WIE WIR VERSCHWINDEN erzählt eine große Geschichte der Erinnerung: Raymond, Witwer mit zwei so lebhaften wie eigensinnigen Töchtern, erhält nach Jahrzehnten des Schweigens einen Brief seines todkranken Jugendfreundes Maurice, der ihn in die gemeinsam erlebte Vergangenheit zurückversetzt: nach Villeblevin, wo 1960 Albert Camus bei einem Autounfall ums Leben kam. Ein französisches Dorf und ein historisches Ereignis werden für zwei Jugendfreunde zum symbolischen Angelpunkt, um die fünfzig zurückliegenden Jahre zu erinnern und ihre Schicksalhaftigkeit anzuerkennen. Erinnerung an die eigene Jugend und das Sterben eines Idols verbinden sich zu einem ergreifenden Roman, der Mirko Bonné als einen der bedeutenden Autoren unserer Zeit zeigt. Wie wir verschwinden ist ein großes Buch der Erinnerung, ein Roman unseres Lebens wie des Sterbens einer Ikone des letzten Jahrhunderts: Albert Camus. "Ich habe das alles in den Jahren nie vergessen, besonders nicht den einen Tag, den Unfall auf der Chaussee. Ich habe begonnen, über den Autounfall zu schreiben ..."
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.06.2009Wenn die Vögel aufflattern
Die Beschleunigung Frankreichs: Mirko Bonnés Roman „Wie wir verschwinden”
Die Zuschauer können es nicht fassen, was da über die Landstraße der französischen Provinz auf sie zu rast: „Der reinste Panzer”, sagt einer der beiden Männer im Holzlaster, „nur dass der da mit 130 Sachen durch die Gegend brettert.” Und dass er sich einer anderen Fahrerin bedrohlich nähert: „Sie sah den grünen Wagen tanzen, hin und her über die gesamte Breite der Landstraße.”
In seinem Schlepp scheint er einen Schwarm großer Vögel zu haben: „Wild kreischende Krähen oder Dohlen wurden hinter dem Wagen emporgewirbelt und davonkatapultiert.” Es scheint so, „als würden die Vögel erst durch das Auto entstehen oder als würde das Auto vor ihren Augen sich auflösen und Stück für Stück Vogel werden”. Dabei hatte dieses Buch so ruhig begonnen, hatte so ruhig beginnen müssen, weil der Ich-Erzähler jede Anstrengung vermeiden musste.
Es war Sommer, als er den ersten Brief von seinem Jugendfreund Maurice Ravoux erhielt. Nach einer schweren Herzerkrankung aus der Klinik – noch sehr geschwächt – in einen kommoden, aber einsamen Ruhestand entlassen, war der verwitwete Unternehmer Raymond in sein Haus in der Nähe von Versailles zurückgekehrt. Seine Nachbarin ist fürsorglich und mehr als das. Für einige Abwechslung sorgen auch seine beide Töchter, die als Gäste das halb verwaiste Elternhaus mit ihren Beziehungsdramen beleben.
Das Tempo der Draisine
Diese Konstellation hat der 1965 in Tegernsee geborene Mirko Bonné so leichthändig und elegant entwickelt, dass man sich in einen französischen Film versetzt fühlt, dessen Darsteller vor einer exquisiten Gartenkulisse gelassen darauf warten, dass ihr Regisseur endlich durchblicken lässt, worum es nun eigentlich geht.
Es geht um nichts als das Leben, also auch um Tod und Verlust. Um eine alte Geschichte, um eine Freundschaft, um deren Verrat und um Untreue, um Gewissheiten, die in der Jugend schon einmal verlorengingen, und nun im Alter erneut verlorenzugehen drohen.
Man erfährt davon aus jenem Brief und aus dessen Fortsetzungen, die Raymond aber nur sehr zögernd zu lesen bereit ist. So könnte man fürchten, was mit einem lichten Jahrhundertsommertag begonnen hatte, würde sich am langen Ende als quälende Enthüllung alter Narben dahinschleppen.
