Nach 1945 liegt Nietzsches Ruf genauso in Trümmern wie der europäische Kontinent. Ausgerechnet Giorgio Colli und Mazzino Montinari, zwei italienische Antifaschisten, entschließen sich, den gefährlichen Denker zu rehabilitieren. Ihr Ziel: Nietzsches Nachlass neu zu entziffern, um alle postumen Verfälschungen rückgängig zu machen. Ihr Problem: Zehntausende kaum lesbarer Seiten, die sich in der DDR befinden, wo Nietzsche offiziell als Staatsfeind gilt. In seinem brillant geschriebenen Buch erzählt Philipp Felsch ein intellektuelles Abenteuer im Spannungsfeld des Kalten Krieges, das von Florenz über Weimar und Ost-Berlin bis ins Paris der Postmoderne führt. Wer die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegebene Nietzsche-Gesamtausgabe aufschlägt, betritt eine Wüste akribischer Gelehrsamkeit. In seinem aufregenden neuen Buch folgt Philipp Felsch den beiden Philologen auf ihrer epischen Suche nach dem echten Nietzsche, die zwischen die politischen und philosophischen Fronten des Kalten Krieges führt. Während Colli und Montinari im Osten ins Visier der Staatssicherheit geraten, schlägt ihnen im Westen der Widerstand der neuen Meisterdenker entgegen, die die Idee des authentischen Urtexts, ja der Wahrheit selbst in Frage stellen. Zu guter Letzt wird ihre Ausgabe sogar für den Fall der Mauer verantwortlich gemacht. Die Geschichte des Kampfs um Nietzsches Überlieferung, zugleich ein intellektuelles Porträt der Epoche, macht deutlich, welche Sprengkraft bis heute in seinem Denken liegt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2022Auf Taubenfüßen
Der Philosoph, der aus der Kälte kam: Philipp Felsch erzählt, wie zwei Italiener Nietzsche retteten und damit die Postmoderne inspirierten.
Sich einen italienischen Kommunisten vorzustellen, wie er an einem Apriltag 1961, vier Monate vor dem Mauerbau, im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar zum ersten Mal einen Originalzettel Nietzsches in der Hand hält und davon so ergriffen ist, dass er zum lebenslangen Leser dieses "Antiphilosophen" wird, das ist eine wirklich nietzscheanische Aufgabe. Nietzscheanisch in dem Sinn, dass Nietzsche immer unzeitgemäß sein und verstanden werden wollte. Und was kann in einer Zeit, in der das oder der Böse wieder einen Namen hat, mehr aus der Zeit gefallen sein als die Beschäftigung mit dem Autor eines Buches, das "Jenseits von Gut und Böse" heißt?
Mazzino Montinari, so heißt der italienische Kommunist, um den es hier auch geht, fand Weimar Anfang der Sechzigerjahre wie "aus der Zeit" gefallen. Dort, ausgerechnet "in einer bildungsbürgerlichen Enklave des real existierenden Sozialismus", habe er sein "persönliches Posthistoire" gefunden, wie Philipp Felsch schreibt. Felsch, Kulturwissenschaftler an der Humboldt Universität in Berlin, erzählt in seiner gerade erschienenen Studie "Wie Nietzsche aus der Kälte kam" die "Geschichte einer Rettung", wie es im Untertitel heißt, und zwar eines Denkers, der schon im ganz Bösen versunken war. Das Böse waren in diesem Fall Adolf Hitler und die Nazis und ihr Wille zur Macht. Ein Wille, den die Nazis und ihre jungen Gefolgsleute aus den bildungswilligen Oberschichten auch den Schriften Nietzsches abgeschöpft hatten.
1901 war ein Band mit angeblich von Nietzsche stammenden Aphorismen unter dem Titel "Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte" herausgebracht worden, mit einem Vorwort von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche. Frau Förster-Nietzsche, die die Nachlassrechte am Werk ihres Bruders besaß, hatte gleich nach dessen Tod im August 1900 begonnen, sein angebliches Hauptwerk, als das sie den "Willen zur Macht" verkaufte, in stark bearbeiteter und verfälschender Weise zu publizieren. Dass heute alle Kompilationen, die unter ihrer Bearbeitung entstanden sind, als unhaltbar gelten, liegt an der akribischen philologischen Arbeit von Mazzino Montinari und seines Partners Giorgio Colli, die für die einzig wissenschaftlich relevante kritische Ausgabe der Werke Nietzsches verantwortlich zeichnen.
Wie Philipp Felsch zeigen kann, hatten Colli und Montinari mit ihrer Philologie nicht nur Nietzsche aus der Kälte seiner Schwester und der Nazis geholt, sie hatten auch die großen Jahre jener Theorie mit angestoßen, die man heute unter so dünnen Begriffen wie "Postmoderne" und "Posthistoire" verbucht. Felsch, bekannt geworden mit seinem Buch "Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte", unternimmt in seinem Nietzsche-Buch so etwas wie eine Tiefenbohrung zum langen Sommer der Theorie. Wobei Tiefenbohrung einen nicht abschrecken sollte. Felsch folgt bei aller Genauigkeit eben nicht Montinaris heiliger Versenkung in Nietzsches Zettel, in denen "kein Bild, kein Wort, nicht einmal ein Interpunktionszeichen anstelle eines anderen" beliebig seien, wie Montinari schrieb. Felsch geht es um zwei besondere Gründungsakte: um die beiden Italiener und ihre Motive bei der Hinwendung zu Nietzsches Schriften und um den Einbruch der Texte Nietzsches in die Theoriewelten der sogenannten Postmoderne. Als Ausgangspunkt dafür wählt er, ganz im Kanon der Ideengeschichte, ein Nietzsche-Kolloquium im Juli 1964 in Royaumont in der Nähe von Paris. Felsch lässt seine Nietzsche-Studie mit einer zerschlissenen Kopie des Programms der Tage von Royaumont beginnen, das anschaulich macht, wer hier zusammentraf.
