Werden unsere Kinder immer dümmer? Nein. Doch sie werden immer ungebildeter. Das liegt an einer Bildungspolitik, die keine Probleme löst, sondern Probleme schafft. Drei große Bereiche prangert Bestsellerautor Josef Kraus an: die uneinheitliche und teils unsinnige Struktur unseres Bildungssystems; die Inhalte der Lehrpläne, die eher Leerpläne sind; und das Problemfeld "Sprache", die doch das Grundlegende ist, was Schüler überhaupt zum Lernen und Leben befähigt. Ist also alles verloren? Nicht ganz. Laut Kraus gibt es durchaus Möglichkeiten für Politiker, Pädagogen und Eltern, dem Abwärtstrend entgegenzuwirken. Was Bildung braucht, sind Inhalte und Zeit. Eine provokante und praxisnahe Streitschrift, in der es darum geht, wie man heute, online oder offline, Kindern bei ihrem Weg in die Welt beistehen kann. - Bildungslücken dank desolatem System: Wie Eltern trotzdem ihre Kinder aufs Leben vorbereiten können - Streitbarer Bildungsexperte - Provokant, klar und strukturiert
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2017Gründliches Misstrauen, notfalls Revolte
Hinter den Kulissen der Bildungsmisere: Josef Kraus weiß, wer die dauernden Reformen gegen den Willen der Bürger durchsetzt.
Josef Kraus, Präsident des Lehrerverbandes und langjährige Schulleiter eines bayerischen Gymnasiums, gehört nicht zu denjenigen, die ihre Ansichten nach jeder Richtung abgepolstert und politisch korrekt äußern. Mit dem Titel "Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt" legt er jetzt eine polemische Generalabrechnung mit dem deutschen Bildungssystem vor. Die entscheidenden Ursachen des Niedergangs sieht er in der Egalitäts-Falle und der manischen Praxis der Gleichmacherei, in der Hybrisfalle, also dem Irrglauben, jeder noch so Unbegabte könne begabt gemacht werden, in einer Spaß-, Erleichterungs-, Gefälligkeitspädagogik, die so tut, als müsse Schule immer "cool" sein.
Hinzu kommen die Quotenfalle, also die planwirtschaftliche Vermessenheit, möglichst allen ein Abiturzeugnis zu geben und keinen Schüler eine "Ehrenrunde" drehen zu lassen, und die Beschleunigungsfalle, die von der frühen Einschulung ausgehend, meint, mit immer weniger Unterrichtsstunden zu besser gebildeten Absolventen und zu einer gigantisch gesteigerten Abiturienten- und Akademikerquote zu kommen. Diese Fallgruben "drohen Individualität, Leistung, Anstrengungsbereitschaft, natürliche Reifung und Qualität" zur Strecke zu bringen, meint Kraus.
Kraus nimmt seine Leser mit auf eine Tour d'Horizon in vier Kapiteln über alle zentralen Themen der Bildungsdebatte: das Kompetenzgerede, die Digitalisierung, den Bildungsbegriff, das Gymnasium, die Ganztagsschule, die Inklusion, die Verramschung der Sprache und die Recht- beziehungsweise "Schlechtschreibung". Das Buch endet mit einem Katalog von Ratschlägen an die Eltern. Bei polemischen Phrasen bleibt der Autor nicht stehen, er argumentiert mit vielen Fakten und Beobachtungen, der erfahrene Lehrer spricht aus jeder Zeile. Die Anmerkungen sind knapp gehalten und finden sich im Anhang mit wenigen weiterführenden Literaturhinweisen.
Zu den aufschlussreichsten Passagen gehört die Darstellung des Medienmoguls Bertelsmann mit seinen Auswirkungen auf das Bildungssystem. In den Jahren 2015 und 2016 hatte die Bertelsmann-Stiftung laut Kraus einen Jahresetat von rund siebzig Millionen Euro, das Gesamtvolumen ihrer Projekte von 1977 bis 2015 beläuft sich auf 1,27 Milliarden Euro. Bezeichnend für ihre Vorgehensweise ist ein Strategieentwurf aus dem Jahre 2009, der wohlweislich nicht mehr im Netz zu finden ist. Der Entwurf, so Kraus, sei "eine Art Vademecum für die Durchsetzung von Reformen gegen den Willen der Bürger und zur Ausschaltung von Vetospielern". Deren Widerstände müssten durch einen "geschickten Partizipationsstil" aufgebrochen werden.
Wie man Widerstände ausschaltet, beschreiben spätere Broschüren der Stiftung, die Kraus in die Nähe der geheimdienstlichen Zersetzung gegen oppositionelle Gruppen in der früheren DDR rückt. Die Nähe zwischen Bertelsmann und der Politik ist denkbar groß. Die Liste der Namen, die mit Bertelsmann enge Verbindung pflegen, "liest sich wie ein ,Who's who' der deutschen und internationalen Politik", konstatiert Kraus.