Doch weit gefehlt. Bonné hat die Vorgeschichte der beiden Männer, deren Jugendfreundschaft zerbrochen war, als sie ihren größten Triumph hatten feiern wollen, mit einem zweiten Erzählstrang verknüpft. Der wird von jenem tonnenschweren Sportcoupé „mit 130 Sachen” über die Landstraße nahe dem Dorf Villeblevin gezogen. Am 4. Januar 1960 ist der Name des Dorfs in die Literaturgeschichte eingegangen, als Albert Camus dort bei einem Autounfall ums Leben kam. Bonnés Roman gibt ihm noch einmal ein paar letzte Minuten Lebenszeit.
Der Wagen ist ein Facel Vega, eine jener raren Chimären der 1950er und 1960er Jahre, unter deren europäischen Motorhauben riesige amerikanische V8-Motoren 260 und zuletzt mehr als 300 PS mobilisierten. Am Steuer sitzt Michel Gallimard, ein Neffe von Camus’ Verleger, im Fond sitzen seine Frau und Tochter, und neben ihm sitzt der Literaturnobelpreisträger selbst, der eigentlich die Bahn hätte nehmen wollen.
Während die jugendlichen Romanhelden gerade mit ihrer „Maschine des großen Verschwindens”, einer seit Monaten heimlich restaurierten Draisine, in die Welt aufbrechen wollen, rasen der Literaturnobelpreisträger und Gallimard in den Tod. Bonné schafft hier eine Kollisionsstelle zwischen (literatur-)historischer Realität und literarischer Fiktion, die zu den eindrucksvollsten Szenen zählt, die die deutsche Literatur der letzten Jahre hervorgebracht hat. Wenn sich beide Erzählstränge, wenn sich Facel und Draisine einander nähern, ohne dass deren Fahrer davon wissen, wird ein Frankreich der zwei Geschwindigkeiten heraufbeschworen, wie es um 1960 auch in den Filmen von Jacques Tati eingefangen wurde.
Gallimards Facel Vega, im Französischen weiblichen Geschlechts, war Vorbotin jener Blechlawine, die sich 1967 nicht nur in Godards Film „Week-end” über die Straßen Frankreichs wälzen sollte. Hier ist ein Epochenwechsel in ein Bild gesetzt worden, die totale Automobilmachung der Gesellschaft. Die gewinnt mythische Dimensionen.
Nicht von ungefähr lässt sich der Name eines anderen Autos in diesem Roman, eines Citroen DS, als „Déesse”, als „Göttin” lesen. Der lange, erzählerisch wie in Zeitlupe inszenierte Weg der tanzenden Vega bis zum finalen Crash erinnert eher an den Absturz eines Raumschiffs oder den einer verstoßenen Gottheit als an einen simplen Verkehrsunfall. Und er lässt an den Titel von Bonnés Debütroman „Ein langsamer Sturz” (2002) denken. Der Schwarm hingegen, den die schlingernde Vega hinter sich her zieht, erinnert nicht nur an Hitchcocks „Vögel”, sondern auch an die Vogelschwärme eines Stephen King, die dieser in „Stark” in antiker Manier als „Psychopompen”, als Seelengeleiter ins Jenseits verstanden wissen wollte.
Aufgeladen mit filmischen wie literarischen, mythischen wie phantastischen Assoziationen scheint dieses Bild nur eine Schwäche zu haben: Realistisch sind diese Massen von Dohlen und Krähen nicht, und „Wie wir verschwinden” ist kein phantastischer Roman. Aber ein großartiger und phantastisch konstruierter. Was zunächst als mythische Metamorphose erscheint, die scheinbare Auflösung eines tonnenschweren Autos in einen kreischenden Vogelschwarm, enthüllt sich endlich als eine andere und durchaus realistische Verwandlung.
