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Perlentaucher-Notiz zur 9punkt-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
In ihrem Buch "Wie wir uns Rassismus beibringen" analysiert die deutsch-iranische Journalistin Gilda Sahebi deutsche Debatten. Und schlägt dabei weder einen moralisierenden noch selbstgerechten Ton an.
Von Till Schmidt
Semra Ertan arbeitete als Dolmetscherin, als technische Bauzeichnerin und Schriftstellerin. An einer Straßenkreuzung in Hamburg St. Pauli verbrannte sie sich 1982 aus Protest gegen den Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft selbst. "Mein Name ist Ausländer" ist Ertans bekanntestes Gedicht. Es gehört zum kulturellen Erbe des Einwanderungslandes Deutschland und ist dem neuen Buch der deutsch-iranischen Journalistin Gilda Sahebi vorangestellt. Sahebis Buch wirkt auf den ersten Blick wie eine der vielen aktuellen Publikationen zum Thema. Sendungsbewusst verspricht es eine "längst überfällige Analyse deutscher Debatten"; will zeigen, wie "wir" uns Rassismus "beibringen". Doch Sahebi geht dabei so klug mit den Dynamiken der hiesigen Rassismus-Debatte um, dass sie deren oft toxische Logik entkräftet.
Bereits in der Einleitung macht Gilda Sahebi deutlich, dass sie kein Interesse daran hat, skurrile Anekdoten aus den Nischen antirassistischer Subkulturen zu erzählen. Vielmehr betont die Autorin ihren großen Respekt vor allen Menschen, die sich in Deutschland bereits selbstkritisch mit Rassismus auseinandersetzen und etwa Geflüchtete in ihrem zermürbenden Alltag pragmatisch unterstützen.
Dabei hebt Sahebi insbesondere die Ausdauer der direkt von Rassismus Betroffenen hervor. Ihre Perspektiven und ihr Wissen sind für sie von "unschätzbarem Wert" für das gesellschaftliche Vorankommen. Dazu gehört die Lyrik von Semra Ertan genauso wie die unzähligen Geschichten vom gelungenen Zusammenleben: in Liebesbeziehungen, Freundschaften oder unter Arbeitskollegen, die sich von der Dummheit, Hartnäckigkeit und Wucht rassistischer Ressentiments nicht unterkriegen lassen.
Im Persönlichen bleibt Sahebi aber nicht stehen. In "Wie wir uns Rassismus beibringen" geht es vielmehr darum, die Zähigkeit von historisch gewachsenen sozialen Strukturen mit der Möglichkeit und Notwendigkeit von individueller Verantwortung und menschlicher Handlungsmacht zusammenzubringen. Sahebi möchte zunächst verstehen und aufzeigen, woher rassistische Denkmuster kommen, wie sie entstehen und was sie bewirken, um darauf aufbauend ins Politische zu kommen.
Einen aktivistisch-agitatorischen Stil pflegt sie dabei nicht. "Wie wir uns Rassismus beibringen" ist ein eindringliches, immer wieder konfrontatives, zugleich aber auch nüchternes und vor allem komplexes Buch, in dem es um das Thema "Clankriminalität" genauso geht, wie Sahebi die Grauen Wölfe als zweitgrößte rechtsextreme Bewegung in Deutschland immerhin erwähnt. Gerade am Beispiel emotionalisierender Themen wie Antisemitismus unter Muslimen oder Sexismus und sexualisierte Gewalt unter Geflüchteten macht die Politikwissenschaftlerin deutlich, wie dürftig die Studienlage ist. Wissenschaftliche Erkenntnisse wären zwar eine zentrale Grundlage für lösungsorientierte Debatten und kluge politische Entscheidungen. Doch zu den von Sahebi beschriebenen Wirkweisen von Rassismus gehört auch, dass zahlreiche politische und gesellschaftliche Akteure gar kein Interesse am Verstehen und Abwägen haben - oder dem sogar aktiv entgegenwirken.
