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WIE WIR VERSCHWINDEN erzählt eine große Geschichte der Erinnerung: Raymond, Witwer mit zwei so lebhaften wie eigensinnigen Töchtern, erhält nach Jahrzehnten des Schweigens einen Brief seines todkranken Jugendfreundes Maurice, der ihn in die gemeinsam erlebte Vergangenheit zurückversetzt: nach Villeblevin, wo 1960 Albert Camus bei einem Autounfall ums Leben kam. Ein französisches Dorf und ein historisches Ereignis werden für zwei Jugendfreunde zum symbolischen Angelpunkt, um die fünfzig zurückliegenden Jahre zu erinnern und ihre Schicksalhaftigkeit anzuerkennen. Erinnerung an die eigene Jugend…mehr

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Produktbeschreibung
WIE WIR VERSCHWINDEN erzählt eine große Geschichte der Erinnerung: Raymond, Witwer mit zwei so lebhaften wie eigensinnigen Töchtern, erhält nach Jahrzehnten des Schweigens einen Brief seines todkranken Jugendfreundes Maurice, der ihn in die gemeinsam erlebte Vergangenheit zurückversetzt: nach Villeblevin, wo 1960 Albert Camus bei einem Autounfall ums Leben kam. Ein französisches Dorf und ein historisches Ereignis werden für zwei Jugendfreunde zum symbolischen Angelpunkt, um die fünfzig zurückliegenden Jahre zu erinnern und ihre Schicksalhaftigkeit anzuerkennen. Erinnerung an die eigene Jugend und das Sterben eines Idols verbinden sich zu einem ergreifenden Roman, der Mirko Bonné als einen der bedeutenden Autoren unserer Zeit zeigt. Wie wir verschwinden ist ein großes Buch der Erinnerung, ein Roman unseres Lebens wie des Sterbens einer Ikone des letzten Jahrhunderts: Albert Camus. "Ich habe das alles in den Jahren nie vergessen, besonders nicht den einen Tag, den Unfall auf der Chaussee. Ich habe begonnen, über den Autounfall zu schreiben ..."

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Autorenporträt
Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, lebt in Hamburg. Neben Übersetzungen von u. a. Sherwood Anderson, Emily Dickinson, John Keats und William Butler Yeats veröffentlichte er Romane und Gedichtbände sowie Aufsätze und Reisejournale. Für sein Werk wurde Mirko Bonné vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Ernst Willner-Preis (2002), dem Prix Relay du Roman d'Evasion (2008) und dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2010).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2009

Die Maschine des großen Verschwindens

Der wohl französischste Autor der jüngeren deutschen Literatur: Mirko Bonné heftet sich an die Stoßstange von Albert Camus und erzählt in seinem neuen Roman von zwei Unfällen in der französischen Provinz.

Wie heiter die Fahrt in halsbrecherischem Tempo", schreibt Albert Camus in einem Gedicht, das Mirko Bonné (selber einst leidenschaftlicher Alfa-Romeo-Fahrer) seinem neuen Roman voranstellt. "Wahrheit lügt, Offenheit verhehlt. Verbirg dich im Licht." Das Absurde kann "jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen", vor allem, wenn er im Winter mit halsbrecherischen 135 Stundenkilometern auf der Landstraße unterwegs ist. Am 4. Januar 1960, mitten im heiteren Gespräch, starb Camus bei Villeblin südöstlich von Paris, als der Facel Vega - eine imposante Fehlkonstruktion mit 260 PS und berüchtigten "Selbstmördertüren" - von Michel Gallimard, dem Neffen und Kronprinzen seines Verlegers, bei überhöhter Geschwindigkeit von der Route Nationale 6 abkam. Camus hat den Verkehrsunfall einmal den absurdesten aller Tode genannt. Der Autor von "Der glückliche Tod" war sofort tot; Gallimard starb wenige Tage später, seine Frau und seine Tochter überlebten.

Am selben Tag geschah in Villeblin noch ein anderer Unfall, der Bonnés Erzähler alles raubte, woran er geglaubt hatte: seine große Liebe, seinen besten Freund, die Hoffnung auf eine bessere Welt anderswo. Zusammen mit Maurice hatte Raymond eine Draisine zur "Großen Maschine des Verschwindens" umgebaut, auf der sie aus ihrem Provinzkaff fliehen wollten; aber als es dann so weit war, ließen Maurice und Delphine ihn im Stich. Der pubertäre Traum vom großen Verschwinden endete an einer Weiche, die sich nicht umlegen ließ: Raymonds Jugend ging an diesem verhängnisvollen Tag zu Ende, und mit seiner Unschuld zerbrach auch das Vertrauen in die Menschen.

