Was macht uns zum Menschen? Antonio Damasio schafft die Verbindung von Philosophie und Hirnforschung zu einer erstaunlichen Theorie des Bewusstseins
"Wie wir denken, wie wir fühlen" bringt Antonio Damasios Lebensthemen auf den Punkt: In glänzend geschriebenen kurzen Kapiteln führt er uns vom Beginn des Lebens auf der Erde hin zu einem umfassenden Verständnis dessen, was uns im Innersten ausmacht – Verstand, aber auch: Emotion. Was ist Bewusstsein? Kaum eine Frage rührt so sehr an den Kern des Menschseins. Seit Jahrhunderten wird sie von Philosophen gestellt, seit Neuerem bemühen sich auch die Naturwissenschaften um Antworten. Antonio Damasio, gefeierter Sachbuchautor und einer der renommiertesten Neurowissenschaftler der Welt, verbindet Erkenntnisse aus Philosophie und Hirnforschung, aus Evolutions- und Neurobiologie, aus Psychologie und KI-Forschung zu einer originellen Theorie des Bewusstseins.
"Wie wir denken, wie wir fühlen" bringt Antonio Damasios Lebensthemen auf den Punkt: In glänzend geschriebenen kurzen Kapiteln führt er uns vom Beginn des Lebens auf der Erde hin zu einem umfassenden Verständnis dessen, was uns im Innersten ausmacht – Verstand, aber auch: Emotion. Was ist Bewusstsein? Kaum eine Frage rührt so sehr an den Kern des Menschseins. Seit Jahrhunderten wird sie von Philosophen gestellt, seit Neuerem bemühen sich auch die Naturwissenschaften um Antworten. Antonio Damasio, gefeierter Sachbuchautor und einer der renommiertesten Neurowissenschaftler der Welt, verbindet Erkenntnisse aus Philosophie und Hirnforschung, aus Evolutions- und Neurobiologie, aus Psychologie und KI-Forschung zu einer originellen Theorie des Bewusstseins.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in D, A, L ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.09.2021Lästige
Lücke
Was passiert im Gehirn, wenn wir denken?
Drei Forscher scheitern daran,
das Geheimnis zu lüften.
Aber den Grund dafür sollte jeder kennen
VON BURKHARD MÜLLER
Das Bewusstsein scheint für die Wissenschaften der Neuzeit, die Philosophie, die Psychologie und heute auch die Neurobiologie, so etwas wie der Stein der Weisen zu sein oder vielmehr wie der goldene Topf, der am Fuß des Regenbogens in der Erde vergraben ist. Aber es gehört zum Wesen des Regenbogens, dass er zurückweicht im selben Maß, wie man sich ihm zu nähern scheint. So nah hat man schon die Hand ausgestreckt, und nie kommt man hin! Das Rätsel der Welt im Großen meint man mit der Urknalltheorie gelöst zu haben; doch jener Mikrokosmos, der wir selbst sind und der uns darum ganz unmittelbar zugänglich sein sollte, entzieht sich mit quälender Hartnäckigkeit.
Woran liegt das? Zum einen an der Distanzlosigkeit des Objekts, das keinen Abstand zwischen Beobachter und Beobachtetem zulässt, wie das Auge, das alles sieht außer sich selbst, weil es nämlich das Medium des Sehens überhaupt ist. Vor allem jedoch hat das Bewusstsein eine Eigenschaft, die die Vertreter des modernen wissenschaftlichen Weltbilds schlechthin verrückt macht: Es ist ein Stück primäre Synthese. Das soll heißen, dass in ihm ein äußerst komplexer Sachverhalt vorliegt, der sich aber, und mag die Wissenschaft zehnmal etwas anderes behaupten, nicht in seine Bestandteile zerlegen lässt, ohne dass er darüber aufhört zu existieren.
Das analytisch-atomistische Verfahren, sonst stets mit erheblichem Erfolg angewandt, wenn es etwas zu erklären und zu verstehen gibt, hilft hier nichts. Hierin ähnelt das Bewusstsein dem Phänomen des Lebens, mit dem es innig zusammenhängt: Durch Aufschneiden und Zergliedern lässt sich hier mancherlei erkennen, aber das eigentlich interessierende Phänomen liegt dann tot auf dem Seziertisch.
Dass diese offene Wunde in einer Weltsicht, die auf geschlossene Totalität zielt, nicht verheilt ist, das bezeugen drei neue Bücher zum Thema, die gerade fast gleichzeitig erschienen sind, zwei von Neurobiologen und eins von einem Kognitionswissenschaftler. Alle drei Autoren sind renommierte Vertreter ihres Fachs. Gerhard Roth ist Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungs-Neurobiologie; Wolfgang Prinz war Direktor am Max-Planck-Institut für psychologische Forschung; und wer sich überhaupt mit Problemen der Bewusstseinsforschung beschäftigt hat, der kennt natürlich den Namen des Doyens dieses Fachs, António Damásio. Alle drei nähern sich ihrem 80. Geburtstag und legen nun je eine Summe ihres Lebenswerks vor. Alle drei kennzeichnet das aufrichtige Bemühen, weiteren Kreisen ein Thema zugänglich zu machen, das sämtliche Menschen zentral betrifft, denn ein Bewusstsein hat (oder ist) schließlich jede und jeder. Umso bedeutsamer und aufschlussreicher ist ihr Scheitern.
„Über den Menschen“ nennt Roth sein Buch. Ausdrücklich knüpft dieser Titel an das gleichnamige Werk von René Descartes aus dem 17. Jahrhundert an und stellt sich damit – keineswegs selbstverständlich – in eine lange philosophische Traditionslinie. Was er anstrebt, ist eine dialektische Aufhebung des unglücklichen Gegensatzes zwischen einer als reduktionistisch-materialistisch aufgefassten Naturwissenschaft, die häufig aggressiv vorgeprescht ist, und den Geisteswissenschaften im weiteren Sinn, die zu ganzheitlich-intuitiven Interpretationen neigen, einem, wie Roth es nennt, „ontologischen Antinaturalismus“. In seinem Streben, ein angemessen mehrdimensionales Menschenbild zu entwerfen, schlägt er als begütigende Formulierung vor, „dass neuartige wissenschaftliche Einsichten oft einen langen ideengeschichtlichen Vorlauf haben, in diesem Fall die Vorstellung, dass Gehirn und Geist eine Einheit bilden, und dass diese Einheit auf physikalisch-chemische Weise zustande kommt“. Sieht man aber näher hin, so stellt man fest, dass die Gewichte hier vorab doch sehr zugunsten der Naturwissenschaft verschoben sind: Es wird nicht nur gesagt, dass der Geist ein physikalisch-chemisches Substrat besitzt (was heute kaum ein Philosoph mehr bestreiten würde), sondern dass dieses ihn zustande bringt. Geist sei mithin eine Ableitung – die milde zur Versöhnung ausgestreckte Hand des Neurobiologen verbirgt einen weitreichenden Anspruch und Vorbehalt.
Roth entgeht, oder er schiebt es so unauffällig wie möglich beiseite, dass sich zwischen dem, was auf der neurobiologischen Ebene geschieht, und den begleitenden Empfindungen oder resultierenden Verhaltensweisen eine kategoriale Kluft auftut. Was er als Erklärung ausgibt, erweist sich bei genauerer Betrachtung bloß als eine Korrelation. Natürlich besteht ein Zusammenhang zwischen einer bestimmten Stimmungslage und der Aktivität gewisser Neuronen, der sich inzwischen mit hoher Präzision angeben lässt. Aber wenn Roth schreibt, dass körpereigene Opioide und Cannabinoide appetitives Verhalten „auslösen“, dann klafft hier sozusagen ein synaptischer Spalt zwischen zwei disparaten Wesenheiten, denn was eigentlich passiert, wenn ein chemisch-elektrischer Vorgang bei uns Appetit „auslöst“, das bleibt so dunkel wie eh und je.