Die zahlreichen Bertelsmann-Studien nach Veröffentlichung der Pisa-Studie reichen von den Ausgaben für Nachhilfe über die vermeintlich nicht existente Durchlässigkeit des Schulsystems bis zum Sitzenbleiben bis zu Hausaufgaben und skandalisieren so ziemlich alles, allerdings gehe der Nährwert für die Schulen gegen null, so Kraus. Ohne das mediale Getöse, das die Veröffentlichung begleitet, hätte vermutlich schon längst niemand mehr Notiz davon genommen. Trotzdem bleibt der Einfluss von Bertelsmann auf die Bildungspolitik bemerkenswert. Pikanterweise überschneiden sich bei Bertelsmann Stiftungstätigkeit und Geschäftsfelder nicht selten. So gab die Stiftung eine Studie zur Notwendigkeit der Digitalisierung in Auftrag und vertreibt gleichzeitig die dazu nötigen Produkte.
Ein starkes Stück ist auch die Darstellung des Gymnasiums. Hier kritisiert Kraus den neuesten Verkaufsschlager der Kultusministerkonferenz (KMK), den Aufgabenpool, als reine Schaufensterpolitik, weil er mehr Vergleichbarkeit nur vorgaukele. Zum einen sei nicht sicher, dass ein Abiturient überhaupt eine Aufgabe aus dem länderübergreifenden Angebot wähle, zum andern lägen die eigentlichen Unterschiede in einer unterschiedlichen Gewichtung der vertieften Fächer oder Leistungskurse. In Hamburg erführen die Kandidaten das Prüfungsthema der sogenannten Präsentationsprüfung im mündlichen Abitur sogar zwei Wochen vorher. Die vermeintlich größere Vergleichbarkeit, die sich bei genauem Hinsehen als winzig entpuppt, wird von den Ländern selbst an anderer Stelle also wieder unterlaufen.
Der erste Ratschlag Kraus' an die Eltern, der Schulpolitik gründlich zu misstrauen und notfalls Revolten zu inszenieren, mutet geradezu anarchisch an. Aber es soll natürlich eine Revolte für eine anspruchsvolle Gymnasialbildung sein - und ob sich dazu alle Eltern bereitfinden? Schließlich wäre das mit schlechteren Zeugnissen und vielleicht sogar mit weniger Abiturienten verbunden. Als Autor einer Streitschrift über "Helikopter Eltern" (2013) appelliert Kraus an Eltern, Mut zur Autorität zu haben und den Kindern als Vorbild zu dienen. Mit anderen Worten: wenn Vater und Mutter ihre digitalen Geräte nicht aus der Hand legen, dürfen sie sich auch nicht wundern, Wenn ihre Kinder kein Buch in die Hand nehmen. Und augenzwinkernd zum Schluss: "Humor ist ein gutes Mittel zur Kontingenzbewältigung."
HEIKE SCHMOLL
Josef Kraus: "Wie man eine Bildungsnation
an die Wand fährt."
Und was Eltern jetzt
wissen müssen.
Herbig Verlag, München 2017. 272 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hinter den Kulissen der Bildungsmisere: Josef Kraus weiß, wer die dauernden Reformen gegen den Willen der Bürger durchsetzt.
Josef Kraus, Präsident des Lehrerverbandes und langjährige Schulleiter eines bayerischen Gymnasiums, gehört nicht zu denjenigen, die ihre Ansichten nach jeder Richtung abgepolstert und politisch korrekt äußern. Mit dem Titel "Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt" legt er jetzt eine polemische Generalabrechnung mit dem deutschen Bildungssystem vor. Die entscheidenden Ursachen des Niedergangs sieht er in der Egalitäts-Falle und der manischen Praxis der Gleichmacherei, in der Hybrisfalle, also dem Irrglauben, jeder noch so Unbegabte könne begabt gemacht werden, in einer Spaß-, Erleichterungs-, Gefälligkeitspädagogik, die so tut, als müsse Schule immer "cool" sein.
Hinzu kommen die Quotenfalle, also die planwirtschaftliche Vermessenheit, möglichst allen ein Abiturzeugnis zu geben und keinen Schüler eine "Ehrenrunde" drehen zu lassen, und die Beschleunigungsfalle, die von der frühen Einschulung ausgehend, meint, mit immer weniger Unterrichtsstunden zu besser gebildeten Absolventen und zu einer gigantisch gesteigerten Abiturienten- und Akademikerquote zu kommen. Diese Fallgruben "drohen Individualität, Leistung, Anstrengungsbereitschaft, natürliche Reifung und Qualität" zur Strecke zu bringen, meint Kraus.