Vier Jahrzehnte später bittet Maurice, inzwischen Schriftsteller im letzten Stadium einer unheilbaren Lateralsklerose, in Briefen um Verzeihung, aber Raymond, nach einer schweren Herzerkrankung frühpensioniert und seit dem Tod seiner Frau vollends apathisch und depressiv, weist das Ansinnen mit der Kälte des gelernten Wissenschaftlers ab. "Wen kümmert schon die Seelenpein eines anderen. Eine Fehlfunktion von Gehirn und Neurotransmittern. Wen kümmert die meine? Einen, so schien es, der im Sterben lag, den ich seit 38 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Aber hatte mich deshalb auch gleich seine Seelenfehlfunktion zu kümmern?"

Camus, ihr gemeinsames Idol (der von seinem Kampfgefährten Sartre auf ähnlich schmerzhafte Weise entzweit wurde), forderte menschliche Solidarität im Angesicht des Todes, Überwindung der Tragik durch Pflichterfüllung, die Revolte eines "höhnischen Trotzdem". Aber die Briefe nähren in Raymond den schrecklichen Verdacht, dass Maurice ihm auch Veronique, Stütze und Trost seines zweiten Lebens, gestohlen haben könnte, und diese Kränkung wiegt noch schwerer als der erste Verrat.

Das bisschen Lebensfreude, das ihm noch geblieben ist, wird von den Sorgen um seine Töchter aufgezehrt. Jeanne hat gerade ihre Ehe mit André für eine Affäre mit einem dahergelaufenen Schläger weggeworfen. Raymond gerät zwischen die Fronten des Ehekriegs; Pénélope, seine jüngere Tochter, ist zu weit weg und zu ungestüm, um ihrem hilflosen Vater beistehen zu können. So fühlt sich der lebensmüde Rentner "fehl am Platz in der Ordnung der Dinge", im freien Fall zum Tod: Kein Bote aus der Vergangenheit, keine zur Versöhnung ausgestreckte Hand sollen ihn aus Isolation und Verbitterung aufstören dürfen.

Bonné gelingt es immer wieder, die "vergrübelte Düsternis" in Raymonds "Kummermuseum" durch lebenskluge Gedanken und Geschichten aus dem Mikrokosmos der französischen Provinz aufzuhellen. Beiläufig und bedächtig verschränkt er das große Verschwinden Camus' mit den kleinen Fluchten seiner jugendlichen Schüler und führt die beiden unsterblich verfeindeten Jugendfreunde auf Umwegen und Nebenstraßen schließlich ohne falsche Sentimentalität wieder zusammen. Am Ende kommt die Maschine des Verschwindens, die so lange auf dem toten Gleis stand, noch einmal in Fahrt. Die in Superzeitlupe gedehnte Erzählung von Camus' letzten Sekunden, die Maurice seinen Briefen beilegt, lösen Hemmschuhe und Bremsklötze in Raymond; seine neue Freundin Robertine setzt ihn behutsam aufs richtige Gleis. Widerstrebend und misstrauisch, beginnt er seinen alten Groll zu überwinden.

Als er ihm in Auvers-sur-Oise (wo auch van Gogh begraben liegt) schließlich gegenübertritt, kann Maurice nicht einmal mehr sprechen: Das Zucken der Lidmuskeln ist das Morsealphabet des gelähmten Autors, das nur noch ein Liebender nachbuchstabieren kann. Delphines Sohn liest seinem Stiefvater mit einer Wunderbrille von den Augen ab, was noch zu sagen ist. Es ist nicht mehr viel, aber genug, um, ganz im Sinne Camus', das Kriegsbeil zu begraben: Das Leben mag sinnlos sein, aber man darf es nicht wegwerfen. Die Leere hält niemand alleine aus; man tut gut daran, "seine stärkste Wache am Tor zum Nichts aufzustellen" und auf den Beistand von Freunden nicht zu verzichten. So gelingt das Wiedersehen, das sich Raymond nur als Zusammenstoß zweier Züge vorstellen konnte, wider Erwarten doch: als erinnernde, verzeihende Vergegenwärtigung geteilten Leids und gemeinsam erfahrener Absurdität. "Der Tod setzt allem eine Grenze, nicht aber dem Erzählen."