Es waren auf der einen Seite Veteranen des Nietzscheanismus wie Jean Wahl und Karl Löwith. Letzterer hatte alle Phasen der Nietzsche-Verehrung seit der Jugendbewegung der Weimarer Republik durchlaufen, bis die Nazis ein Berufsverbot über ihn verhängten wegen seiner jüdischen Herkunft. Auf der anderen Seite standen hier junge, noch unbekannte Denker wie Michel Foucault und Gilles Deleuze. Dass Foucaults Beitrag "Nietzsche, Freud, Marx" es in der Folge zu Weltruhm brachte und, wie Felsch richtig bemerkt, der einzige ist, der heute noch gelesen wird, bildet nur einen Teil der Wirkungsgeschichte. Der andere, der lebendige Teil ist jener, den Felsch vorstellt und der die Qualität seiner Schreibweise ausmacht.
Denn was hier aufeinandertraf, waren nicht einfach Ideen, es waren Lebensformen und Mentalitäten. Foucault hatte in seinem Vortrag das Trio Nietzsche, Freud und Marx als Repräsentanten einer neuen, wilden Form der Lektüre vorgestellt. Als Leser und Interpreten, die nicht stur und stumm an heiligen Texten arbeiteten, sondern neue Kombinatoriken einführten, die ebenso das Ungeschriebene, die Latenzen der Zeit wie die Stimmungen und Töne der Umgebungen mitzulesen versuchten und in ihre Texte einfließen ließen. Ein Ansatz, der Colli und Montinari, die manchmal eine Woche daran arbeiteten, um nur einen Zettel Nietzsches zu entziffern, so fremd geblieben sein muss wie der ganze Kongress von Royaumont.
Felschs Qualität besteht darin, genau diese Fremdheit anschaulich zu machen. Er lässt die Tage von Royaumont mit der Busfahrt von Paris zum Kongressort beginnen und beschreibt, wie die beiden Italiener den Gesprächen der anderen über sie zuhören. In den Pausen des Kolloquiums werden die beiden beim Kaffee dann wohl auch eher allein und verloren herumgestanden haben, folgert Felsch. Das ist keine beliebige Spekulation, sondern erlebte Erfahrung. Felsch hat mittlerweile selbst genug Symposien oder Kolloquien organisiert, um zu wissen, wie es Außenseitern auf solchen Veranstaltungen ergeht. Und der Abstand zwischen den beiden Italienern, die eine vergangene Welt so getreu wie möglich rekonstruieren wollten, und den jungen Franzosen, die eine neue Welt in Buchstaben fassen wollten, muss sehr groß gewesen sein. Felsch gelingt es, diesen Abstand zu ermessen.
Mazzino Montinari war, als er von Gilles Deleuze die Einladung nach Royaumont erhielt, gerade dabei, aus der Toskana nach Weimar in der "Ostzone", wie die DDR damals oft genannt wurde, überzusiedeln. Eine Bewegung, die Nietzsches Lebensweg von Weimar über die Schweiz und Frankreich nach Italien in geradezu grotesker Weise umkehrt. Wer waren diese beiden italienischen Dilettanten, und wie kamen sie dazu, die Schriften von Nietzsche zu edieren, fragt Felsch dann auch an zentraler Stelle seines Buches und widmet den ersten Teil seiner Studie dieser Frage. Woher rührt ihre Hingabe an das Werk eines Philosophen, der - zumal für Linke - in den Sechzigerjahren noch ein Repräsentant des Bösen war? Wie Felsch dann dieses "unwahrscheinliche Paar" beschreibt, das sagt auch etwas über die Bedingungen der Postmoderne. In den verschiedensten Formen der sozialdemokratischen, westeuropäischen Bildungsoffensiven konnten sich die Klassen neu treffen. Colli und Montinari kannten einander aus der Schule. Colli war in der toskanischen Kleinstadt Lucca der Philosophielehrer Montinaris. Ein bürgerlicher Privatgelehrter mit graecophilen Obsessionen begegnete einem zwölf Jahre jüngeren Kommunisten mit proletarischem Familienhintergrund.
"Vom Glück, Kommunist zu sein", überschreibt Felsch eines der Kapitel zur Geschichte des jungen Montinari. Der Klassenunterschied spiegelte sich auch in Collis und Montinaris Persönlichkeiten. Der eine sei schweigsam, aristokratisch, in den Glorienschein einer fernen Vergangenheit entrückt gewesen, der andere lebendig, mitreißend, empathisch, der Gegenwart und ihrer Veränderung zugewandt, hat ein italienischer Journalist in einem Porträt der beiden geschrieben.
Was sie mit ganz unterschiedlichen Motiven zusammenführt, ist der Drang zur Wahrheit in den Texten Nietzsches. "Aller Luxus fließt an ihm ab, er will nur arbeiten", berichtete der Informelle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, der Montinari im Goethe- und Schiller-Archiv observierte. Für die DDR-Sicherheit ging von diesem Mann keine Gefahr aus, für die Kommunistischen Parteien des Westens vor allem in Italien und Frankreich aber schon. Liest man deren orthodoxe Geschichtsschreibung heute, dann waren es postmoderne Denker wie Gilles Deleuze und Michel Foucault, die das unorganisierte Chaos priesen, es auch in die linken Bewegungen einsickern ließen und sie damit auflösten, weil sie eine Welt ohne Halt und klares Oben und Unten in das Denken einführten.
Wie es dazu kommen konnte inmitten der kulturellen und politischen Beschleunigung der Sechzigerjahre, davon erzählt Philipp Felsch auf eine Weise, die diese Form der Philologie eben nicht als weltflüchtigen Eskapismus erscheinen lässt, sondern als einen jener Antriebe zur Veränderung die, wie Nietzsche mit Paulus wusste, auf Taubenfüßen daherkommen und nicht mit großem Kanonenknall.