Zumindest einer der hinteren Reifen ist von der Felge geplatzt, das Heck schleift über den Asphalt, der Wagen pflügt durch den Teer der Straße, tanzt einen schauerlichen neuen Totentanz: „Teerteile, Teerfetzen, von der Felge und der Achse aufgeschlitzt, rissen aus der Straße, hinter dem Wagen wirbelten sie auf und flatterten wie panisch das Weite suchende Vögel davon.” Auf diese Metamorphose folgt der fatale Aufprall. Und nichts ist anders außer mancherlei.
Hat man sich zuvor gewundert, woher dieser Roman, in dem auch sonst viel gestorben, gelitten und gestritten wird, die fast traumwandlerische Ruhe gewonnen hat, mit der er daherkommt, so liefert das Ende dieser zentralen Szene die Erklärung. Es ist die Ruhe nach dem Sturm, den man selbst erst einmal hinter sich haben muss, um sich den Subtilitäten dieser Geschichte vom täglichen Verschwinden ganz widmen zu können. ULRICH BARON
MIRKO BONNÉ: Wie wir verschwinden. Roman. Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2009. 339 S., 19,90 Euro.
Das Wrack des Automobils, in dem am 4. Januar 1960 der Literatur-Nobelpreisträger Albert Camus starb. Er hatte neben dem Fahrer des Facel Vega gesessen, seinem Freund Michel Gallimard, der fünf Tage nach dem Unfall im Krankenhaus starb. Gallimards Frau Janine und seine Tochter Anne blieben im Fond unverletzt. Links ein Modell des Facel Vega in einer Automobilausstellung. Foto: Getty images (oben), picture-alliance (links)
Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, lebt als Lyriker, Romancier und Übersetzer in Hamburg. Sein letzter Roman „Der eiskalte Himmel” (2006) handelte von Ernest Shackletons Antarktis- Expedition. Nun hat sich Bonné dem Frankreich der zwei Geschwindigkeiten zugewandt. Foto: B. Friedrich
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Die Beschleunigung Frankreichs: Mirko Bonnés Roman „Wie wir verschwinden”
Die Zuschauer können es nicht fassen, was da über die Landstraße der französischen Provinz auf sie zu rast: „Der reinste Panzer”, sagt einer der beiden Männer im Holzlaster, „nur dass der da mit 130 Sachen durch die Gegend brettert.” Und dass er sich einer anderen Fahrerin bedrohlich nähert: „Sie sah den grünen Wagen tanzen, hin und her über die gesamte Breite der Landstraße.”
In seinem Schlepp scheint er einen Schwarm großer Vögel zu haben: „Wild kreischende Krähen oder Dohlen wurden hinter dem Wagen emporgewirbelt und davonkatapultiert.” Es scheint so, „als würden die Vögel erst durch das Auto entstehen oder als würde das Auto vor ihren Augen sich auflösen und Stück für Stück Vogel werden”. Dabei hatte dieses Buch so ruhig begonnen, hatte so ruhig beginnen müssen, weil der Ich-Erzähler jede Anstrengung vermeiden musste.
Es war Sommer, als er den ersten Brief von seinem Jugendfreund Maurice Ravoux erhielt. Nach einer schweren Herzerkrankung aus der Klinik – noch sehr geschwächt – in einen kommoden, aber einsamen Ruhestand entlassen, war der verwitwete Unternehmer Raymond in sein Haus in der Nähe von Versailles zurückgekehrt. Seine Nachbarin ist fürsorglich und mehr als das. Für einige Abwechslung sorgen auch seine beide Töchter, die als Gäste das halb verwaiste Elternhaus mit ihren Beziehungsdramen beleben.