Roth befasst sich auch damit, warum erwartungsgemäß eintretende Vorgänge uns weniger erregen als Überraschungen – ein Umstand, der sich trivial ausnimmt, aber durch den Versuch, ihn zu erklären, den Charakter eines tiefen Rätsels annimmt: „Das ist deshalb der Fall, weil es dem Gehirn sehr viel Arbeit und Energie erspart, denn psychische Erregung ist stoffwechselphysiologisch sehr teuer. Dummerweise verdirbt uns das ,sparsame Gehirn‘ den Spaß an vielen Dingen.“ Hier ist das Gehirn auf einmal nicht mehr Substrat des Geistes und des Ich, sondern geradezu deren Kontrahent, der aus ökonomischen Gründen das Taschengeld kürzt: ein doch recht verblüffender Umschlag! Es steckt dahinter ein implizites, nirgends bedachtes Bild vom Menschen als einem Wesen, das seinen Zweck nicht etwa unverstellt in sich selbst trägt (wie es aller Humanismus möchte), sondern dessen Dasein und Erhaltung hinter seinem Rücken und auf seine Kosten von einem Dritten garantiert wird: So wird der Mensch zum Diener, ja Haustier eines unbekannten Willens.
Dieser Irrweg ist unter Roths Voraussetzungen völlig unvermeidlich. Das Bewusstsein ist die Art und Weise, wie das Ich, das Subjekt, der Geist, das Individuum zu sich gelangt, und zwar die einzige Art und Weise, nämlich die des Selbst. Entfiele es, so würden im selben Moment auch Ich und Geist hinfällig. So besitzen Selbst / Ich / Geist einerseits und Bewusstsein andererseits absolute Kongruenz in der unhintergehbaren Erfahrung, als genau dies vorhanden zu sein. Ich und Bewusstsein sind gerade nicht das „Bündel“ verschiedener psychischer Vorgänge, das Roth ansetzt.
Bewusstsein erklären wollen, heißt dagegen, es als Funktion, als Produkt aus und Mittel zu etwas Anderem zu begreifen – was, wie jeder aus seiner eigenen intimen Kenntnis von Todesangst oder Schmerzerlebnis weiß, nicht zutrifft. Hier liegt Roths blinder Fleck, also der Bereich, den er nicht nur nicht sieht, sondern von dem er nicht sieht, dass er ihn nicht sieht, der „Elefant im Wohnzimmer“, von dem er einmal spricht (übrigens fast wortgleich wie Wolfgang Prinz – die beiden haben oft eng zusammengearbeitet). Sonst wäre eine Kapitelüberschrift wie „Wozu brauchen wir das Ich?“ nicht möglich: Roth bemerkt nicht, dass „wir“ und „ich“, nur oberflächlich durch den Numerus kaschiert, beide Male dasselbe ist, nämlich die erste Person, sodass er also, was er zu ergründen glaubt, schon voraussetzt – ein Zirkel, dem kaum jemand entgeht, der sich über das Wesen des Ichs Gedanken gemacht hat. Roth steht hier in würdiger Tradition von Descartes, dessen berühmtes „Cogito ergo sum“ genau dem gleichen Fehlschluss aufsitzt: Im Lateinischen ist die erste Person in der Verb-Endung verborgen, im Deutschen sieht man es klarer, dass „Ich denke, also bin ich“ ebenfalls vorab annimmt, was erst bewiesen werden soll.
Wolfgang Prinz beginnt sein Buch nicht unkokett so: „Bewusstsein erklären – im Ernst? Ist das nicht ein Unternehmen, an dem sich schon viele verhoben haben? Sollen wir es nicht lieber bleiben lassen?“ Aber natürlich tritt er doch an, um sich neuerlich zu verheben. Als Kognitionswissenschaftler kommt er aus der Psychologie, der er bescheinigt, vor diesem Thema, obwohl es für sie doch ein Heimspiel sein sollte, bislang eher „gekniffen“ zu haben. Stattdessen habe sie das Feld der Philosophie und der Neurobiologie überlassen.
Doch gerade hier erblickt er eine Chance: Philosophie und Biologie haben keine gemeinsame Sprache gefunden, um ihre Ergebnisse miteinander abzugleichen oder auch nur einen passgenauen Disput miteinander zu führen; sie verharren, wie Prinz es nennt, in „deskriptiver Disparität“. Hier empfehle sich seine Wissenschaft als Mittler, die sich ihr Vorbild am Jargon der Informationsverarbeitung nimmt und Geschehen in Form von Algorithmen beschreibt, welche über das Wie keinerlei Auskunft erteilen und sich ganz an das bewirkte Was halten.
Das ergibt dann solche Aussagen: „Handlungen kommen dadurch zustande, dass Ziel-, Bewegungs- und Situationsrepräsentationen zusammengeführt werden.“ Dass er hier den am meisten interessierenden Bereich, das Bewusstsein, als black box ausklammert, dass er den angestrebten Dialog nur ermöglicht, indem über den strittigen Punkt geschwiegen wird, dass er auf diese Weise vielleicht auch wiederum „kneift“ – dies alles fällt ihm nicht auf. Auch für ihn gilt wie für Roth, dass er schon vorab für die Funktionalität des Bewusstseins optiert und damit sein Untersuchungsgebiet in einer ganz bestimmten Weise zugeschnitten hat.
Die tautologische Struktur seines Denkens zeigt sich etwa in einem Satz wie diesem: „Bewussten Charakter nehmen mentale Inhalte dann an, wenn in ihnen das mentale Ich implizit anwesend ist.“ Gibt es denn ein mentales Ich, wenn es nicht bewusst wird, und hat ohne Bewusstsein die Vorstellung eines mentalen Inhalts (im Unterschied zum psychischen überhaupt) einen Sinn? Und auch er geht prompt und unausweichlich in die Falle der ersten Person: „... wozu es (das Bewusstsein) gut ist und wohin wir kämen, wenn wir es nicht hätten.“ Wir. Ohne Bewusstsein. Was macht der Wind, wenn er nicht weht?
Das schmalste Buch der drei hat António Damásio verfasst, der berühmteste Hirnforscher der Welt, der gern die Gelegenheit wahrnimmt, das Kernproblem des Bewusstseins einmal losgelöst von den doch sehr komplexen neurologischen Grundlagen zu trennen – und die Sache für eine breite Öffentlichkeit so einfach wie möglich darzustellen. Doch schon sein Titel gibt früh zu verstehen, dass er es genauso angehen wird wie die Kollegen: „Wie wir denken, wie wir fühlen. Die Ursprünge unseres Bewusstseins“ (im Original etwas weniger verfänglich: „Feeling and Knowing. Making Minds Conscious“). Es spricht sich hier die Hoffnung aus, dem monolithischen Phänomen über seine Entstehungsgeschichte auf die Spur zu kommen.
Und Damásio gibt sich wirklich große Mühe. Für die Existenzform der Bakterien, die auf ihre Umwelt sinnvoll zu reagieren vermögen, ohne doch über ein Bewusstsein zu verfügen, sucht er einen angemessenen Ausdruck, indem er sagt, dass sie „spürten“, was los sei, und ihnen „Intelligenz“ bescheinigt – beides Begriffe, die eine, vorsichtig gesagt, verrechnende Instanz doch vorauszusetzen scheinen.
Vom Spüren will er das Fühlen getrennt wissen, worunter er jene Affekte versteht, die uns, die Menschen und höheren Tiere, heimsuchen und die anders als bewusst gar nicht auftreten können, indem sie sich nämlich mit intensiver Lust oder Unlust verbinden; und die gibt es nur, wenn jemand da ist, der sie – spürt? Fühlt? „Ich möchte mehr darüber erfahren, welche Mechanismen uns in die Lage versetzen, einen Prozess, der sich eindeutig im physischen Bereich des Körpers abspielt, im Geist zu erleben.“ Ach, aus diesem Wunsch kann nichts werden: Denn er geht genau wie Roth und Prinz arg naiv von einem „wir“ aus, das nichts anderes als ein vervielfachtes Ich ist (das ausdrücklich gesetzte andere Ich hingegen ist das des selbstverständlich unabhängigen Forschers und kommt insofern konzeptionell nicht in Betracht), welches er also in alter cartesianischer Verblendung dort bereits voraussetzt, wo er es erst herzuleiten trachtet – während er zugleich annimmt, bei dem, was er verstehen will, handle es sich um einen „Mechanismus“, ein zusammengesetztes zweckdienliches, nicht primär zweckhaftes Gebilde. Und „im Geist“ werde es erlebt – ja wo sonst? Erleben und Geist kriegt man so wenig auseinander wie Radeln und Fahrrad: nur wer ein Fahrrad hat, radelt; jeder, der radelt, tut es mit dem Fahrrad.