Kraus nimmt seine Leser mit auf eine Tour d'Horizon in vier Kapiteln über alle zentralen Themen der Bildungsdebatte: das Kompetenzgerede, die Digitalisierung, den Bildungsbegriff, das Gymnasium, die Ganztagsschule, die Inklusion, die Verramschung der Sprache und die Recht- beziehungsweise "Schlechtschreibung". Das Buch endet mit einem Katalog von Ratschlägen an die Eltern. Bei polemischen Phrasen bleibt der Autor nicht stehen, er argumentiert mit vielen Fakten und Beobachtungen, der erfahrene Lehrer spricht aus jeder Zeile. Die Anmerkungen sind knapp gehalten und finden sich im Anhang mit wenigen weiterführenden Literaturhinweisen.
Zu den aufschlussreichsten Passagen gehört die Darstellung des Medienmoguls Bertelsmann mit seinen Auswirkungen auf das Bildungssystem. In den Jahren 2015 und 2016 hatte die Bertelsmann-Stiftung laut Kraus einen Jahresetat von rund siebzig Millionen Euro, das Gesamtvolumen ihrer Projekte von 1977 bis 2015 beläuft sich auf 1,27 Milliarden Euro. Bezeichnend für ihre Vorgehensweise ist ein Strategieentwurf aus dem Jahre 2009, der wohlweislich nicht mehr im Netz zu finden ist. Der Entwurf, so Kraus, sei "eine Art Vademecum für die Durchsetzung von Reformen gegen den Willen der Bürger und zur Ausschaltung von Vetospielern". Deren Widerstände müssten durch einen "geschickten Partizipationsstil" aufgebrochen werden.
Wie man Widerstände ausschaltet, beschreiben spätere Broschüren der Stiftung, die Kraus in die Nähe der geheimdienstlichen Zersetzung gegen oppositionelle Gruppen in der früheren DDR rückt. Die Nähe zwischen Bertelsmann und der Politik ist denkbar groß. Die Liste der Namen, die mit Bertelsmann enge Verbindung pflegen, "liest sich wie ein ,Who's who' der deutschen und internationalen Politik", konstatiert Kraus.
Die zahlreichen Bertelsmann-Studien nach Veröffentlichung der Pisa-Studie reichen von den Ausgaben für Nachhilfe über die vermeintlich nicht existente Durchlässigkeit des Schulsystems bis zum Sitzenbleiben bis zu Hausaufgaben und skandalisieren so ziemlich alles, allerdings gehe der Nährwert für die Schulen gegen null, so Kraus. Ohne das mediale Getöse, das die Veröffentlichung begleitet, hätte vermutlich schon längst niemand mehr Notiz davon genommen. Trotzdem bleibt der Einfluss von Bertelsmann auf die Bildungspolitik bemerkenswert. Pikanterweise überschneiden sich bei Bertelsmann Stiftungstätigkeit und Geschäftsfelder nicht selten. So gab die Stiftung eine Studie zur Notwendigkeit der Digitalisierung in Auftrag und vertreibt gleichzeitig die dazu nötigen Produkte.
Ein starkes Stück ist auch die Darstellung des Gymnasiums. Hier kritisiert Kraus den neuesten Verkaufsschlager der Kultusministerkonferenz (KMK), den Aufgabenpool, als reine Schaufensterpolitik, weil er mehr Vergleichbarkeit nur vorgaukele. Zum einen sei nicht sicher, dass ein Abiturient überhaupt eine Aufgabe aus dem länderübergreifenden Angebot wähle, zum andern lägen die eigentlichen Unterschiede in einer unterschiedlichen Gewichtung der vertieften Fächer oder Leistungskurse. In Hamburg erführen die Kandidaten das Prüfungsthema der sogenannten Präsentationsprüfung im mündlichen Abitur sogar zwei Wochen vorher. Die vermeintlich größere Vergleichbarkeit, die sich bei genauem Hinsehen als winzig entpuppt, wird von den Ländern selbst an anderer Stelle also wieder unterlaufen.
Der erste Ratschlag Kraus' an die Eltern, der Schulpolitik gründlich zu misstrauen und notfalls Revolten zu inszenieren, mutet geradezu anarchisch an. Aber es soll natürlich eine Revolte für eine anspruchsvolle Gymnasialbildung sein - und ob sich dazu alle Eltern bereitfinden? Schließlich wäre das mit schlechteren Zeugnissen und vielleicht sogar mit weniger Abiturienten verbunden. Als Autor einer Streitschrift über "Helikopter Eltern" (2013) appelliert Kraus an Eltern, Mut zur Autorität zu haben und den Kindern als Vorbild zu dienen. Mit anderen Worten: wenn Vater und Mutter ihre digitalen Geräte nicht aus der Hand legen, dürfen sie sich auch nicht wundern, Wenn ihre Kinder kein Buch in die Hand nehmen. Und augenzwinkernd zum Schluss: "Humor ist ein gutes Mittel zur Kontingenzbewältigung."
HEIKE SCHMOLL
Josef Kraus: "Wie man eine Bildungsnation
an die Wand fährt."
Und was Eltern jetzt
wissen müssen.
Herbig Verlag, München 2017. 272 S., geb., 22,- [Euro].
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