Das Tempo der Draisine
Diese Konstellation hat der 1965 in Tegernsee geborene Mirko Bonné so leichthändig und elegant entwickelt, dass man sich in einen französischen Film versetzt fühlt, dessen Darsteller vor einer exquisiten Gartenkulisse gelassen darauf warten, dass ihr Regisseur endlich durchblicken lässt, worum es nun eigentlich geht.
Es geht um nichts als das Leben, also auch um Tod und Verlust. Um eine alte Geschichte, um eine Freundschaft, um deren Verrat und um Untreue, um Gewissheiten, die in der Jugend schon einmal verlorengingen, und nun im Alter erneut verlorenzugehen drohen.
Man erfährt davon aus jenem Brief und aus dessen Fortsetzungen, die Raymond aber nur sehr zögernd zu lesen bereit ist. So könnte man fürchten, was mit einem lichten Jahrhundertsommertag begonnen hatte, würde sich am langen Ende als quälende Enthüllung alter Narben dahinschleppen.
Doch weit gefehlt. Bonné hat die Vorgeschichte der beiden Männer, deren Jugendfreundschaft zerbrochen war, als sie ihren größten Triumph hatten feiern wollen, mit einem zweiten Erzählstrang verknüpft. Der wird von jenem tonnenschweren Sportcoupé „mit 130 Sachen” über die Landstraße nahe dem Dorf Villeblevin gezogen. Am 4. Januar 1960 ist der Name des Dorfs in die Literaturgeschichte eingegangen, als Albert Camus dort bei einem Autounfall ums Leben kam. Bonnés Roman gibt ihm noch einmal ein paar letzte Minuten Lebenszeit.
Der Wagen ist ein Facel Vega, eine jener raren Chimären der 1950er und 1960er Jahre, unter deren europäischen Motorhauben riesige amerikanische V8-Motoren 260 und zuletzt mehr als 300 PS mobilisierten. Am Steuer sitzt Michel Gallimard, ein Neffe von Camus’ Verleger, im Fond sitzen seine Frau und Tochter, und neben ihm sitzt der Literaturnobelpreisträger selbst, der eigentlich die Bahn hätte nehmen wollen.
Während die jugendlichen Romanhelden gerade mit ihrer „Maschine des großen Verschwindens”, einer seit Monaten heimlich restaurierten Draisine, in die Welt aufbrechen wollen, rasen der Literaturnobelpreisträger und Gallimard in den Tod. Bonné schafft hier eine Kollisionsstelle zwischen (literatur-)historischer Realität und literarischer Fiktion, die zu den eindrucksvollsten Szenen zählt, die die deutsche Literatur der letzten Jahre hervorgebracht hat. Wenn sich beide Erzählstränge, wenn sich Facel und Draisine einander nähern, ohne dass deren Fahrer davon wissen, wird ein Frankreich der zwei Geschwindigkeiten heraufbeschworen, wie es um 1960 auch in den Filmen von Jacques Tati eingefangen wurde.
Gallimards Facel Vega, im Französischen weiblichen Geschlechts, war Vorbotin jener Blechlawine, die sich 1967 nicht nur in Godards Film „Week-end” über die Straßen Frankreichs wälzen sollte. Hier ist ein Epochenwechsel in ein Bild gesetzt worden, die totale Automobilmachung der Gesellschaft. Die gewinnt mythische Dimensionen.
Nicht von ungefähr lässt sich der Name eines anderen Autos in diesem Roman, eines Citroen DS, als „Déesse”, als „Göttin” lesen. Der lange, erzählerisch wie in Zeitlupe inszenierte Weg der tanzenden Vega bis zum finalen Crash erinnert eher an den Absturz eines Raumschiffs oder den einer verstoßenen Gottheit als an einen simplen Verkehrsunfall. Und er lässt an den Titel von Bonnés Debütroman „Ein langsamer Sturz” (2002) denken. Der Schwarm hingegen, den die schlingernde Vega hinter sich her zieht, erinnert nicht nur an Hitchcocks „Vögel”, sondern auch an die Vogelschwärme eines Stephen King, die dieser in „Stark” in antiker Manier als „Psychopompen”, als Seelengeleiter ins Jenseits verstanden wissen wollte.