CORD RIECHELMANN.
Philipp Felsch: "Wie Nietzsche aus der Kälte kam: Geschichte einer Rettung". C. H. Beck, 287 Seiten, 26 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Philosoph, der aus der Kälte kam: Philipp Felsch erzählt, wie zwei Italiener Nietzsche retteten und damit die Postmoderne inspirierten.
Sich einen italienischen Kommunisten vorzustellen, wie er an einem Apriltag 1961, vier Monate vor dem Mauerbau, im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar zum ersten Mal einen Originalzettel Nietzsches in der Hand hält und davon so ergriffen ist, dass er zum lebenslangen Leser dieses "Antiphilosophen" wird, das ist eine wirklich nietzscheanische Aufgabe. Nietzscheanisch in dem Sinn, dass Nietzsche immer unzeitgemäß sein und verstanden werden wollte. Und was kann in einer Zeit, in der das oder der Böse wieder einen Namen hat, mehr aus der Zeit gefallen sein als die Beschäftigung mit dem Autor eines Buches, das "Jenseits von Gut und Böse" heißt?
Mazzino Montinari, so heißt der italienische Kommunist, um den es hier auch geht, fand Weimar Anfang der Sechzigerjahre wie "aus der Zeit" gefallen. Dort, ausgerechnet "in einer bildungsbürgerlichen Enklave des real existierenden Sozialismus", habe er sein "persönliches Posthistoire" gefunden, wie Philipp Felsch schreibt. Felsch, Kulturwissenschaftler an der Humboldt Universität in Berlin, erzählt in seiner gerade erschienenen Studie "Wie Nietzsche aus der Kälte kam" die "Geschichte einer Rettung", wie es im Untertitel heißt, und zwar eines Denkers, der schon im ganz Bösen versunken war. Das Böse waren in diesem Fall Adolf Hitler und die Nazis und ihr Wille zur Macht. Ein Wille, den die Nazis und ihre jungen Gefolgsleute aus den bildungswilligen Oberschichten auch den Schriften Nietzsches abgeschöpft hatten.
1901 war ein Band mit angeblich von Nietzsche stammenden Aphorismen unter dem Titel "Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte" herausgebracht worden, mit einem Vorwort von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche. Frau Förster-Nietzsche, die die Nachlassrechte am Werk ihres Bruders besaß, hatte gleich nach dessen Tod im August 1900 begonnen, sein angebliches Hauptwerk, als das sie den "Willen zur Macht" verkaufte, in stark bearbeiteter und verfälschender Weise zu publizieren. Dass heute alle Kompilationen, die unter ihrer Bearbeitung entstanden sind, als unhaltbar gelten, liegt an der akribischen philologischen Arbeit von Mazzino Montinari und seines Partners Giorgio Colli, die für die einzig wissenschaftlich relevante kritische Ausgabe der Werke Nietzsches verantwortlich zeichnen.
Wie Philipp Felsch zeigen kann, hatten Colli und Montinari mit ihrer Philologie nicht nur Nietzsche aus der Kälte seiner Schwester und der Nazis geholt, sie hatten auch die großen Jahre jener Theorie mit angestoßen, die man heute unter so dünnen Begriffen wie "Postmoderne" und "Posthistoire" verbucht. Felsch, bekannt geworden mit seinem Buch "Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte", unternimmt in seinem Nietzsche-Buch so etwas wie eine Tiefenbohrung zum langen Sommer der Theorie. Wobei Tiefenbohrung einen nicht abschrecken sollte. Felsch folgt bei aller Genauigkeit eben nicht Montinaris heiliger Versenkung in Nietzsches Zettel, in denen "kein Bild, kein Wort, nicht einmal ein Interpunktionszeichen anstelle eines anderen" beliebig seien, wie Montinari schrieb. Felsch geht es um zwei besondere Gründungsakte: um die beiden Italiener und ihre Motive bei der Hinwendung zu Nietzsches Schriften und um den Einbruch der Texte Nietzsches in die Theoriewelten der sogenannten Postmoderne. Als Ausgangspunkt dafür wählt er, ganz im Kanon der Ideengeschichte, ein Nietzsche-Kolloquium im Juli 1964 in Royaumont in der Nähe von Paris. Felsch lässt seine Nietzsche-Studie mit einer zerschlissenen Kopie des Programms der Tage von Royaumont beginnen, das anschaulich macht, wer hier zusammentraf.
Es waren auf der einen Seite Veteranen des Nietzscheanismus wie Jean Wahl und Karl Löwith. Letzterer hatte alle Phasen der Nietzsche-Verehrung seit der Jugendbewegung der Weimarer Republik durchlaufen, bis die Nazis ein Berufsverbot über ihn verhängten wegen seiner jüdischen Herkunft. Auf der anderen Seite standen hier junge, noch unbekannte Denker wie Michel Foucault und Gilles Deleuze. Dass Foucaults Beitrag "Nietzsche, Freud, Marx" es in der Folge zu Weltruhm brachte und, wie Felsch richtig bemerkt, der einzige ist, der heute noch gelesen wird, bildet nur einen Teil der Wirkungsgeschichte. Der andere, der lebendige Teil ist jener, den Felsch vorstellt und der die Qualität seiner Schreibweise ausmacht.
Denn was hier aufeinandertraf, waren nicht einfach Ideen, es waren Lebensformen und Mentalitäten. Foucault hatte in seinem Vortrag das Trio Nietzsche, Freud und Marx als Repräsentanten einer neuen, wilden Form der Lektüre vorgestellt. Als Leser und Interpreten, die nicht stur und stumm an heiligen Texten arbeiteten, sondern neue Kombinatoriken einführten, die ebenso das Ungeschriebene, die Latenzen der Zeit wie die Stimmungen und Töne der Umgebungen mitzulesen versuchten und in ihre Texte einfließen ließen. Ein Ansatz, der Colli und Montinari, die manchmal eine Woche daran arbeiteten, um nur einen Zettel Nietzsches zu entziffern, so fremd geblieben sein muss wie der ganze Kongress von Royaumont.
