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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Betriebswirtin Evi Hartmann will uns zu Konsumenten machen, die fair hergestellte Produkte kaufen. Aber an die explosivste Frage der Gobalisierung wagt sie sich erst gar nicht.
Dies ist eigentlich gar kein Buch über die Globalisierung, sondern ein etwas anderer Ratgeber für die gestressten Angehörigen der Mittelschicht in der nördlichen Hemisphäre. Normalerweise steht in Büchern dieser Art, wie man Familie und Beruf vereinbart, den Terminkalender entschlackt, die Work-Life-Balance herstellt: Simplify your life. Evi Hartmann, Professorin für Betriebswirtschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg, hat jetzt eine weitere Facette hinzugefügt. Sie will das Leben auf den ersten Blick komplizierter, am Ende aber ein weiteres Mal leichter machen. Es geht um nichts Geringeres als um die Frage: Wie retten wir in der arbeitsteiligen globalisierten Welt unsere moralische Integrität, unser Selbst - am Ende sogar "unsere geistige Gesundheit und den Respekt unserer Kinder"?
Im Grunde, so die Ausgangsthese, sind wir eine Gesellschaft der Sklavenhalter. Wir lassen unsere iPhones von zwangsrekrutierten Studenten in China zusammenbauen, unseren Honig von unterbezahlten mexikanischen Imkern ernten, unsere Hemden von Arbeiterinnen in Bangladesch nähen, die gute Chancen haben, beim Einsturz des Fabrikgebäudes ums Leben zu kommen.
Hartmann ist Spezialistin für "Supply Chain Management". Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie Unternehmen ihre Versorgungsketten organisieren, wo sie einkaufen, zu welchen Bedingungen. Das prägt ihre Perspektive. Es ist die Perspektive nicht des Produzenten, sondern des Einkäufers - ob es nun die zuständigen Manager in den westlichen Unternehmen sind oder der Endkunde in den sogenannten Industrieländern, die vielfach diesen Namen gar nicht mehr verdienen, weil sie den eigentlichen Herstellungsprozess in andere Weltregionen ausgelagert haben.
Der Ratschlag, der daraus folgt, klingt erst einmal einfach: Kaufe nur Produkte, die zu fairen Bedingungen hergestellt sind. Was "fair" im Einzelnen bedeutet, ist schon etwas weniger präzise formuliert. Mindeststandards bei der Arbeitssicherheit scheinen in jedem Fall dazuzugehören, außerdem Löhne, die fürs Überleben reichen - "living wages", wie es im Fachjargon heißt. Den Verzicht auf Kinderarbeit zählt die Autorin realistischerweise nicht dazu. Ganz so brutal will sie die Existenzgrundlage ganzer Familien dann doch nicht in Frage stellen, nur um sich selbst ein reines Gewissen zu verschaffen.
Noch komplizierter wird es bei der Frage, wie sich der Endkunde über die Produktionsbedingungen ins Bild setzen soll. Durch das Buch zieht sich die geläufige Unterstellung, der Konsument werde zum Sklavenhalter, weil er aus Geiz immer nur die billigsten Produkte kaufe. Dann weist Hartmann allerdings selbst darauf hin, dass sich Billigketten wie Tchibo oder H&M längst auf Mindeststandards verpflichtet haben, von denen manch ein teurer Markenanbieter nichts wissen will. Und niemand kann garantieren, dass von einem höheren Endpreis nur ein Cent zusätzlich an den Produzenten geht.
So einfach scheint es mit dem Geiz also nicht zu sein, zumal die angesprochene Mittelschichtsklientel noch nie einen Riesling für 10 Euro im Regal stehen ließ, nur weil daneben ein Pinot Grigio für 2,99 Euro stand. Dem politisch korrekt hergestellten Smartphone zieht sie das im Zweifel teurere Produkt mit dem Apfel-Logo vor. Der Preis taugt also nicht als Maßstab. Folglich soll der Kunde, bevor er irgendetwas kauft, am besten gründlich die Produktionsbedingungen recherchieren. Angesichts des immensen Zeitaufwands liefe das auf weitgehenden Konsumverzicht hinaus. Den Produzenten in ärmeren Weltregionen wäre damit kaum geholfen.
Spätestens an dieser Stelle zeigt sich ein grundlegender und doch aufschlussreicher Denkfehler: Die Autorin geht allein vom Kunden aus, also von eben jener europäischen Mittelschicht, deren Seelenheil durch politisch korrektes Kaufverhalten gerettet werden soll. Der "Sklave" kommt in ihrem Buch, das für die Sklavenhalter geschrieben ist, nur am Rande vor. Das ist nicht untypisch für die Globalisierungsdebatte. Auch der franko-amerikanische Ökonom Thomas Piketty folgerte aus seinen umfangreichen Forschungen zur Vermögensverteilung vor allem, dass man den Reichen mehr Geld abnehmen müsse. Was man damit für die Armen tun könne, interessierte ihn weniger.