Niemand weiß so viel von der organischen Grundlage des Selbst und aller seiner Facetten wie Damásio. Er schreibt, nicht ohne Demut: „Wie dieses chemische Orchester seine Aufgabe erfüllt, ist so etwas wie ein Wunder.“ Doch er irrt sich, wenn er die Komplexität als solche für das Wunder erachtet. Sie ist bloß komplex, und damit prinzipiell der Rückführung aufs Einfache zugänglich. Das Wunder liegt woanders. Das Wunder liegt darin, dass Selbst und Bewusstsein in die Welt treten im Moment, wo die Nabelschnur reißt und der neue Erdenbürger seinen ersten Schrei ausstößt, laut bekundend, dass er nunmehr da sei, ganz und ungeteilt.
Aber dieses Ganze und Ungeteilte kann die Wissenschaft nicht auf sich beruhen lassen und versucht angestrengt, es zu zerlegen, durch mehrere, einander ergänzende Strategien: Es soll erstens in seiner Genese erscheinen, evolutiv oder individualgeschichtlich, da für alles Gewordene ein Nach-und-nach der Resultate gilt und damit Hoffnung auf Unterteilungen lässt. Es wird zweitens als Funktion oder Mechanismus gedeutet, d. h. etwas Sekundäres hilft also über die Verlegenheit des primären Faktums hinweg. Und drittens werden eng ineinander verschlungene Sachverhalte haarspalterisch zerpflückt, was zu Schwärmen immer neu gewendeter, den Verstand quälender Tautologien führt.
Und anders kann es auch gar nicht sein. Als die moderne Wissenschaft begann, musste sie sich ein eigenes Terrain sichern, in das ihr die herrschende Theologie nicht hineinpfuschte, und fand es in der Beschränkung auf das Wie der Welt. Dies zu beschreiben, wurde zum Geschäft der Physik im weiteren Umfang. Vom Was überhaupt, dem das Wie aufsitzt, die Metaphysik im genauen Sinn, ließ sie lang weise die Finger. Erst als das wissenschaftliche Weltbild sich als das dominante etablierte, wagte es sich an die Metaphysik, konnte aber gerade deren Fragen natürlich nicht behandeln und musste deshalb in Abrede stellen, dass es generell so etwas wie Metaphysik gebe. Beim Makrokosmos führte diese Haltung zur Theorie vom Urknall, mit welchem Erfolg, darüber lässt sich streiten. Im Fall des Mikrokosmos aber, des Ich, des Selbst, des Bewusstseins, schlägt die Metaphysik auf einmal in unser Innerstes durch wie ein Blitz, der vor unserer Nase einen Baum zerschmettert, ein Schrecken aus heiterem Himmel, und führt zu panischen, unsinnigen Reaktionen. In den besprochenen drei Büchern lässt sich besichtigen, was passiert, wenn kluge Leute nicht weiterkommen und das um keinen Preis zugeben wollen.
„Dummerweise verdirbt
uns das ,sparsame Gehirn‘ den
Spaß an vielen Dingen.“
Wolfgang Prinz will
Philosophie und Biologie eine
gemeinsame Sprache geben
Niemand weiß so viel
von der organischen
Grundlage wie Damasio
Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst: Probandin bei der Messung von Hirnströmen.
Foto: Kasper/DPA
Gerhard Roth: Über den Menschen. Suhrkamp, Berlin 2021.
365 Seiten, 26 Euro.
Wolfgang Prinz: Bewusstsein erklären. Suhrkamp, Berlin 2021.
317 Seiten, 24 Euro.
Antonio Damasio: Wie wir denken, wie wir fühlen. Die Ursprünge unseres Bewusstseins. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel.
Hanser, München 2021.
190 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Lücke
Was passiert im Gehirn, wenn wir denken?
Drei Forscher scheitern daran,
das Geheimnis zu lüften.
Aber den Grund dafür sollte jeder kennen
VON BURKHARD MÜLLER
Das Bewusstsein scheint für die Wissenschaften der Neuzeit, die Philosophie, die Psychologie und heute auch die Neurobiologie, so etwas wie der Stein der Weisen zu sein oder vielmehr wie der goldene Topf, der am Fuß des Regenbogens in der Erde vergraben ist. Aber es gehört zum Wesen des Regenbogens, dass er zurückweicht im selben Maß, wie man sich ihm zu nähern scheint. So nah hat man schon die Hand ausgestreckt, und nie kommt man hin! Das Rätsel der Welt im Großen meint man mit der Urknalltheorie gelöst zu haben; doch jener Mikrokosmos, der wir selbst sind und der uns darum ganz unmittelbar zugänglich sein sollte, entzieht sich mit quälender Hartnäckigkeit.
Woran liegt das? Zum einen an der Distanzlosigkeit des Objekts, das keinen Abstand zwischen Beobachter und Beobachtetem zulässt, wie das Auge, das alles sieht außer sich selbst, weil es nämlich das Medium des Sehens überhaupt ist. Vor allem jedoch hat das Bewusstsein eine Eigenschaft, die die Vertreter des modernen wissenschaftlichen Weltbilds schlechthin verrückt macht: Es ist ein Stück primäre Synthese. Das soll heißen, dass in ihm ein äußerst komplexer Sachverhalt vorliegt, der sich aber, und mag die Wissenschaft zehnmal etwas anderes behaupten, nicht in seine Bestandteile zerlegen lässt, ohne dass er darüber aufhört zu existieren.
Das analytisch-atomistische Verfahren, sonst stets mit erheblichem Erfolg angewandt, wenn es etwas zu erklären und zu verstehen gibt, hilft hier nichts. Hierin ähnelt das Bewusstsein dem Phänomen des Lebens, mit dem es innig zusammenhängt: Durch Aufschneiden und Zergliedern lässt sich hier mancherlei erkennen, aber das eigentlich interessierende Phänomen liegt dann tot auf dem Seziertisch.
Dass diese offene Wunde in einer Weltsicht, die auf geschlossene Totalität zielt, nicht verheilt ist, das bezeugen drei neue Bücher zum Thema, die gerade fast gleichzeitig erschienen sind, zwei von Neurobiologen und eins von einem Kognitionswissenschaftler. Alle drei Autoren sind renommierte Vertreter ihres Fachs. Gerhard Roth ist Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungs-Neurobiologie; Wolfgang Prinz war Direktor am Max-Planck-Institut für psychologische Forschung; und wer sich überhaupt mit Problemen der Bewusstseinsforschung beschäftigt hat, der kennt natürlich den Namen des Doyens dieses Fachs, António Damásio. Alle drei nähern sich ihrem 80. Geburtstag und legen nun je eine Summe ihres Lebenswerks vor. Alle drei kennzeichnet das aufrichtige Bemühen, weiteren Kreisen ein Thema zugänglich zu machen, das sämtliche Menschen zentral betrifft, denn ein Bewusstsein hat (oder ist) schließlich jede und jeder. Umso bedeutsamer und aufschlussreicher ist ihr Scheitern.