Felschs Qualität besteht darin, genau diese Fremdheit anschaulich zu machen. Er lässt die Tage von Royaumont mit der Busfahrt von Paris zum Kongressort beginnen und beschreibt, wie die beiden Italiener den Gesprächen der anderen über sie zuhören. In den Pausen des Kolloquiums werden die beiden beim Kaffee dann wohl auch eher allein und verloren herumgestanden haben, folgert Felsch. Das ist keine beliebige Spekulation, sondern erlebte Erfahrung. Felsch hat mittlerweile selbst genug Symposien oder Kolloquien organisiert, um zu wissen, wie es Außenseitern auf solchen Veranstaltungen ergeht. Und der Abstand zwischen den beiden Italienern, die eine vergangene Welt so getreu wie möglich rekonstruieren wollten, und den jungen Franzosen, die eine neue Welt in Buchstaben fassen wollten, muss sehr groß gewesen sein. Felsch gelingt es, diesen Abstand zu ermessen.
Mazzino Montinari war, als er von Gilles Deleuze die Einladung nach Royaumont erhielt, gerade dabei, aus der Toskana nach Weimar in der "Ostzone", wie die DDR damals oft genannt wurde, überzusiedeln. Eine Bewegung, die Nietzsches Lebensweg von Weimar über die Schweiz und Frankreich nach Italien in geradezu grotesker Weise umkehrt. Wer waren diese beiden italienischen Dilettanten, und wie kamen sie dazu, die Schriften von Nietzsche zu edieren, fragt Felsch dann auch an zentraler Stelle seines Buches und widmet den ersten Teil seiner Studie dieser Frage. Woher rührt ihre Hingabe an das Werk eines Philosophen, der - zumal für Linke - in den Sechzigerjahren noch ein Repräsentant des Bösen war? Wie Felsch dann dieses "unwahrscheinliche Paar" beschreibt, das sagt auch etwas über die Bedingungen der Postmoderne. In den verschiedensten Formen der sozialdemokratischen, westeuropäischen Bildungsoffensiven konnten sich die Klassen neu treffen. Colli und Montinari kannten einander aus der Schule. Colli war in der toskanischen Kleinstadt Lucca der Philosophielehrer Montinaris. Ein bürgerlicher Privatgelehrter mit graecophilen Obsessionen begegnete einem zwölf Jahre jüngeren Kommunisten mit proletarischem Familienhintergrund.
"Vom Glück, Kommunist zu sein", überschreibt Felsch eines der Kapitel zur Geschichte des jungen Montinari. Der Klassenunterschied spiegelte sich auch in Collis und Montinaris Persönlichkeiten. Der eine sei schweigsam, aristokratisch, in den Glorienschein einer fernen Vergangenheit entrückt gewesen, der andere lebendig, mitreißend, empathisch, der Gegenwart und ihrer Veränderung zugewandt, hat ein italienischer Journalist in einem Porträt der beiden geschrieben.
Was sie mit ganz unterschiedlichen Motiven zusammenführt, ist der Drang zur Wahrheit in den Texten Nietzsches. "Aller Luxus fließt an ihm ab, er will nur arbeiten", berichtete der Informelle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, der Montinari im Goethe- und Schiller-Archiv observierte. Für die DDR-Sicherheit ging von diesem Mann keine Gefahr aus, für die Kommunistischen Parteien des Westens vor allem in Italien und Frankreich aber schon. Liest man deren orthodoxe Geschichtsschreibung heute, dann waren es postmoderne Denker wie Gilles Deleuze und Michel Foucault, die das unorganisierte Chaos priesen, es auch in die linken Bewegungen einsickern ließen und sie damit auflösten, weil sie eine Welt ohne Halt und klares Oben und Unten in das Denken einführten.
Wie es dazu kommen konnte inmitten der kulturellen und politischen Beschleunigung der Sechzigerjahre, davon erzählt Philipp Felsch auf eine Weise, die diese Form der Philologie eben nicht als weltflüchtigen Eskapismus erscheinen lässt, sondern als einen jener Antriebe zur Veränderung die, wie Nietzsche mit Paulus wusste, auf Taubenfüßen daherkommen und nicht mit großem Kanonenknall.
CORD RIECHELMANN.
Philipp Felsch: "Wie Nietzsche aus der Kälte kam: Geschichte einer Rettung". C. H. Beck, 287 Seiten, 26 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2022Gefährliche
Papiere
Philipp Felsch hat die Geschichte der
ersten kritischen Ausgabe des Nachlasses von
Nietzsche geschrieben – getarnt als Thriller
VON LOTHAR MÜLLER
Vor einigen Jahren hat der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch ein kluges Buch geschrieben, in dessen Zentrum der 1970 in Westberlin gegründete Merve Verlag stand. Weder der Ober- noch der Untertitel des Buches gab darauf einen Hinweis. Es hieß „Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990“. Die Anspielung auf Hans Magnus Enzensbergers dokumentarischen Roman „Der kurze Sommer der Anarchie“ (1972) signalisierte den Abschied von den Routinen der Verlagsgeschichtsschreibung. Die Theorie – ob in Gestalt des italienischen Marxismus, des französischen Poststrukturalismus oder der Systemtheorie Niklas Luhmanns – trat bei Felsch als Obsession auf, als Droge, die in kleinen, billigen, handlichen Formaten verabreicht wurde statt in langgestreckten Wälzern. Wo der Schlüsselbegriff „Intensität“ auftauchte, war die Nietzsche-Lektüre nicht weit. En passant ließ sich dem Buch entnehmen, dass der Autor, Jahrgang 1972, in den mittleren Neunzigerjahren in Bologna studiert hatte.