Aufgeladen mit filmischen wie literarischen, mythischen wie phantastischen Assoziationen scheint dieses Bild nur eine Schwäche zu haben: Realistisch sind diese Massen von Dohlen und Krähen nicht, und „Wie wir verschwinden” ist kein phantastischer Roman. Aber ein großartiger und phantastisch konstruierter. Was zunächst als mythische Metamorphose erscheint, die scheinbare Auflösung eines tonnenschweren Autos in einen kreischenden Vogelschwarm, enthüllt sich endlich als eine andere und durchaus realistische Verwandlung.
Zumindest einer der hinteren Reifen ist von der Felge geplatzt, das Heck schleift über den Asphalt, der Wagen pflügt durch den Teer der Straße, tanzt einen schauerlichen neuen Totentanz: „Teerteile, Teerfetzen, von der Felge und der Achse aufgeschlitzt, rissen aus der Straße, hinter dem Wagen wirbelten sie auf und flatterten wie panisch das Weite suchende Vögel davon.” Auf diese Metamorphose folgt der fatale Aufprall. Und nichts ist anders außer mancherlei.
Hat man sich zuvor gewundert, woher dieser Roman, in dem auch sonst viel gestorben, gelitten und gestritten wird, die fast traumwandlerische Ruhe gewonnen hat, mit der er daherkommt, so liefert das Ende dieser zentralen Szene die Erklärung. Es ist die Ruhe nach dem Sturm, den man selbst erst einmal hinter sich haben muss, um sich den Subtilitäten dieser Geschichte vom täglichen Verschwinden ganz widmen zu können. ULRICH BARON
MIRKO BONNÉ: Wie wir verschwinden. Roman. Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2009. 339 S., 19,90 Euro.
Das Wrack des Automobils, in dem am 4. Januar 1960 der Literatur-Nobelpreisträger Albert Camus starb. Er hatte neben dem Fahrer des Facel Vega gesessen, seinem Freund Michel Gallimard, der fünf Tage nach dem Unfall im Krankenhaus starb. Gallimards Frau Janine und seine Tochter Anne blieben im Fond unverletzt. Links ein Modell des Facel Vega in einer Automobilausstellung. Foto: Getty images (oben), picture-alliance (links)
Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, lebt als Lyriker, Romancier und Übersetzer in Hamburg. Sein letzter Roman „Der eiskalte Himmel” (2006) handelte von Ernest Shackletons Antarktis- Expedition. Nun hat sich Bonné dem Frankreich der zwei Geschwindigkeiten zugewandt. Foto: B. Friedrich
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2009Die Maschine des großen Verschwindens
Der wohl französischste Autor der jüngeren deutschen Literatur: Mirko Bonné heftet sich an die Stoßstange von Albert Camus und erzählt in seinem neuen Roman von zwei Unfällen in der französischen Provinz.
Wie heiter die Fahrt in halsbrecherischem Tempo", schreibt Albert Camus in einem Gedicht, das Mirko Bonné (selber einst leidenschaftlicher Alfa-Romeo-Fahrer) seinem neuen Roman voranstellt. "Wahrheit lügt, Offenheit verhehlt. Verbirg dich im Licht." Das Absurde kann "jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen", vor allem, wenn er im Winter mit halsbrecherischen 135 Stundenkilometern auf der Landstraße unterwegs ist. Am 4. Januar 1960, mitten im heiteren Gespräch, starb Camus bei Villeblin südöstlich von Paris, als der Facel Vega - eine imposante Fehlkonstruktion mit 260 PS und berüchtigten "Selbstmördertüren" - von Michel Gallimard, dem Neffen und Kronprinzen seines Verlegers, bei überhöhter Geschwindigkeit von der Route Nationale 6 abkam. Camus hat den Verkehrsunfall einmal den absurdesten aller Tode genannt. Der Autor von "Der glückliche Tod" war sofort tot; Gallimard starb wenige Tage später, seine Frau und seine Tochter überlebten.