„Über den Menschen“ nennt Roth sein Buch. Ausdrücklich knüpft dieser Titel an das gleichnamige Werk von René Descartes aus dem 17. Jahrhundert an und stellt sich damit – keineswegs selbstverständlich – in eine lange philosophische Traditionslinie. Was er anstrebt, ist eine dialektische Aufhebung des unglücklichen Gegensatzes zwischen einer als reduktionistisch-materialistisch aufgefassten Naturwissenschaft, die häufig aggressiv vorgeprescht ist, und den Geisteswissenschaften im weiteren Sinn, die zu ganzheitlich-intuitiven Interpretationen neigen, einem, wie Roth es nennt, „ontologischen Antinaturalismus“. In seinem Streben, ein angemessen mehrdimensionales Menschenbild zu entwerfen, schlägt er als begütigende Formulierung vor, „dass neuartige wissenschaftliche Einsichten oft einen langen ideengeschichtlichen Vorlauf haben, in diesem Fall die Vorstellung, dass Gehirn und Geist eine Einheit bilden, und dass diese Einheit auf physikalisch-chemische Weise zustande kommt“. Sieht man aber näher hin, so stellt man fest, dass die Gewichte hier vorab doch sehr zugunsten der Naturwissenschaft verschoben sind: Es wird nicht nur gesagt, dass der Geist ein physikalisch-chemisches Substrat besitzt (was heute kaum ein Philosoph mehr bestreiten würde), sondern dass dieses ihn zustande bringt. Geist sei mithin eine Ableitung – die milde zur Versöhnung ausgestreckte Hand des Neurobiologen verbirgt einen weitreichenden Anspruch und Vorbehalt.
Roth entgeht, oder er schiebt es so unauffällig wie möglich beiseite, dass sich zwischen dem, was auf der neurobiologischen Ebene geschieht, und den begleitenden Empfindungen oder resultierenden Verhaltensweisen eine kategoriale Kluft auftut. Was er als Erklärung ausgibt, erweist sich bei genauerer Betrachtung bloß als eine Korrelation. Natürlich besteht ein Zusammenhang zwischen einer bestimmten Stimmungslage und der Aktivität gewisser Neuronen, der sich inzwischen mit hoher Präzision angeben lässt. Aber wenn Roth schreibt, dass körpereigene Opioide und Cannabinoide appetitives Verhalten „auslösen“, dann klafft hier sozusagen ein synaptischer Spalt zwischen zwei disparaten Wesenheiten, denn was eigentlich passiert, wenn ein chemisch-elektrischer Vorgang bei uns Appetit „auslöst“, das bleibt so dunkel wie eh und je.
Roth befasst sich auch damit, warum erwartungsgemäß eintretende Vorgänge uns weniger erregen als Überraschungen – ein Umstand, der sich trivial ausnimmt, aber durch den Versuch, ihn zu erklären, den Charakter eines tiefen Rätsels annimmt: „Das ist deshalb der Fall, weil es dem Gehirn sehr viel Arbeit und Energie erspart, denn psychische Erregung ist stoffwechselphysiologisch sehr teuer. Dummerweise verdirbt uns das ,sparsame Gehirn‘ den Spaß an vielen Dingen.“ Hier ist das Gehirn auf einmal nicht mehr Substrat des Geistes und des Ich, sondern geradezu deren Kontrahent, der aus ökonomischen Gründen das Taschengeld kürzt: ein doch recht verblüffender Umschlag! Es steckt dahinter ein implizites, nirgends bedachtes Bild vom Menschen als einem Wesen, das seinen Zweck nicht etwa unverstellt in sich selbst trägt (wie es aller Humanismus möchte), sondern dessen Dasein und Erhaltung hinter seinem Rücken und auf seine Kosten von einem Dritten garantiert wird: So wird der Mensch zum Diener, ja Haustier eines unbekannten Willens.
Dieser Irrweg ist unter Roths Voraussetzungen völlig unvermeidlich. Das Bewusstsein ist die Art und Weise, wie das Ich, das Subjekt, der Geist, das Individuum zu sich gelangt, und zwar die einzige Art und Weise, nämlich die des Selbst. Entfiele es, so würden im selben Moment auch Ich und Geist hinfällig. So besitzen Selbst / Ich / Geist einerseits und Bewusstsein andererseits absolute Kongruenz in der unhintergehbaren Erfahrung, als genau dies vorhanden zu sein. Ich und Bewusstsein sind gerade nicht das „Bündel“ verschiedener psychischer Vorgänge, das Roth ansetzt.
Bewusstsein erklären wollen, heißt dagegen, es als Funktion, als Produkt aus und Mittel zu etwas Anderem zu begreifen – was, wie jeder aus seiner eigenen intimen Kenntnis von Todesangst oder Schmerzerlebnis weiß, nicht zutrifft. Hier liegt Roths blinder Fleck, also der Bereich, den er nicht nur nicht sieht, sondern von dem er nicht sieht, dass er ihn nicht sieht, der „Elefant im Wohnzimmer“, von dem er einmal spricht (übrigens fast wortgleich wie Wolfgang Prinz – die beiden haben oft eng zusammengearbeitet). Sonst wäre eine Kapitelüberschrift wie „Wozu brauchen wir das Ich?“ nicht möglich: Roth bemerkt nicht, dass „wir“ und „ich“, nur oberflächlich durch den Numerus kaschiert, beide Male dasselbe ist, nämlich die erste Person, sodass er also, was er zu ergründen glaubt, schon voraussetzt – ein Zirkel, dem kaum jemand entgeht, der sich über das Wesen des Ichs Gedanken gemacht hat. Roth steht hier in würdiger Tradition von Descartes, dessen berühmtes „Cogito ergo sum“ genau dem gleichen Fehlschluss aufsitzt: Im Lateinischen ist die erste Person in der Verb-Endung verborgen, im Deutschen sieht man es klarer, dass „Ich denke, also bin ich“ ebenfalls vorab annimmt, was erst bewiesen werden soll.
Wolfgang Prinz beginnt sein Buch nicht unkokett so: „Bewusstsein erklären – im Ernst? Ist das nicht ein Unternehmen, an dem sich schon viele verhoben haben? Sollen wir es nicht lieber bleiben lassen?“ Aber natürlich tritt er doch an, um sich neuerlich zu verheben. Als Kognitionswissenschaftler kommt er aus der Psychologie, der er bescheinigt, vor diesem Thema, obwohl es für sie doch ein Heimspiel sein sollte, bislang eher „gekniffen“ zu haben. Stattdessen habe sie das Feld der Philosophie und der Neurobiologie überlassen.
Doch gerade hier erblickt er eine Chance: Philosophie und Biologie haben keine gemeinsame Sprache gefunden, um ihre Ergebnisse miteinander abzugleichen oder auch nur einen passgenauen Disput miteinander zu führen; sie verharren, wie Prinz es nennt, in „deskriptiver Disparität“. Hier empfehle sich seine Wissenschaft als Mittler, die sich ihr Vorbild am Jargon der Informationsverarbeitung nimmt und Geschehen in Form von Algorithmen beschreibt, welche über das Wie keinerlei Auskunft erteilen und sich ganz an das bewirkte Was halten.
Das ergibt dann solche Aussagen: „Handlungen kommen dadurch zustande, dass Ziel-, Bewegungs- und Situationsrepräsentationen zusammengeführt werden.“ Dass er hier den am meisten interessierenden Bereich, das Bewusstsein, als black box ausklammert, dass er den angestrebten Dialog nur ermöglicht, indem über den strittigen Punkt geschwiegen wird, dass er auf diese Weise vielleicht auch wiederum „kneift“ – dies alles fällt ihm nicht auf. Auch für ihn gilt wie für Roth, dass er schon vorab für die Funktionalität des Bewusstseins optiert und damit sein Untersuchungsgebiet in einer ganz bestimmten Weise zugeschnitten hat.
Die tautologische Struktur seines Denkens zeigt sich etwa in einem Satz wie diesem: „Bewussten Charakter nehmen mentale Inhalte dann an, wenn in ihnen das mentale Ich implizit anwesend ist.“ Gibt es denn ein mentales Ich, wenn es nicht bewusst wird, und hat ohne Bewusstsein die Vorstellung eines mentalen Inhalts (im Unterschied zum psychischen überhaupt) einen Sinn? Und auch er geht prompt und unausweichlich in die Falle der ersten Person: „... wozu es (das Bewusstsein) gut ist und wohin wir kämen, wenn wir es nicht hätten.“ Wir. Ohne Bewusstsein. Was macht der Wind, wenn er nicht weht?