Die Fragen, die Hartmann ausblendet, sind gewiss unangenehm. Aber sie sind unverzichtbar für eine Globalisierungsdebatte, die ehrlich ist und ethischen Anforderungen genügt. Dazu zählt zunächst einmal die Erkenntnis: Wenn wir von den aufsteigenden Ökonomien dieses Globus verlangen, dass sie sofort und von Anfang an zu hundert Prozent westliche Standards erfüllen - dann ist das eine Form von Protektionismus, die wirtschaftlichen Aufstieg verhindert. Die Durchsetzung dieser Standards war auch in Europa oder Nordamerika ein langwieriger Prozess, ermöglicht durch den Produktivitätsfortschritt und durch selbstbewusste Arbeitnehmer, die ihren Anteil an diesem wachsenden Wohlstand beanspruchten - für sich selbst, wohlgemerkt, nicht durch die Gnade anderer.
Ob die Globalisierung selbst das Problem ist oder lediglich die Art und Weise, in der sie sich vollzieht: Das lässt das Buch im Vagen. Stellenweise klingt es, als könne der Kauf heimischer Regionalprodukte eine Lösung sein oder die Rückverlagerung der Produktion, zum Beispiel von Arzneimitteln. Davon haben der mexikanische Imker oder die indische Pharmabranche dann allerdings überhaupt nichts. Schlimmer als die Globalisierung ist allemal das Schicksal, an ihr nur marginal teilzuhaben: Das zeigt sich vor allem in den Ländern Afrikas.
Ebenso zweischneidig ist Hartmanns Klage über die Zerstörung traditioneller Agrarmärkte durch den liberalisierten Handel. Auch in Europa führte der Weg zum Wohlstand über brutale Rationalisierungsprozesse in der Landwirtschaft, die Millionen von Dorfbewohnern zur Emigration in die Städte zwangen. Wer die Subsistenzwirtschaft konservieren will, der verhindert einen solchen Entwicklungsprozess. Schon der Wunsch danach verrät einen konservativen Kulturpessimismus. Als Beleg für die angeblichen Verheerungen durch die Industrialisierung dient folgerichtig ein Zitat des Schriftstellers Martin Mosebach.
Völlig außen vor bleibt bei der Autorin die drängendste, beunruhigendste und politisch explosivste Frage, die der Globalisierungsprozess derzeit für die westlichen Gesellschaften aufwirft: Was wäre eigentlich, wenn wir den gerechten Anteil am globalen Wohlstand gar nicht mehr generös zu verteilen hätten, weil ihn sich die Menschen in den sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländern längst selbst verschaffen - und damit bei uns eine Gruppe von Globalisierungsverlierern entsteht?
Die Statistik spricht jedenfalls für diese These. Durch den - zuletzt etwas gebremsten - Aufstieg von Ländern wie China, Indien oder Brasilien hat sich das Ausmaß der Ungleichheit in globalem Maßstab erheblich verringert, während es innerhalb der einzelnen Gesellschaften zugenommen hat. Das eine ist zumindest teilweise eine Folge des anderen: Die Verlagerung der Produktion in ferne Weltregionen hat hierzulande viele gering qualifizierte Jobs vernichtet. Und für Dienstleistungen, die sich nicht ohne weiteres verlagern lassen, hat man Migranten ins Land geholt. Von der AfD bis zu Donald Trump, von der Brexit-Kampagne bis zum TTIP-Protest feiern globalisierungsfeindliche Bewegungen Erfolge. Das ist ein deutliches Zeichen, dass der globale Trend zu mehr Gleichheit auch im Westen seine Opfer fordert - oder zumindest dazu führt, dass sich Teile der Bevölkerung als Opfer fühlen. Wenngleich die Globalisierung, anders als die Autorin schreibt, gewiss kein Nullsummenspiel ist, bleiben doch die Profite zwischen den Ländern und innerhalb ihrer Grenzen sehr ungleich verteilt.
Evi Hartmann zerhäckselt diese großen, oft unbequemen Frage zu einer Gebrauchsanweisung, wie sich die europäische Mittelschicht die Welt wieder behaglich machen kann. Das ist am Ende unmoralisch.
RALPH BOLLMANN
Evi Hartmann: "Wie viele Sklaven halten Sie?" Über Globalisierung und Moral.
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2016.
224 S., br., 17,95 [Euro].
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