Am selben Tag geschah in Villeblin noch ein anderer Unfall, der Bonnés Erzähler alles raubte, woran er geglaubt hatte: seine große Liebe, seinen besten Freund, die Hoffnung auf eine bessere Welt anderswo. Zusammen mit Maurice hatte Raymond eine Draisine zur "Großen Maschine des Verschwindens" umgebaut, auf der sie aus ihrem Provinzkaff fliehen wollten; aber als es dann so weit war, ließen Maurice und Delphine ihn im Stich. Der pubertäre Traum vom großen Verschwinden endete an einer Weiche, die sich nicht umlegen ließ: Raymonds Jugend ging an diesem verhängnisvollen Tag zu Ende, und mit seiner Unschuld zerbrach auch das Vertrauen in die Menschen.
Vier Jahrzehnte später bittet Maurice, inzwischen Schriftsteller im letzten Stadium einer unheilbaren Lateralsklerose, in Briefen um Verzeihung, aber Raymond, nach einer schweren Herzerkrankung frühpensioniert und seit dem Tod seiner Frau vollends apathisch und depressiv, weist das Ansinnen mit der Kälte des gelernten Wissenschaftlers ab. "Wen kümmert schon die Seelenpein eines anderen. Eine Fehlfunktion von Gehirn und Neurotransmittern. Wen kümmert die meine? Einen, so schien es, der im Sterben lag, den ich seit 38 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Aber hatte mich deshalb auch gleich seine Seelenfehlfunktion zu kümmern?"
Camus, ihr gemeinsames Idol (der von seinem Kampfgefährten Sartre auf ähnlich schmerzhafte Weise entzweit wurde), forderte menschliche Solidarität im Angesicht des Todes, Überwindung der Tragik durch Pflichterfüllung, die Revolte eines "höhnischen Trotzdem". Aber die Briefe nähren in Raymond den schrecklichen Verdacht, dass Maurice ihm auch Veronique, Stütze und Trost seines zweiten Lebens, gestohlen haben könnte, und diese Kränkung wiegt noch schwerer als der erste Verrat.
Das bisschen Lebensfreude, das ihm noch geblieben ist, wird von den Sorgen um seine Töchter aufgezehrt. Jeanne hat gerade ihre Ehe mit André für eine Affäre mit einem dahergelaufenen Schläger weggeworfen. Raymond gerät zwischen die Fronten des Ehekriegs; Pénélope, seine jüngere Tochter, ist zu weit weg und zu ungestüm, um ihrem hilflosen Vater beistehen zu können. So fühlt sich der lebensmüde Rentner "fehl am Platz in der Ordnung der Dinge", im freien Fall zum Tod: Kein Bote aus der Vergangenheit, keine zur Versöhnung ausgestreckte Hand sollen ihn aus Isolation und Verbitterung aufstören dürfen.
Bonné gelingt es immer wieder, die "vergrübelte Düsternis" in Raymonds "Kummermuseum" durch lebenskluge Gedanken und Geschichten aus dem Mikrokosmos der französischen Provinz aufzuhellen. Beiläufig und bedächtig verschränkt er das große Verschwinden Camus' mit den kleinen Fluchten seiner jugendlichen Schüler und führt die beiden unsterblich verfeindeten Jugendfreunde auf Umwegen und Nebenstraßen schließlich ohne falsche Sentimentalität wieder zusammen. Am Ende kommt die Maschine des Verschwindens, die so lange auf dem toten Gleis stand, noch einmal in Fahrt. Die in Superzeitlupe gedehnte Erzählung von Camus' letzten Sekunden, die Maurice seinen Briefen beilegt, lösen Hemmschuhe und Bremsklötze in Raymond; seine neue Freundin Robertine setzt ihn behutsam aufs richtige Gleis. Widerstrebend und misstrauisch, beginnt er seinen alten Groll zu überwinden.
