chaos und Wildwuchs der Karriere dieses exzentrischen Künstlers, der nach Drogenexzessen und musikalischem Scheitern schließlich im West-Berlin der achtziger Jahre zu sich und seinem Stil fand, hat Kleist den geeigneten Stoff für eine graphische Tour de Force gefunden. Und für eine inhaltliche.
Denn hier wird nicht chronologisch erzählt, ja nicht einmal realistisch. Der Comic vermischt Lebensstationen mit Liedtexten, ohne eine einzige Jahreszahl zu nennen. Cave trifft immer wieder auf diverse Alter Egos: jüngere, ältere, Figuren aus seinen Liedern und aus seinem Roman "Und die Eselin sah den Engel". Wiederkehrendes Motiv ist das religiös grundierte Erlösungsstreben, doch das wird kontrastiert mit einem ebenso unsentimentalen wie rücksichtslosen Umgang mit seinen Mitstreitern. Im Zentrum steht immer Nick Cave; nur nebenbei wird im Comic zum Beispiel erwähnt, dass sein Freund und Gitarrist Blixa Bargeld die Band verlassen hat und ein gewisser Warren Ellis eingetreten ist. Wer nicht schon einiges über Nick Cave (und damit über Blixa Bargeld und Warren Ellis) weiß, der darf nicht erwarten, von Kleist Erläuterungen zu bekommen. Er arrangiert Begebenheiten, kommentiert sie aber nicht.
Damit gehorcht sein Comic dem Prinzip eines Pop-Albums, und er bietet denn auch immer wieder graphisch interpretierte Liedtexte, die sich stilistisch deutlich vom Rest der Geschichte unterscheiden. Wobei Kleist für die immer wieder ins Phantastische spielende Cave-Biographie zu den eigenen Anfängen zurückgekehrt ist, zu Bravourstücken wie seinem Band "Amerika" von 1998 oder der Heftserie "Fucked" von 2000 - beides Arbeiten, auf die Kleist sich jahrelang nicht gerne ansprechen ließ. Nun aber erweisen sich deren Stimmungen als genau passend zum rauen Stil von Caves erster Band, The Birthday Party, und dem der späteren Bad Seeds.
Auch Ulli Lust greift graphisch über den Vorgängerband "Flughunde" zurück, wobei das der Kontinuität zu ihrer ersten autobiographischen Erzählung geschuldet ist: Der Drastik bei der Schilderung sexueller Affären und der Ich-Fixiertheit der Protagonistin Ulli entspricht die bewusst kleinteilige Seitenarchitektur und bisweilen krude Gestaltung der Figuren. Thema ist das Liebesleben einer jungen Frau in Wien, die ihre erste große Leidenschaft platonisch werden lässt, um mit anderen Partnern ihre erotischen Träume auszuleben. Geschickt blendet Ulli Lust an Schlüsselstellen ruhiggestellte ganzseitige Bilder ein, dann wieder lässt sie den sexuellen Exzess auch graphisch regieren, wobei sie manchmal Bildideen ihrer belgischen Kollegen Judith Vanistendael variiert. Doch für die schockierende Intensität dieses scheinbar unbedeutenden individuellen Schicksals gibt es in Europa kaum Vorbilder; man muss bis nach Amerika zu Chester Brown oder Jason Lutes sehen, um annähernd Vergleichbares zu finden. Ulli Lust zählt mit ihrem neuen Band endgültig zur internationale Spitze der Comic-Autobiographen.
Sie kennt keine Skrupel, pfeift auf politische Korrektheit, hier ist alles radikal subjektiv und expressiv, ein Selbstporträt mit bedingungslosem Mut zur Entblößung. Das ist ein ganz anderer Ton als bei Reinhard Kleist, der bislang noch nie dezidiert autobiographisch erzählt hat (mit Ausnahme der journalistischen Comics natürlich). Doch seinem "Nick Cave" merkt man die persönliche Anteilnahme an. Die masochistische Rücksichtslosigkeit des Erzählens ist hier nur besser kaschiert als bei Ulli Lust. Was mag Nick Cave, der dem Comic nach Fertigstellung seinen Segen gegeben hat, etwa bei einer Szene gleich zu Beginn empfunden haben, in der ein Junge in einen Abgrund stürzt? Wem bekannt ist, dass Cave erst vor wenigen Jahren einen seiner Söhne durch einen tödlichen Klippensturz verloren hat, der mag eine Vorstellung davon haben, was auch Reinhard Kleist hier riskiert hat. Ohne Caves Billigung wäre dieser Band nicht erschienen. Aber wie hätte ein großer Künstler ein großes Kunstwerk verkennen können? Hier wird ohne Sicherheitsnetz erzählt. Aber mit doppeltem Boden.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ulli Lust zählt mit ihrem neuen Band endgültig zur internationalen Spitze der Comic-Autobiographen.« Andreas Platthaus Frankfurter Allgemeine Zeitung 20170908