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Alison McGhees Notruf an die Bodenstation
"Wenn du ein Geher bist, ein echter Geher, dann finden deine Füße selbst den Weg." Am Morgen nach dem Freitod seines Vaters beginnt der desorientierte Junge Will, durch die Straßen von Los Angeles zu laufen. Die Bestsellerautorin Alison McGhee verwebt Erwachsenwerden mit dem Erlaufen einer Welt fern des heimischen Blocks, evoziert Traumata und versehrte Seelen, Evasion und Heilung, wandernde Schuhe und einen flügge werdenden Geist.
Dabei hat Will einiges, mit dem er irgendwie klarkommen muss. Neben Vaters unerklärlichem Selbstmord gibt ihm - in jugendbuchtypischer Addierung extremer Ereignisse, die hier aber extrem leise behandelt werden - die Vergewaltigung seiner platonischen Freundin Playa auf einer Party, die er vorzeitig verließ, Anlass für quälende Selbstvorwürfe. Zugleich wird deutlich, dass die Autorin ihrem Roman eine strenge Form verleiht: Er umfasst hundert Seiten mit je rund hundert Worten (die linke Seite nimmt jeweils die Episodenzahl in chinesischen Schriftzeichen ein).
Zusammengenommen ergibt sich daraus eine Schule der Empathie. Wills Lebensweg und Laufparcours kreuzen Menschen und Tiere, die in ihrem Leben auf unterschiedliche Weisen gegen Hindernisse stoßen: etwa der Inhaber des Supermarkts "Dollar Only" (wo Will jobbt), der mangels sozialer Kompetenz einsam ist, ein autistischer Junge, der Schmetterlinge liebt, ein Obdachloser namens Superman oder ein "wahnsinniger" Kettenhund. Es ist eine Initiationsgeschichte und ein Inklusionsroman über Außenseiter, Selbstverlorene, Ausgegrenzte. Als Soundtrack untermalt David Bowies "Space Oddity" das Buch, und kaum zufällig lautet der Spitzname des Ladeninhabers "Major Tom". Will kommuniziert mit ihm im Raumfahrerjargon: "Ground Control to Major Tom", sage ich. "Der Fußboden muss dringend gewischt werden."
McGhee schildert die Gefühlswelt Jugendlicher in dem Moment, "wenn einem alles über den Kopf wächst". Dabei lernt Will, dass Leiden universell ist, auch wenn jeder Mensch sich für besonders vom Schicksal gebeutelt hält. Will beginnt, auf Stationen seines Joggingwegs und den Stippvisiten bei Einsamen heimlich die in Major Toms Ramschladen erstandenen Geschenke zu verteilen.
Im Mitgefühl und in der Konnektivität aller Mitgeschöpfe trägt das Buch der China-Liebhaberin McGhee, in dem auch ein "Voodoo-Laden" mit chinesischen Segenssprüchen eine Rolle spielt, buddhistisch-kosmologische Züge: "Die Welt ist voller Luft. Voller Himmel und Weltall. Auch voller Meer", was im Umkehrschluss darauf abzielt, wie winzig und nichtig der Mensch und seine Intrigen aus dieser Perspektive betrachtet sind. Im Fluss der Schritte und Gedankenflüge gestaltet McGhee Exerzitien der Bewältigung von Scham und Pein. So versucht Will, das Rezept von Dads selbst gebackenem Maisbrot, das er zu dessen Lebzeiten nicht zu schätzen wusste, zu rekonstruieren. Und über alldem schwebt die Frage, warum der Vater tatsächlich seinem Leben ein Ende machte - Antworten gibt es da naturgemäß nicht, allenfalls Vermutungen, die etwa das Problem gesellschaftlicher Fassaden eines Menschen berühren, der sich nie freilaufen konnte.
McGhees melancholischer Roman erzählt verdichtetes Leid. Erzählerisch birgt das Gefahren, nicht zuletzt die des Sozialkitsches, aber Wills ironischer Abstand zu den Dingen und Menschen auch als Wohltäter verhindert das: Der Läufer durch Brennpunkte von Los Angeles lernt das Gehen mit "aufrechtem Gang" und das Verrücktsein als Frage des Standpunktes zu verstehen.
Am Ende verlassen Will und Playa, der er das erste winzige Lachen "seit es passiert ist" entlockt, die Raumkapsel der Trauer und Isolation. Während Wills Dad mit einem Bowie-Zitat "in einer Blechbüchse hoch über der Erde" schwebt, lernen Will und Playa im Smog von Los Angeles die Sterne zu sehen.
STEFFEN GNAM
Alison McGhee: "Wie man eine Raumkapsel verlässt". Roman.
Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann. dtv Reihe Hanser, München 2021. 208 S., br., 12,95 Euro. Ab 12 J.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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