Für sein neues Buch war die Kenntnis des Italienischen Voraussetzung. Denn es behandelt ein brisantes Kapitel der Editionsphilologie nach 1945, die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der von den Italienern Giorgio Colli (1917-1979) und Mazzino Montinari (1928-1986) erarbeiteten kritischen Nietzsche-Ausgabe. Wieder spielt der Titel mit einem literarischen Modell: „Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung“.
Die Editionsphilologie steht im Ruf der Abgeschiedenheit, ihre akribischen Dienste an Manuskripten, an Buchstaben und am Wortlaut, ihre Spurensicherungen an Zeichenträgern sind häufig als der geistlose Teil der Geisteswissenschaften verspottet worden. Wer dagegen anschreiben, das detektivische Element der Quellenkritik, ihren Zusammenhang mit den Konflikten einer Epoche hervorheben will, für den liegt es nahe, dem Publikum einen deutlichen Hinweis auf seine Absichten zu geben. In John le Carrés Thriller „Der Spion, der aus der Kälte kam“ (1963) sind Westberlin und das geteilte Deutschland kurz nach dem Bau der Mauer die Hauptschauplätze. Der Nachlass Friedrich Nietzsches lag im Goethe-Schiller-Archiv in Weimar. In Westdeutschland ging das Gerücht um, er sei 1945 in die Sowjetunion abtransportiert worden. In der DDR galt Nietzsches Diktum „Ich bin Dynamit“, Georg Lukács hatte den Philosophen in seiner Studie „Die Zerstörung der Vernunft“ als Haupturheber des bürgerlichen Irrationalismus und Wegbereiter des Faschismus namhaft gemacht. Eine der Voraussetzungen dafür, dass Mazzino Montinari 1961 Zugang zu seinem Nachlass erhielt und bei seiner Arbeit an den Manuskripten freundliche Unterstützung erfuhr, war seine Vergangenheit als Funktionär der Kommunistischen Partei Italiens. Natürlich war er zugleich Observierungsobjekt eines Stasi-Mitarbeiters.
In der Binnensicht ist die Geschichte der Philologie vor allem eine Geschichte ihrer Verfahren. Sie kommen in diesem Buch vor, spielen aber nicht die Hauptrolle. Felsch blickt in Nahsicht auf die Akteure, rekonstruiert ihren Bildungsgang, die sozialen und theoretischen Milieus, in denen sie verkehrten, wertet die jahrzehntelange Korrespondenz zwischen Colli und Montinari aus. Er nutzt die Vorarbeiten italienischer Forscher wie Giuliano Campioni, geht ins Archiv der Scuola Normale Superiore in Pisa oder der Fondazione Mondadori in Mailand, um darzustellen, wie der junge Mazzino Montinari in den Kreis aufgenommen wurde, den sein Lehrer für Philosophie und Griechisch am Gymnasium Machiavelli in Lucca um sich scharte, und wie daraus eine von Krisen durchzogene, dauerhafte Freundschaft wurde.
Um die Protagonisten herum entsteht ein Gruppenporträt der intellektuellen Zirkel im Italien der Kriegsjahre und der Resistenza. Der Nietzsche, mit dem Giorgio Colli, der Anwalt der antiken griechischen Philosophie, seine Schüler bekannt macht, ist der große Verächter der Modernität und des Politischen, doch sind dabei die Energien, die von Colli ausgehen, widersprüchlich. Er verachtet alle antiquarische Gelehrsamkeit, propagiert den Vorrang des mündlichen Symphilosophierens, ist aber zugleich Büchermensch durch und durch und je älter er wird, desto mehr an exoterischer, publizistischer Wirkung interessiert. Seine Grundschulung im philosophischen Enthusiasmus mündet in das Zugleich von „Zarathustra“-Lektüre und Antifaschismus.
Als Montinari 1945 sein Studium an der Scuola Normale Superiore in Pisa aufnimmt, trifft er dort auf einen zweiten Lehrer, den vom Achsenintellektuellen und Carl-Schmitt-Übersetzer zum Kommunisten konvertierten Delio Cantimori, der die Welt der italienischen religiösen Häretiker des 16. Jahrhunderts und ihrer Nachfolger, der Freigeister, Jakobiner und utopischen Sozialisten erforscht und aktualisiert. Montinari wird und bleibt bis zu seiner Desillusionierung durch die Niederschlagung der ungarischen Revolution 1956 aktiver Kommunist.
Die Philologie ist primär den Buchstaben verpflichtet, nicht dem Geist. Zum Antiquarischen ist sie nicht verurteilt. In seiner fünften „Unzeitgemäßen Betrachtung“ bringt der entlaufene Philologe Nietzsche gegen die professorale Saturiertheit seiner Kollegen das „angreifende aktive Element“ der „Philologen-Poeten“ in Stellung. Felsch bekräftigt diese Dimension in Nietzsches Philologiekritik: „Tatsächlich hatten die Fortschritte, die die ars critica in der Frühen Neuzeit machte, weniger mit weltabgewandter Gelehrsamkeit als mit dem Aufflammen religiöser und politischer Konflikte zu tun.“ Aus den Glaubenskriegen des 20. Jahrhunderts und der politischen Ernüchterung, die damit verbunden war, geht Felsch zufolge das Projekt von Colli und Montinari hervor.
Als sie mit ihrer Arbeit begannen, war bereits nachgewiesen, dass das vorgebliche Hauptwerk Nietzsches, „Der Wille zur Macht“, eine Kompilation seiner Schwester und Nachlassverwalterin darstellte. Kaum einer der westdeutschen Nietzsche-Interpreten war an einer Edition des gesamten Nachlasses interessiert. Eben eine solche Edition aber – nicht nur der Abgleich der gedruckten Werke mit den Manuskripten – gehörte zum Konzept der Italiener.