Das schmalste Buch der drei hat António Damásio verfasst, der berühmteste Hirnforscher der Welt, der gern die Gelegenheit wahrnimmt, das Kernproblem des Bewusstseins einmal losgelöst von den doch sehr komplexen neurologischen Grundlagen zu trennen – und die Sache für eine breite Öffentlichkeit so einfach wie möglich darzustellen. Doch schon sein Titel gibt früh zu verstehen, dass er es genauso angehen wird wie die Kollegen: „Wie wir denken, wie wir fühlen. Die Ursprünge unseres Bewusstseins“ (im Original etwas weniger verfänglich: „Feeling and Knowing. Making Minds Conscious“). Es spricht sich hier die Hoffnung aus, dem monolithischen Phänomen über seine Entstehungsgeschichte auf die Spur zu kommen.
Und Damásio gibt sich wirklich große Mühe. Für die Existenzform der Bakterien, die auf ihre Umwelt sinnvoll zu reagieren vermögen, ohne doch über ein Bewusstsein zu verfügen, sucht er einen angemessenen Ausdruck, indem er sagt, dass sie „spürten“, was los sei, und ihnen „Intelligenz“ bescheinigt – beides Begriffe, die eine, vorsichtig gesagt, verrechnende Instanz doch vorauszusetzen scheinen.
Vom Spüren will er das Fühlen getrennt wissen, worunter er jene Affekte versteht, die uns, die Menschen und höheren Tiere, heimsuchen und die anders als bewusst gar nicht auftreten können, indem sie sich nämlich mit intensiver Lust oder Unlust verbinden; und die gibt es nur, wenn jemand da ist, der sie – spürt? Fühlt? „Ich möchte mehr darüber erfahren, welche Mechanismen uns in die Lage versetzen, einen Prozess, der sich eindeutig im physischen Bereich des Körpers abspielt, im Geist zu erleben.“ Ach, aus diesem Wunsch kann nichts werden: Denn er geht genau wie Roth und Prinz arg naiv von einem „wir“ aus, das nichts anderes als ein vervielfachtes Ich ist (das ausdrücklich gesetzte andere Ich hingegen ist das des selbstverständlich unabhängigen Forschers und kommt insofern konzeptionell nicht in Betracht), welches er also in alter cartesianischer Verblendung dort bereits voraussetzt, wo er es erst herzuleiten trachtet – während er zugleich annimmt, bei dem, was er verstehen will, handle es sich um einen „Mechanismus“, ein zusammengesetztes zweckdienliches, nicht primär zweckhaftes Gebilde. Und „im Geist“ werde es erlebt – ja wo sonst? Erleben und Geist kriegt man so wenig auseinander wie Radeln und Fahrrad: nur wer ein Fahrrad hat, radelt; jeder, der radelt, tut es mit dem Fahrrad.
Niemand weiß so viel von der organischen Grundlage des Selbst und aller seiner Facetten wie Damásio. Er schreibt, nicht ohne Demut: „Wie dieses chemische Orchester seine Aufgabe erfüllt, ist so etwas wie ein Wunder.“ Doch er irrt sich, wenn er die Komplexität als solche für das Wunder erachtet. Sie ist bloß komplex, und damit prinzipiell der Rückführung aufs Einfache zugänglich. Das Wunder liegt woanders. Das Wunder liegt darin, dass Selbst und Bewusstsein in die Welt treten im Moment, wo die Nabelschnur reißt und der neue Erdenbürger seinen ersten Schrei ausstößt, laut bekundend, dass er nunmehr da sei, ganz und ungeteilt.
Aber dieses Ganze und Ungeteilte kann die Wissenschaft nicht auf sich beruhen lassen und versucht angestrengt, es zu zerlegen, durch mehrere, einander ergänzende Strategien: Es soll erstens in seiner Genese erscheinen, evolutiv oder individualgeschichtlich, da für alles Gewordene ein Nach-und-nach der Resultate gilt und damit Hoffnung auf Unterteilungen lässt. Es wird zweitens als Funktion oder Mechanismus gedeutet, d. h. etwas Sekundäres hilft also über die Verlegenheit des primären Faktums hinweg. Und drittens werden eng ineinander verschlungene Sachverhalte haarspalterisch zerpflückt, was zu Schwärmen immer neu gewendeter, den Verstand quälender Tautologien führt.
Und anders kann es auch gar nicht sein. Als die moderne Wissenschaft begann, musste sie sich ein eigenes Terrain sichern, in das ihr die herrschende Theologie nicht hineinpfuschte, und fand es in der Beschränkung auf das Wie der Welt. Dies zu beschreiben, wurde zum Geschäft der Physik im weiteren Umfang. Vom Was überhaupt, dem das Wie aufsitzt, die Metaphysik im genauen Sinn, ließ sie lang weise die Finger. Erst als das wissenschaftliche Weltbild sich als das dominante etablierte, wagte es sich an die Metaphysik, konnte aber gerade deren Fragen natürlich nicht behandeln und musste deshalb in Abrede stellen, dass es generell so etwas wie Metaphysik gebe. Beim Makrokosmos führte diese Haltung zur Theorie vom Urknall, mit welchem Erfolg, darüber lässt sich streiten. Im Fall des Mikrokosmos aber, des Ich, des Selbst, des Bewusstseins, schlägt die Metaphysik auf einmal in unser Innerstes durch wie ein Blitz, der vor unserer Nase einen Baum zerschmettert, ein Schrecken aus heiterem Himmel, und führt zu panischen, unsinnigen Reaktionen. In den besprochenen drei Büchern lässt sich besichtigen, was passiert, wenn kluge Leute nicht weiterkommen und das um keinen Preis zugeben wollen.
„Dummerweise verdirbt
uns das ,sparsame Gehirn‘ den
Spaß an vielen Dingen.“
Wolfgang Prinz will
Philosophie und Biologie eine
gemeinsame Sprache geben
Niemand weiß so viel
von der organischen
Grundlage wie Damasio
Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst: Probandin bei der Messung von Hirnströmen.
Foto: Kasper/DPA
Gerhard Roth: Über den Menschen. Suhrkamp, Berlin 2021.
365 Seiten, 26 Euro.
Wolfgang Prinz: Bewusstsein erklären. Suhrkamp, Berlin 2021.
317 Seiten, 24 Euro.
Antonio Damasio: Wie wir denken, wie wir fühlen. Die Ursprünge unseres Bewusstseins. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel.
Hanser, München 2021.
190 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021Im Organismus geht ein Licht an
Repräsentationen braucht es, aber Körper und soziale Interaktion auch: Drei Bücher widmen sich der Frage nach der Entstehung von Bewusstsein.
Von Manuela Lenzen
In den 1990er-Jahren war Bewusstsein schon einmal ein großes Thema. Im Zentrum stand oft, was der australische Philosoph David Chalmers als das "harte Problem" bezeichnete: Warum fühlen sich Empfindungen an, wie sie sich anfühlen? Und warum fühlen sie sich überhaupt an? Die Hirnforschung hatte damals ihre "Hirnscanner" bekommen, mit deren Daten sich bunte Bilder von aktiveren und weniger aktiven Hirnregionen errechnen ließen, je nachdem, welche Aufgaben die Probanden in der "Röhre" lösten. Das war neu, aufregend - und doch eine Sackgasse. Denn erklären ließ sich das Bewusstsein trotz immer neuer Vermutungen über die entscheidenden Korrelationen nicht.