Für ihre Beschreibung des kontinuierlichen Ringens um Deutungshoheit und gesellschaftliche Hegemonie geht das Buch bis in die Zeit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 zurück. Sahebi verweist etwa auf die Lobbyarbeit von Pressure Groups wie dem völkischen Alldeutschen Verband und den Kolonialvereinen sowie auf Politiker und Publizisten wie den berühmten konservativen Historiker Heinrich von Treitschke, von dem der Satz "Die Juden sind unser Unglück" stammt. Bis in die Gegenwart zeigt Sahebi, wie Rassismus - ob aus strategischem Kalkül eingesetzt oder als Ausdruck unbewusster Projektionen - die Spaltung der Gesellschaft forciert und jedem Versuch entgegensteht, allen Menschen in Deutschland ein möglichst gutes Leben zu ermöglichen.
Ein aktuelles Beispiel ist die nach dem Terrorangriff der Hamas intensivierte Rede von einem "importierten Antisemitismus", die sogar in Forderungen gipfelte, deutsche Staatsbürger abzuschieben. Besonders eindringlich habe sich die opportunistische Doppelmoral dieser Debatte bei dem stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger gezeigt: Statt nach der Konfrontation mit einem antisemitischen Flugblatt aus seiner Jugendzeit Verantwortung zu übernehmen, inszenierte sich Aiwanger als Opfer einer "Schmutzkampagne". Nach dem 7. Oktober verortete er den Antisemitismus dann lautstark wetternd bei den kürzlich Zugewanderten. Ihr Kapitel über Aiwanger hat Sahebi trocken mit "Homegrown antisemitism" überschrieben.
Ohnehin schlägt die Autorin auf keiner der fast 400 Buchseiten einen moralisierenden oder selbstgerechten Ton an, der es kaum möglich machte, aus dem egozentrischen Spiel der kleinen und großen Demagogen auszubrechen. Sahebis Blick auf die bestehenden Strukturen und Denkmuster des Rassismus funktioniert aber auch deshalb so gut, weil sie immer wieder von "Good-Practice"-Beispielen berichtet und klar und differenziert argumentierende Gegenstimmen zu Wort kommen lässt. So etwa den Historiker Frank Trentmann mit seiner jüngsten Studie zur Geschichte der Deutschen oder die Autorin Laura Cazés, die zu den interessanten jungen jüdischen Stimmen in der deutschen Öffentlichkeit gehört.
Anhand eines Artikels des Journalisten Ronen Steinke von der "Süddeutschen Zeitung" zu den die Hamas verharmlosenden oder gar feiernden Demonstrationen in Berlin-Neukölln zeigt Sahebi nicht nur, wie einfach es sein kann, über rechtsstaatliche Antworten zu schreiben, ohne ein einziges rassistisches Narrativ zu füttern. Zudem entkräftet dieses Beispiel die so häufig vorgebrachte Behauptung, in Deutschland sei es nicht oder nicht mehr möglich, bestimmte Probleme überhaupt zu benennen.
Die erste zentrale Frage von "Wie wir uns Rassismus beibringen" ist, ob und inwieweit politische und mediale Debatten eher zur Spaltung oder zur Lösung von gesellschaftlichen Problemen beitragen. Die zweite, inwieweit Menschen ihre Handlungsmacht nutzen und sich dazu entscheiden, sich selbstkritisch mit den rassistischen Anteilen dieser Debatten auseinanderzusetzen. Heute wäre und ist das viel leichter möglich als noch vor Jahrzehnten - auch aufgrund der vielen hörbaren Stimmen der direkt Betroffenen. Das auf den ersten Blick allzu vergemeinschaftend wirkende "Wir" im Buchtitel ist daher klug gewählt: Weil es nicht nur auf die Verantwortung der Gesamtgesellschaft verweist - sondern auch auf das Ringen von vielen Menschen in Deutschland, in diesem Wir überhaupt Platz zu finden.
Auf die Frage nach dem Umgang mit der AfD bietet das Buch trotz eines eigenen Kapitels zu diesem Thema nur wenig Antworten. Sahebis Anregung, deren Protagonisten möglichst wenig Raum und Bühne zu geben, mag mancherorts noch funktionieren. Aber wie wird es nach den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen aussehen? Gilda Sahebis Appell für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit Rassismus setzt voraus, dass eine ausreichende Zahl Menschen noch ansprechbar ist und Rechtsextreme nicht über politische Macht in den staatlichen Institutionen verfügen.
Gilda Sahebi: "Wie wir uns Rassismus beibringen - Eine Analyse deutscher Debatten". Verlag S. Fischer, 464 Seiten, 26 Euro
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