Ihre Wiederaufnahme des „Ad fontes!“, der Philologen-Parole „Zu den Quellen!“, richtete sich gegen das Weiterwuchern der Nietzsche-Interpretationen. Zugleich war damit die Hypothese verbunden, aus dem Nachlass werde nicht nur erhellendes Licht auf die zu Lebzeiten Nietzsches gedruckten Werke, sondern auf sein Denken insgesamt fallen. Damit waren Fragen berührt, die Anfang der Sechziger ins Zentrum der Geisteswissenschaften zu rücken begannen, als die Vorstellung des porösen, instabilen, nur gewaltsam auf eine autoritative Bedeutung festzulegenden Textes die scheinbar festgefügten „Werke“ zu unterminieren begann, bei Roland Barthes, bei Michel Foucault, bei Gilles Deleuze.
Aus dem Italien der Kriegs- und Nachkriegszeit ging Collis und Montinaris „Aktion Nietzsche“ hervor, in die französische und deutsche Nietzsche-Rezeption wirkte sie hinein, schon bevor 1980, ein Jahr nach dem Tod Collis, in Deutschland – neben der großen Ausgabe bei de Gruyter – die „Kritische Studienausgabe“ im Taschenbuchformat bei dtv erschien. Diese Wirkungsgeschichte ist Felsch wichtiger als die Details aus der Publikationsgeschichte der Edition.
Er eröffnet sein Buch mit einem – selektiven – Rückblick auf die Nietzsche-Tagung vom Juli 1964 in der Abtei Royaumont nördlich von Paris, zu der Gilles Deleuze auch Colli und Montinari eingeladen hatte. Hier, wo die ältere Generation, darunter Karl Löwith und Gabriel Marcel, aber auch Pierre Klossowski, auf die noch nicht berühmten Deleuze und Foucault traf, waren Colli und Montinari zwei unbekannte, in ihrem textkritischen Rigorismus isolierte Außenseiter.
Mit dieser Zusammenkunft beginnt der zweite Hauptstrang in Felschs Erzählung. Sie handelt davon, wie Colli und Montinari in ihrer Buchstabentreue, ihrem Beharren auf der Rekonstruktion der Textentstehung, ihrer Identifizierung der von Nietzsche verdeckt zitierten Quellen überboten wurden – von den Geistern, die sie selbst gerufen hatten. Kopfschüttelnd muss Montinari am Ende den Aufstieg der Faksimiles beobachten, in denen nur noch „Spuren“ wiedergegeben wurden, in denen aus den Texten nicht nur die Stabilität, sondern auch die Linearität verschwunden war.
Am Ende aber, als ab 2013 im Basler Stroemfeld Verlag und im Göttinger Steidl Verlag unter demonstrativem Verzicht auf den Nachlass zwei Nietzsche-Ausgaben zu erscheinen beginnen, die als „Ausgabe letzter Hand“ bzw. „Werke letzter Hand“ darauf abzielen, „die Situation von 1889 wiederherzustellen“, kehrt schließlich die von den beiden Italienern beargwöhnte Sehnsucht nach der uneingeschränkten Autorität des „Werks“ mit Macht zurück. Es ist schade, dass Felsch diesen Rückschritt gegenüber Colli und Montinari, in deren Edition der handschriftliche Nachlass Nietzsches die gedruckten Bücher herausfordernd umspült, lediglich distanziert vermerkt, statt ihn als Versuch eines Showdowns zwischen instabilem Text und Werk zu inszenieren. Diese Zurückhaltung fällt auch deshalb auf, weil Felsch ansonsten mit großem Gespür für Dramaturgie schreibt und zumal in seinen Zwischentiteln dem Thriller-Versprechen des Titels konsequent folgt: „Gefährliche Papiere“, „Keine verdächtigen Spuren“, „Allein gegen die Nietzsche-Mafia“, „Tod eines Autors“, „Nietzsches schmutziges Geheimnis“, „Die Roten Brigaden der Textkritik“.
In einer pointierten Wendung, die schnell berühmt wurde, nannte der Philosoph Odo Marquard die Werke seines Kollegen Hans Blumenberg einst „als gelehrte Wälzer getarnte Problemkrimis“. Das ist Jahrzehnte her. Das Buch von Philipp Felsch folgt dem umgekehrten Modell. Es ist ein in geduldiger Archivarbeit entstandenes, mit reichhaltigem Fußnotenapparat versehenes, aus beträchtlicher Gelehrsamkeit hervorgegangenes Buch, das sich als Thriller tarnt.
Georg Lukács hielt Nietzsche
für den Haupturheber des
bürgerlichen Irrationalismus
Kopfschüttelnd beobachten
sie am Ende den Aufstieg
der Faksimiles
Philipp Felsch:
Wie Nietzsche
aus der Kälte kam.
Geschichte einer Rettung.
C. H. Beck Verlag,
München 2022.
272 Seiten, 20 Abbildungen,
26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Papiere
Philipp Felsch hat die Geschichte der
ersten kritischen Ausgabe des Nachlasses von
Nietzsche geschrieben – getarnt als Thriller
VON LOTHAR MÜLLER
Vor einigen Jahren hat der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch ein kluges Buch geschrieben, in dessen Zentrum der 1970 in Westberlin gegründete Merve Verlag stand. Weder der Ober- noch der Untertitel des Buches gab darauf einen Hinweis. Es hieß „Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990“. Die Anspielung auf Hans Magnus Enzensbergers dokumentarischen Roman „Der kurze Sommer der Anarchie“ (1972) signalisierte den Abschied von den Routinen der Verlagsgeschichtsschreibung. Die Theorie – ob in Gestalt des italienischen Marxismus, des französischen Poststrukturalismus oder der Systemtheorie Niklas Luhmanns – trat bei Felsch als Obsession auf, als Droge, die in kleinen, billigen, handlichen Formaten verabreicht wurde statt in langgestreckten Wälzern. Wo der Schlüsselbegriff „Intensität“ auftauchte, war die Nietzsche-Lektüre nicht weit. En passant ließ sich dem Buch entnehmen, dass der Autor, Jahrgang 1972, in den mittleren Neunzigerjahren in Bologna studiert hatte.