Die Hirnforschung, aber auch die Psychologie und die Kognitionsforschung gingen auf Distanz zu dem notorisch sperrigen Forschungsgegenstand. Das Bewusstsein wurde, wie es der Psychologe Wolfgang Prinz formuliert, ein Sonntagsthema. Alltag, das sind die Arbeiten zur Physiologie des Gehirns, neuronale Korrelate von diesem und jenem, neurokognitive Modellierung. Aber mit der Sonntagsruhe kommt dann die Frage doch wieder auf, warum das Leben sich für uns anfühlt, wie es sich anfühlt, und wie der Körper das zuwege bringt. Schließlich, so Prinz, sind wir bewusste Wesen und möchten uns gerne besser verstehen. Zudem steht der Verdacht im Raum, dass die Intelligenz der Tiere und der Maschinen vielleicht auch deshalb hinter unserer zurückbleibt, weil ihnen genau das fehlt: den Maschinen jede Art von Bewusstsein, den Tieren (vermutlich) das reflektierende Selbstbewusstsein.
Jetzt sind gleich drei Bücher renommierter Forscher erschienen, die sich gegen Ende ihrer Karriere an das große und ein bisschen heikle Thema wagen: neben dem Psychologen Wolfgang Prinz, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, präsentieren Joseph LeDoux vom Center for Neural Science der New York University und der Hirnforscher Antonio Damasio, Direktor des Brain and Creativity Institute der University of California ganz unterschiedliche Rundumblicke auf die Bewusstseinsforschung.
Das Feld ist nach wie vor weit davon entfernt, grundlegende Begriffe wie Geist, Bewusstsein, Selbst, Ich, Repräsentation und Gefühl einheitlich zu verwenden. Lässt man das einmal beiseite, stellt man allerdings fest, dass sich das theoretische Durcheinander der 1990er-Jahre wesentlich gelichtet hat. Alle drei Autoren votieren für eine Theorie der Metarepräsentation: Bewusstsein kann demnach dann entstehen, wenn es Hirnstrukturen gibt, die in der Lage sind Repräsentationen zu bilden, also etwas, das für die Dinge und Zusammenhänge in der Welt steht, und diese Repräsentationen wiederum von anderen Hirnstrukturen erneut abgebildet werden. Wenn es also nicht nur eine Repräsentation der Sonnenblume gibt, sondern auch noch eine davon, dass diese Sonnenblume repräsentiert wird. Nur Wolfgang Prinz weist allerdings darauf hin, dass es bislang keine gute Erklärung dafür gibt, was es mit Repräsentationen genau auf sich hat, und dass damit jede Theorie des Bewusstseins, die sich auf diesen Begriff stützt, in der Luft hängt.
Die Möglichkeit, Repräsentationen noch einmal abzubilden, ist freilich nur eine notwendige Bedingung, ausreichend ist sie nicht, damit ein Organismus Bewusstsein entwickeln kann. Hier findet sich die zweite deutliche Entwicklung seit den 1990er-Jahren: Keiner der Autoren geht mehr davon aus, dass es ausreicht, das Gehirn eines Individuums zu betrachten, um zu verstehen, wie Bewusstsein zustande kommt. Klar ist vielmehr: Man darf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen weder als Instrument zum Erfassen höherer Wahrheiten betrachten noch als etwas, das man vom Körper trennen könnte. Der Geist gehört seinem Organismus, so Damasio. Und er ist erst einmal dazu da, diesem beim Überleben zu helfen.
Damasio hat nicht nur das kürzeste der drei Bücher verfasst, ein Haiku, wie er selbst sagt, reduziert auf die zentralen Gedanken. Ihm gelingen, neben einem fundierten Schnelldurchgang durch Hirn- und Bewusstseinsforschung, wie immer die poetischsten, aber leider nicht immer die klarsten Formulierungen.
So führt er die etwas kontraintuitive Unterscheidung von fühlen und spüren ein. Lebewesen ohne Nervensystem können demnach durchaus etwas spüren, ihnen sei aber nicht klar, dass sie es sind, die etwas spüren. So könnten sie, auch wenn sie eine bemerkenswerte Intelligenz an den Tag legen, nicht über ihr Verhalten nachdenken. Bakterien spürten in diesem Sinne die Gegenwart von Nahrungsstoffen. Bewusstes fühlen würde erst möglich, wenn ein Nervensystem seine Fühler in alle Teile des Körpers ausstreckt und "eine schüchterne Unterhaltung" mit der "Chemie des Lebens" beginnt. Deshalb könne das Bewusstsein auch keine abstrakte Datenstruktur sein, so Damasio, sondern beruhe darauf, dass Nervensystem und Körper "einander bekannt" seien.
Joseph LeDoux blickt in seinem Werk erst einmal ausführlich in die Geschichte der Lebewesen und die Entstehung der Nervensysteme zurück. Sein Buch durchzieht eine seltsame Spannung: Vier Milliarden Jahre Bewusstsein? Während für Damasio Säugetiere, Vögel und vielleicht auch soziale Insekten Bewusstsein haben, betont LeDoux deutlich, dass wir nur beim Menschen von Bewusstsein sprechen sollten. Die evolutionäre Geschichte unseres Bewusstseins sei untief, schreibt der Autor und meint vermutlich, sie sei kurz. Allerdings könnte er dann genau genommen die ersten 41 Kapitel über die Evolutionsgeschichte des Gehirns weglassen, in denen LeDoux zudem vor allem die Arbeiten anderer referiert.
Richtig gut wird das Buch erst, wenn es an LeDoux' eigene Expertise geht: Emotionen und Bewusstsein. Deutlich verwehrt sich der Autor dagegen, Begriffe zu verwischen, und kritisiert massiv den aktuell gängigen "reflektierten Anthropomorphismus", im Zweifel doch lieber anzunehmen, Mensch und Tier seien sich grundlegend ähnlich. Für LeDoux ist es genau andersherum: Man müsse die einfachste mögliche Erklärung vorziehen, und wenn sich das Verhalten von Hunden eben einfacher als unbewusstes Verhalten beschreiben lasse, müsse man dies akzeptieren, auch auf die Gefahr hin, Tierhalter gegen sich aufzubringen.
Auch die Rede von unbewussten Emotionen ist für LeDoux nicht sinnvoll, er betrachtet sie als Ergebnisse kognitiver Bewertungen. Das heißt: Erst waren die kognitiven Fähigkeiten da, dann kamen die Emotionen. Wir bewerten Situationen und empfinden diese Bewertungen als Emotionen. Ein "Spüren" wie Damasio zu den kognitiven Fähigkeiten zu rechnen, fiele LeDoux nicht ein.
Mit Wolfgang Prinz ist LeDoux sich einig, dass nur soziale Wesen Bewusstsein entwickeln können. Das bewusste Erleben sei auch deshalb den Menschen vorbehalten, weil es auch auf das kulturelle Leben, auf Gedächtnis und vor allem auf die Sprache ankomme, so LeDoux.
Wolfgang Prinz macht diesen Punkt sehr deutlich: Die "Selbstförmigkeit" unserer mentalen Organisation sei kein Naturphänomen, sondern das Ergebnis von Lern- und Zuschreibungsprozessen. Statt auf eine "Export-Theorie", der zufolge Menschen die Subjektivität der anderen aus der eigenen ableiten, setzt er auf eine "Import-Theorie": Subjektivität ist demnach etwas, das Menschen, die in Kollektiven leben, einander zuschreiben.
Wenn man nun seinem Hund Bewusstsein zuschreiben und ihn wie einen Menschen behandeln würde, entwickelte er dann Bewusstsein? Nein, sagt Prinz, weil ihm die andere nötige Voraussetzung fehlt: die Fähigkeit, zwischen meinen und deinen Erlebnissen zu unterscheiden. Menschen, die ganz ohne Ansprache und Austausch lebten, könnten demnach im Extrem zwar bewusstlose Zombies sein, "aber Bambi, Lassie und Fury sind wohl nichts weiter als eine schöne Illusion".
Und wie ist es mit künstlichem Bewusstsein? Für die Künstliche-Intelligenz-Forschung ist es zumindest offen, ob Systeme mit menschenähnlicher Intelligenz ohne Bewusstsein möglich sind. Aber könnten Maschinen Bewusstsein entwickeln? Im Prinzip schon, meint Wolfgang Prinz, wenn sie denn die Voraussetzungen erfüllen. Ihnen einen Körper zu geben ist dabei noch die leichtere Übung. Wenn Bewusstsein bei Menschen ein Kollektiv von Individuen in sozialer Interaktion erfordert, gilt dies für Maschinen natürlich auch. Entweder also müssten wir sie in unsere Mitte nehmen, oder sie benötigen ein eigenes Kollektiv. Beides bleibt Spekulation.