Mirko Bonnés Gedichte und Romane sind schon viel gelobt worden, aber er wird immer noch nicht gebührend geschätzt. In "Wie wir verschwinden" erzählt er so ruhig und gelassen von der Kunst des Lebens und Sterbens, vom Umgang mit Trauer und Schuld, dass das ernste Thema alles tragische Pathos verliert. Sein Roman ist nicht frei von Längen und altersweiser Behäbigkeit, aber auch voll französischer Leichtigkeit und Esprit. Der melancholische Zauber der Provinz im Dreieck zwischen Villeblin, Versailles und Auvers erinnert an Françoise Sagans "Bonjour Tristesse", die prekäre Dreiecksbeziehung an Truffaut-Filme, das Plaudern in lauen Sommernächten an Eric Rohmer. Raymond, der schwermütige stille Brüter, ist eine durchaus deutsche Figur. Aber wie die beiden Jungexistentialisten durch den Tod ihres Idols getrennt und wieder zusammengeführt werden, auf der Suche nach der verlorenen Zeit traurige Chansons im Autoradio hören und geistreich-elegant Aristoteles, Lully, Nabokov, Einstein und andere Bildungshelden beschwören: Das macht Bonné zum wohl französischsten Autor in der neueren deutschen Literatur.

Raymond hat den "Mythos des Sisyphos" nie gelesen, aber am Ende muss man sich ihn als glücklichen Menschen vorstellen. Der leidgeprüfte, mit seinem Schicksal hadernde Frührentner hat den Stein, unter dem seine Jugendträume begraben liegen, so beharrlich um und um gewendet, bis er zuletzt doch noch ins Rollen kam. Leben war für Camus Bewegung, Neugier, Offenheit und reine kinetische Energie, Tod dagegen Stillstand und Unbeweglichkeit. Im selben Maße, wie Maurice bewegungslos verdämmert, kehrt sein verlorener Zwillingsbruder bewegt aus der Totenstarre der Resignation ins Leben zurück. Das Unglück des einen ist das Glück des anderen; aber spätestens im Tod werden die getrennten Hälften eines absurden Schicksals wieder eins.

MARTIN HALTER

Mirko Bonné: "Wie wir verschwinden". Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2009. 339 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Erinnert Mirko Bonnes Roman "Wie wir verschwinden" zunächst an einen französischen Film, der an einem leichten Sommertag zögerlich seine Geschichte um Liebe, Verrat und Treuebruch entfaltet, so gewinnt er in seinem zweiten Erzählstrang eine Dynamik von mythischer Wucht, stellt Ulrich Baron fasziniert fest. Der 1965 in Tegernsee geborene Autor entrollt die Geschichte zweier Jugendfreunde, deren Freundschaft zerbricht, "als sie ihren größten Triumph feiern wollen": Er lässt die beiden in der französischen Provinz in einer selbst instandgesetzten Draisine auf eben jenen Sportwagen zusteuern, mit dem Albert Camus und der Neffe des Verlegers Gallimard tödlich verunglücken. Für den Rezensenten gehört dieser Verkehrsunfall von geradezu mythischer Dimension zu den beeindruckendsten Szenen der deutschen Literatur, wie ihn das Buch überhaupt als brillant konstruierter Roman begeistert. Dabei ist es insbesondere die Diskrepanz von geradezu somnambuler Ruhe und rasender Dynamik, die Baron an diesem Werk so beeindruckend findet.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Bonné erzählt so ruhig und gelassen von der Kunst des Lebens und Sterbens, vom Umgang mit Trauer und Schuld, dass das ernste Thema alles tragische Pathos verliert.« Martin Halter / Frankfurter Allgemeine Zeitung»Bonné schafft eine Kollisionsstelle zwischen (literatur-)historischer Realität und literarischer Fiktion, die zu den eindruckvollsten Szenen zählt, die die deutsche Literatur der letzten Jahre hervorgebracht hat.« Ulrich Baron / Süddeutsche Zeitung