Für sein neues Buch war die Kenntnis des Italienischen Voraussetzung. Denn es behandelt ein brisantes Kapitel der Editionsphilologie nach 1945, die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der von den Italienern Giorgio Colli (1917-1979) und Mazzino Montinari (1928-1986) erarbeiteten kritischen Nietzsche-Ausgabe. Wieder spielt der Titel mit einem literarischen Modell: „Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung“.
Die Editionsphilologie steht im Ruf der Abgeschiedenheit, ihre akribischen Dienste an Manuskripten, an Buchstaben und am Wortlaut, ihre Spurensicherungen an Zeichenträgern sind häufig als der geistlose Teil der Geisteswissenschaften verspottet worden. Wer dagegen anschreiben, das detektivische Element der Quellenkritik, ihren Zusammenhang mit den Konflikten einer Epoche hervorheben will, für den liegt es nahe, dem Publikum einen deutlichen Hinweis auf seine Absichten zu geben. In John le Carrés Thriller „Der Spion, der aus der Kälte kam“ (1963) sind Westberlin und das geteilte Deutschland kurz nach dem Bau der Mauer die Hauptschauplätze. Der Nachlass Friedrich Nietzsches lag im Goethe-Schiller-Archiv in Weimar. In Westdeutschland ging das Gerücht um, er sei 1945 in die Sowjetunion abtransportiert worden. In der DDR galt Nietzsches Diktum „Ich bin Dynamit“, Georg Lukács hatte den Philosophen in seiner Studie „Die Zerstörung der Vernunft“ als Haupturheber des bürgerlichen Irrationalismus und Wegbereiter des Faschismus namhaft gemacht. Eine der Voraussetzungen dafür, dass Mazzino Montinari 1961 Zugang zu seinem Nachlass erhielt und bei seiner Arbeit an den Manuskripten freundliche Unterstützung erfuhr, war seine Vergangenheit als Funktionär der Kommunistischen Partei Italiens. Natürlich war er zugleich Observierungsobjekt eines Stasi-Mitarbeiters.
In der Binnensicht ist die Geschichte der Philologie vor allem eine Geschichte ihrer Verfahren. Sie kommen in diesem Buch vor, spielen aber nicht die Hauptrolle. Felsch blickt in Nahsicht auf die Akteure, rekonstruiert ihren Bildungsgang, die sozialen und theoretischen Milieus, in denen sie verkehrten, wertet die jahrzehntelange Korrespondenz zwischen Colli und Montinari aus. Er nutzt die Vorarbeiten italienischer Forscher wie Giuliano Campioni, geht ins Archiv der Scuola Normale Superiore in Pisa oder der Fondazione Mondadori in Mailand, um darzustellen, wie der junge Mazzino Montinari in den Kreis aufgenommen wurde, den sein Lehrer für Philosophie und Griechisch am Gymnasium Machiavelli in Lucca um sich scharte, und wie daraus eine von Krisen durchzogene, dauerhafte Freundschaft wurde.
Um die Protagonisten herum entsteht ein Gruppenporträt der intellektuellen Zirkel im Italien der Kriegsjahre und der Resistenza. Der Nietzsche, mit dem Giorgio Colli, der Anwalt der antiken griechischen Philosophie, seine Schüler bekannt macht, ist der große Verächter der Modernität und des Politischen, doch sind dabei die Energien, die von Colli ausgehen, widersprüchlich. Er verachtet alle antiquarische Gelehrsamkeit, propagiert den Vorrang des mündlichen Symphilosophierens, ist aber zugleich Büchermensch durch und durch und je älter er wird, desto mehr an exoterischer, publizistischer Wirkung interessiert. Seine Grundschulung im philosophischen Enthusiasmus mündet in das Zugleich von „Zarathustra“-Lektüre und Antifaschismus.
Als Montinari 1945 sein Studium an der Scuola Normale Superiore in Pisa aufnimmt, trifft er dort auf einen zweiten Lehrer, den vom Achsenintellektuellen und Carl-Schmitt-Übersetzer zum Kommunisten konvertierten Delio Cantimori, der die Welt der italienischen religiösen Häretiker des 16. Jahrhunderts und ihrer Nachfolger, der Freigeister, Jakobiner und utopischen Sozialisten erforscht und aktualisiert. Montinari wird und bleibt bis zu seiner Desillusionierung durch die Niederschlagung der ungarischen Revolution 1956 aktiver Kommunist.
Die Philologie ist primär den Buchstaben verpflichtet, nicht dem Geist. Zum Antiquarischen ist sie nicht verurteilt. In seiner fünften „Unzeitgemäßen Betrachtung“ bringt der entlaufene Philologe Nietzsche gegen die professorale Saturiertheit seiner Kollegen das „angreifende aktive Element“ der „Philologen-Poeten“ in Stellung. Felsch bekräftigt diese Dimension in Nietzsches Philologiekritik: „Tatsächlich hatten die Fortschritte, die die ars critica in der Frühen Neuzeit machte, weniger mit weltabgewandter Gelehrsamkeit als mit dem Aufflammen religiöser und politischer Konflikte zu tun.“ Aus den Glaubenskriegen des 20. Jahrhunderts und der politischen Ernüchterung, die damit verbunden war, geht Felsch zufolge das Projekt von Colli und Montinari hervor.