Der Nutzen des Bewusstseins und vor allem des Selbstbewusstseins ist mit Blick auf diejenigen Wesen, die nicht darüber verfügen, schnell geklärt. Ohne Bewusstsein könne man nichts wissen, schreibt etwa Damasio. Erst bewusstes Wissen mache erfindungsreich, ermögliche ganz neue und viel komplexere Arten, auf die Welt zu reagieren und das Leben zu leben. Allerdings zu einem Preis: Mit dem Bewusstsein kommen Schmerzen, Leiden und die Angst vor dem Tod. Und ob die Intelligenz, die es uns verschafft, auf lange Sicht ausreichen wird, um uns das Überleben zu sichern, wird sich zeigen.
Wir sehen heute deutlich klarer als in den 1990er-Jahren, wie das Phänomen Bewusstsein mit den Methoden, die derzeit zur Verfügung stehen, eingekreist und beschrieben werden kann. Das "harte Problem" bleibt freilich trotz allem bestehen. Wie genau Bewusstsein im Gehirn entsteht, sei nach wie vor ungeklärt, gesteht Joseph LeDoux ein. Und Wolfgang Prinz beklagt, unser theoretisches Verständnis für das Phänomenale, dafür, wie es sich anfühlt, bleibe in wesentlichen Punkten unvollständig. Lediglich Antonio Damasio findet, die Erklärung des Bewusstseins werde komplizierter gemacht als nötig. Den einen oder anderen Sonntag wird uns das Phänomen also wohl noch beschäftigen. Dabei empfiehlt sich das Buch von Damasio für den Einstieg in das Forschungsfeld, das von LeDoux für den historischen Rückblick und das von Prinz für die gründlichste Diskussion relevanter Erklärungsansätze.
Antonio Damasio: "Wie wir denken, wie wir fühlen." Die Ursprünge unseres Bewusstseins.
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel.
Hanser Verlag, München 2021. 192 S., geb., 22 - Euro.
Wolfgang Prinz: "Bewusstsein erklären".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 317 S., br., 24,- Euro.
Joseph LeDoux: "Bewusstsein". Die ersten vier Milliarden Jahre.
Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke und Sabine Reinhardus. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 472 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Repräsentationen braucht es, aber Körper und soziale Interaktion auch: Drei Bücher widmen sich der Frage nach der Entstehung von Bewusstsein.
Von Manuela Lenzen
In den 1990er-Jahren war Bewusstsein schon einmal ein großes Thema. Im Zentrum stand oft, was der australische Philosoph David Chalmers als das "harte Problem" bezeichnete: Warum fühlen sich Empfindungen an, wie sie sich anfühlen? Und warum fühlen sie sich überhaupt an? Die Hirnforschung hatte damals ihre "Hirnscanner" bekommen, mit deren Daten sich bunte Bilder von aktiveren und weniger aktiven Hirnregionen errechnen ließen, je nachdem, welche Aufgaben die Probanden in der "Röhre" lösten. Das war neu, aufregend - und doch eine Sackgasse. Denn erklären ließ sich das Bewusstsein trotz immer neuer Vermutungen über die entscheidenden Korrelationen nicht.
Die Hirnforschung, aber auch die Psychologie und die Kognitionsforschung gingen auf Distanz zu dem notorisch sperrigen Forschungsgegenstand. Das Bewusstsein wurde, wie es der Psychologe Wolfgang Prinz formuliert, ein Sonntagsthema. Alltag, das sind die Arbeiten zur Physiologie des Gehirns, neuronale Korrelate von diesem und jenem, neurokognitive Modellierung. Aber mit der Sonntagsruhe kommt dann die Frage doch wieder auf, warum das Leben sich für uns anfühlt, wie es sich anfühlt, und wie der Körper das zuwege bringt. Schließlich, so Prinz, sind wir bewusste Wesen und möchten uns gerne besser verstehen. Zudem steht der Verdacht im Raum, dass die Intelligenz der Tiere und der Maschinen vielleicht auch deshalb hinter unserer zurückbleibt, weil ihnen genau das fehlt: den Maschinen jede Art von Bewusstsein, den Tieren (vermutlich) das reflektierende Selbstbewusstsein.
Jetzt sind gleich drei Bücher renommierter Forscher erschienen, die sich gegen Ende ihrer Karriere an das große und ein bisschen heikle Thema wagen: neben dem Psychologen Wolfgang Prinz, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, präsentieren Joseph LeDoux vom Center for Neural Science der New York University und der Hirnforscher Antonio Damasio, Direktor des Brain and Creativity Institute der University of California ganz unterschiedliche Rundumblicke auf die Bewusstseinsforschung.
Das Feld ist nach wie vor weit davon entfernt, grundlegende Begriffe wie Geist, Bewusstsein, Selbst, Ich, Repräsentation und Gefühl einheitlich zu verwenden. Lässt man das einmal beiseite, stellt man allerdings fest, dass sich das theoretische Durcheinander der 1990er-Jahre wesentlich gelichtet hat. Alle drei Autoren votieren für eine Theorie der Metarepräsentation: Bewusstsein kann demnach dann entstehen, wenn es Hirnstrukturen gibt, die in der Lage sind Repräsentationen zu bilden, also etwas, das für die Dinge und Zusammenhänge in der Welt steht, und diese Repräsentationen wiederum von anderen Hirnstrukturen erneut abgebildet werden. Wenn es also nicht nur eine Repräsentation der Sonnenblume gibt, sondern auch noch eine davon, dass diese Sonnenblume repräsentiert wird. Nur Wolfgang Prinz weist allerdings darauf hin, dass es bislang keine gute Erklärung dafür gibt, was es mit Repräsentationen genau auf sich hat, und dass damit jede Theorie des Bewusstseins, die sich auf diesen Begriff stützt, in der Luft hängt.
Die Möglichkeit, Repräsentationen noch einmal abzubilden, ist freilich nur eine notwendige Bedingung, ausreichend ist sie nicht, damit ein Organismus Bewusstsein entwickeln kann. Hier findet sich die zweite deutliche Entwicklung seit den 1990er-Jahren: Keiner der Autoren geht mehr davon aus, dass es ausreicht, das Gehirn eines Individuums zu betrachten, um zu verstehen, wie Bewusstsein zustande kommt. Klar ist vielmehr: Man darf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen weder als Instrument zum Erfassen höherer Wahrheiten betrachten noch als etwas, das man vom Körper trennen könnte. Der Geist gehört seinem Organismus, so Damasio. Und er ist erst einmal dazu da, diesem beim Überleben zu helfen.
Damasio hat nicht nur das kürzeste der drei Bücher verfasst, ein Haiku, wie er selbst sagt, reduziert auf die zentralen Gedanken. Ihm gelingen, neben einem fundierten Schnelldurchgang durch Hirn- und Bewusstseinsforschung, wie immer die poetischsten, aber leider nicht immer die klarsten Formulierungen.
So führt er die etwas kontraintuitive Unterscheidung von fühlen und spüren ein. Lebewesen ohne Nervensystem können demnach durchaus etwas spüren, ihnen sei aber nicht klar, dass sie es sind, die etwas spüren. So könnten sie, auch wenn sie eine bemerkenswerte Intelligenz an den Tag legen, nicht über ihr Verhalten nachdenken. Bakterien spürten in diesem Sinne die Gegenwart von Nahrungsstoffen. Bewusstes fühlen würde erst möglich, wenn ein Nervensystem seine Fühler in alle Teile des Körpers ausstreckt und "eine schüchterne Unterhaltung" mit der "Chemie des Lebens" beginnt. Deshalb könne das Bewusstsein auch keine abstrakte Datenstruktur sein, so Damasio, sondern beruhe darauf, dass Nervensystem und Körper "einander bekannt" seien.