Als sie mit ihrer Arbeit begannen, war bereits nachgewiesen, dass das vorgebliche Hauptwerk Nietzsches, „Der Wille zur Macht“, eine Kompilation seiner Schwester und Nachlassverwalterin darstellte. Kaum einer der westdeutschen Nietzsche-Interpreten war an einer Edition des gesamten Nachlasses interessiert. Eben eine solche Edition aber – nicht nur der Abgleich der gedruckten Werke mit den Manuskripten – gehörte zum Konzept der Italiener.
Ihre Wiederaufnahme des „Ad fontes!“, der Philologen-Parole „Zu den Quellen!“, richtete sich gegen das Weiterwuchern der Nietzsche-Interpretationen. Zugleich war damit die Hypothese verbunden, aus dem Nachlass werde nicht nur erhellendes Licht auf die zu Lebzeiten Nietzsches gedruckten Werke, sondern auf sein Denken insgesamt fallen. Damit waren Fragen berührt, die Anfang der Sechziger ins Zentrum der Geisteswissenschaften zu rücken begannen, als die Vorstellung des porösen, instabilen, nur gewaltsam auf eine autoritative Bedeutung festzulegenden Textes die scheinbar festgefügten „Werke“ zu unterminieren begann, bei Roland Barthes, bei Michel Foucault, bei Gilles Deleuze.
Aus dem Italien der Kriegs- und Nachkriegszeit ging Collis und Montinaris „Aktion Nietzsche“ hervor, in die französische und deutsche Nietzsche-Rezeption wirkte sie hinein, schon bevor 1980, ein Jahr nach dem Tod Collis, in Deutschland – neben der großen Ausgabe bei de Gruyter – die „Kritische Studienausgabe“ im Taschenbuchformat bei dtv erschien. Diese Wirkungsgeschichte ist Felsch wichtiger als die Details aus der Publikationsgeschichte der Edition.
Er eröffnet sein Buch mit einem – selektiven – Rückblick auf die Nietzsche-Tagung vom Juli 1964 in der Abtei Royaumont nördlich von Paris, zu der Gilles Deleuze auch Colli und Montinari eingeladen hatte. Hier, wo die ältere Generation, darunter Karl Löwith und Gabriel Marcel, aber auch Pierre Klossowski, auf die noch nicht berühmten Deleuze und Foucault traf, waren Colli und Montinari zwei unbekannte, in ihrem textkritischen Rigorismus isolierte Außenseiter.
Mit dieser Zusammenkunft beginnt der zweite Hauptstrang in Felschs Erzählung. Sie handelt davon, wie Colli und Montinari in ihrer Buchstabentreue, ihrem Beharren auf der Rekonstruktion der Textentstehung, ihrer Identifizierung der von Nietzsche verdeckt zitierten Quellen überboten wurden – von den Geistern, die sie selbst gerufen hatten. Kopfschüttelnd muss Montinari am Ende den Aufstieg der Faksimiles beobachten, in denen nur noch „Spuren“ wiedergegeben wurden, in denen aus den Texten nicht nur die Stabilität, sondern auch die Linearität verschwunden war.
Am Ende aber, als ab 2013 im Basler Stroemfeld Verlag und im Göttinger Steidl Verlag unter demonstrativem Verzicht auf den Nachlass zwei Nietzsche-Ausgaben zu erscheinen beginnen, die als „Ausgabe letzter Hand“ bzw. „Werke letzter Hand“ darauf abzielen, „die Situation von 1889 wiederherzustellen“, kehrt schließlich die von den beiden Italienern beargwöhnte Sehnsucht nach der uneingeschränkten Autorität des „Werks“ mit Macht zurück. Es ist schade, dass Felsch diesen Rückschritt gegenüber Colli und Montinari, in deren Edition der handschriftliche Nachlass Nietzsches die gedruckten Bücher herausfordernd umspült, lediglich distanziert vermerkt, statt ihn als Versuch eines Showdowns zwischen instabilem Text und Werk zu inszenieren. Diese Zurückhaltung fällt auch deshalb auf, weil Felsch ansonsten mit großem Gespür für Dramaturgie schreibt und zumal in seinen Zwischentiteln dem Thriller-Versprechen des Titels konsequent folgt: „Gefährliche Papiere“, „Keine verdächtigen Spuren“, „Allein gegen die Nietzsche-Mafia“, „Tod eines Autors“, „Nietzsches schmutziges Geheimnis“, „Die Roten Brigaden der Textkritik“.
In einer pointierten Wendung, die schnell berühmt wurde, nannte der Philosoph Odo Marquard die Werke seines Kollegen Hans Blumenberg einst „als gelehrte Wälzer getarnte Problemkrimis“. Das ist Jahrzehnte her. Das Buch von Philipp Felsch folgt dem umgekehrten Modell. Es ist ein in geduldiger Archivarbeit entstandenes, mit reichhaltigem Fußnotenapparat versehenes, aus beträchtlicher Gelehrsamkeit hervorgegangenes Buch, das sich als Thriller tarnt.
Georg Lukács hielt Nietzsche
für den Haupturheber des
bürgerlichen Irrationalismus
Kopfschüttelnd beobachten
sie am Ende den Aufstieg
der Faksimiles
Philipp Felsch:
Wie Nietzsche
aus der Kälte kam.
Geschichte einer Rettung.
C. H. Beck Verlag,
München 2022.
272 Seiten, 20 Abbildungen,
26 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Wilhelm von Sternburg erkennt mit Philipp Felsch und dessen Geschichte einer Rettung, dass Nietzsche ein Moderner war. So informativ wie spannend findet er, wie der Kulturhistoriker Felsch die Rehabilitierung Nietzsches durch Colli/Montinari nachzeichnet, von der philologischen Großtat der Entzifferung der Handschriften bis zu Mutmaßungen über ideologische Vereinnahmungen des Philosophen im Kalten Krieg. Die Begeisterung der beiden italienischen Wissenschaftler scheint sich durch Felschs Rekonstruktion auf den Rezensenten zu übertragen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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