Joseph LeDoux blickt in seinem Werk erst einmal ausführlich in die Geschichte der Lebewesen und die Entstehung der Nervensysteme zurück. Sein Buch durchzieht eine seltsame Spannung: Vier Milliarden Jahre Bewusstsein? Während für Damasio Säugetiere, Vögel und vielleicht auch soziale Insekten Bewusstsein haben, betont LeDoux deutlich, dass wir nur beim Menschen von Bewusstsein sprechen sollten. Die evolutionäre Geschichte unseres Bewusstseins sei untief, schreibt der Autor und meint vermutlich, sie sei kurz. Allerdings könnte er dann genau genommen die ersten 41 Kapitel über die Evolutionsgeschichte des Gehirns weglassen, in denen LeDoux zudem vor allem die Arbeiten anderer referiert.
Richtig gut wird das Buch erst, wenn es an LeDoux' eigene Expertise geht: Emotionen und Bewusstsein. Deutlich verwehrt sich der Autor dagegen, Begriffe zu verwischen, und kritisiert massiv den aktuell gängigen "reflektierten Anthropomorphismus", im Zweifel doch lieber anzunehmen, Mensch und Tier seien sich grundlegend ähnlich. Für LeDoux ist es genau andersherum: Man müsse die einfachste mögliche Erklärung vorziehen, und wenn sich das Verhalten von Hunden eben einfacher als unbewusstes Verhalten beschreiben lasse, müsse man dies akzeptieren, auch auf die Gefahr hin, Tierhalter gegen sich aufzubringen.
Auch die Rede von unbewussten Emotionen ist für LeDoux nicht sinnvoll, er betrachtet sie als Ergebnisse kognitiver Bewertungen. Das heißt: Erst waren die kognitiven Fähigkeiten da, dann kamen die Emotionen. Wir bewerten Situationen und empfinden diese Bewertungen als Emotionen. Ein "Spüren" wie Damasio zu den kognitiven Fähigkeiten zu rechnen, fiele LeDoux nicht ein.
Mit Wolfgang Prinz ist LeDoux sich einig, dass nur soziale Wesen Bewusstsein entwickeln können. Das bewusste Erleben sei auch deshalb den Menschen vorbehalten, weil es auch auf das kulturelle Leben, auf Gedächtnis und vor allem auf die Sprache ankomme, so LeDoux.
Wolfgang Prinz macht diesen Punkt sehr deutlich: Die "Selbstförmigkeit" unserer mentalen Organisation sei kein Naturphänomen, sondern das Ergebnis von Lern- und Zuschreibungsprozessen. Statt auf eine "Export-Theorie", der zufolge Menschen die Subjektivität der anderen aus der eigenen ableiten, setzt er auf eine "Import-Theorie": Subjektivität ist demnach etwas, das Menschen, die in Kollektiven leben, einander zuschreiben.
Wenn man nun seinem Hund Bewusstsein zuschreiben und ihn wie einen Menschen behandeln würde, entwickelte er dann Bewusstsein? Nein, sagt Prinz, weil ihm die andere nötige Voraussetzung fehlt: die Fähigkeit, zwischen meinen und deinen Erlebnissen zu unterscheiden. Menschen, die ganz ohne Ansprache und Austausch lebten, könnten demnach im Extrem zwar bewusstlose Zombies sein, "aber Bambi, Lassie und Fury sind wohl nichts weiter als eine schöne Illusion".
Und wie ist es mit künstlichem Bewusstsein? Für die Künstliche-Intelligenz-Forschung ist es zumindest offen, ob Systeme mit menschenähnlicher Intelligenz ohne Bewusstsein möglich sind. Aber könnten Maschinen Bewusstsein entwickeln? Im Prinzip schon, meint Wolfgang Prinz, wenn sie denn die Voraussetzungen erfüllen. Ihnen einen Körper zu geben ist dabei noch die leichtere Übung. Wenn Bewusstsein bei Menschen ein Kollektiv von Individuen in sozialer Interaktion erfordert, gilt dies für Maschinen natürlich auch. Entweder also müssten wir sie in unsere Mitte nehmen, oder sie benötigen ein eigenes Kollektiv. Beides bleibt Spekulation.
Der Nutzen des Bewusstseins und vor allem des Selbstbewusstseins ist mit Blick auf diejenigen Wesen, die nicht darüber verfügen, schnell geklärt. Ohne Bewusstsein könne man nichts wissen, schreibt etwa Damasio. Erst bewusstes Wissen mache erfindungsreich, ermögliche ganz neue und viel komplexere Arten, auf die Welt zu reagieren und das Leben zu leben. Allerdings zu einem Preis: Mit dem Bewusstsein kommen Schmerzen, Leiden und die Angst vor dem Tod. Und ob die Intelligenz, die es uns verschafft, auf lange Sicht ausreichen wird, um uns das Überleben zu sichern, wird sich zeigen.
Wir sehen heute deutlich klarer als in den 1990er-Jahren, wie das Phänomen Bewusstsein mit den Methoden, die derzeit zur Verfügung stehen, eingekreist und beschrieben werden kann. Das "harte Problem" bleibt freilich trotz allem bestehen. Wie genau Bewusstsein im Gehirn entsteht, sei nach wie vor ungeklärt, gesteht Joseph LeDoux ein. Und Wolfgang Prinz beklagt, unser theoretisches Verständnis für das Phänomenale, dafür, wie es sich anfühlt, bleibe in wesentlichen Punkten unvollständig. Lediglich Antonio Damasio findet, die Erklärung des Bewusstseins werde komplizierter gemacht als nötig. Den einen oder anderen Sonntag wird uns das Phänomen also wohl noch beschäftigen. Dabei empfiehlt sich das Buch von Damasio für den Einstieg in das Forschungsfeld, das von LeDoux für den historischen Rückblick und das von Prinz für die gründlichste Diskussion relevanter Erklärungsansätze.
Antonio Damasio: "Wie wir denken, wie wir fühlen." Die Ursprünge unseres Bewusstseins.
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel.
Hanser Verlag, München 2021. 192 S., geb., 22 - Euro.
Wolfgang Prinz: "Bewusstsein erklären".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 317 S., br., 24,- Euro.
Joseph LeDoux: "Bewusstsein". Die ersten vier Milliarden Jahre.
Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke und Sabine Reinhardus. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 472 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit einer gewissen Erleichterung schaut Rezensent Burkhard Müller drei Größen ihres Faches, den Neurobiologen Gerhard Roth und Antonio Damasio, und dem Kognitionswissenschaftler Wolfgang Prinz beim "Scheitern" zu. Mit knapp achtzig Jahren präsentieren alle drei Autoren unabhängig voneinander die Ergebnisse ihres Lebenswerks zur Frage nach der Funktion unseres Bewusstseins. Gern greift der Kritiker zu Damasios "schmalem", eher für ein breites Publikum zugeschnittenem Werk, in dem ihm der Hirnforscher die "Ursprünge unseres Bewusstseins" am Unterschied zwischen Fühlen und Spüren verdeutlichen will: Aber auch Damasio übersieht, dass es zunächst jemanden mit Bewusstsein braucht, der spürt oder fühlt, wendet Müller ein. Damasio mag über die organische Grundlage unseres Selbst so viel wissen wie niemand sonst - den letzten Fragen zur Funktion unseres Bewusstseins kommt auch er nicht auf die Schliche, schließt Müller.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Was bedeutet es, ein Bewusstsein zu haben? (...) Es ist die bisher klarste, zugänglichste Darstellung seiner bedeutendsten Idee. Und eine hervorragende Einführung in die Grundfragen der Philosophie des Geistes." Tobias Hürter, Bild der Wissenschaft, 24.10.22
"Der Neurowissenschaftler ermöglicht es, sehr präzise empirische Erkenntnisse mit philosophischen Fragestellungen zu verbinden." Gert Scobel, Philosophie Magazin 1/2022
"Der Neurowissenschaftler ermöglicht es, sehr präzise empirische Erkenntnisse mit philosophischen Fragestellungen zu verbinden." Gert Scobel, Philosophie Magazin 1/2022