Als er ihm in Auvers-sur-Oise (wo auch van Gogh begraben liegt) schließlich gegenübertritt, kann Maurice nicht einmal mehr sprechen: Das Zucken der Lidmuskeln ist das Morsealphabet des gelähmten Autors, das nur noch ein Liebender nachbuchstabieren kann. Delphines Sohn liest seinem Stiefvater mit einer Wunderbrille von den Augen ab, was noch zu sagen ist. Es ist nicht mehr viel, aber genug, um, ganz im Sinne Camus', das Kriegsbeil zu begraben: Das Leben mag sinnlos sein, aber man darf es nicht wegwerfen. Die Leere hält niemand alleine aus; man tut gut daran, "seine stärkste Wache am Tor zum Nichts aufzustellen" und auf den Beistand von Freunden nicht zu verzichten. So gelingt das Wiedersehen, das sich Raymond nur als Zusammenstoß zweier Züge vorstellen konnte, wider Erwarten doch: als erinnernde, verzeihende Vergegenwärtigung geteilten Leids und gemeinsam erfahrener Absurdität. "Der Tod setzt allem eine Grenze, nicht aber dem Erzählen."
Mirko Bonnés Gedichte und Romane sind schon viel gelobt worden, aber er wird immer noch nicht gebührend geschätzt. In "Wie wir verschwinden" erzählt er so ruhig und gelassen von der Kunst des Lebens und Sterbens, vom Umgang mit Trauer und Schuld, dass das ernste Thema alles tragische Pathos verliert. Sein Roman ist nicht frei von Längen und altersweiser Behäbigkeit, aber auch voll französischer Leichtigkeit und Esprit. Der melancholische Zauber der Provinz im Dreieck zwischen Villeblin, Versailles und Auvers erinnert an Françoise Sagans "Bonjour Tristesse", die prekäre Dreiecksbeziehung an Truffaut-Filme, das Plaudern in lauen Sommernächten an Eric Rohmer. Raymond, der schwermütige stille Brüter, ist eine durchaus deutsche Figur. Aber wie die beiden Jungexistentialisten durch den Tod ihres Idols getrennt und wieder zusammengeführt werden, auf der Suche nach der verlorenen Zeit traurige Chansons im Autoradio hören und geistreich-elegant Aristoteles, Lully, Nabokov, Einstein und andere Bildungshelden beschwören: Das macht Bonné zum wohl französischsten Autor in der neueren deutschen Literatur.
Raymond hat den "Mythos des Sisyphos" nie gelesen, aber am Ende muss man sich ihn als glücklichen Menschen vorstellen. Der leidgeprüfte, mit seinem Schicksal hadernde Frührentner hat den Stein, unter dem seine Jugendträume begraben liegen, so beharrlich um und um gewendet, bis er zuletzt doch noch ins Rollen kam. Leben war für Camus Bewegung, Neugier, Offenheit und reine kinetische Energie, Tod dagegen Stillstand und Unbeweglichkeit. Im selben Maße, wie Maurice bewegungslos verdämmert, kehrt sein verlorener Zwillingsbruder bewegt aus der Totenstarre der Resignation ins Leben zurück. Das Unglück des einen ist das Glück des anderen; aber spätestens im Tod werden die getrennten Hälften eines absurden Schicksals wieder eins.
MARTIN HALTER
Mirko Bonné: "Wie wir verschwinden". Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2009. 339 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der wohl französischste Autor der jüngeren deutschen Literatur: Mirko Bonné heftet sich an die Stoßstange von Albert Camus und erzählt in seinem neuen Roman von zwei Unfällen in der französischen Provinz.
Wie heiter die Fahrt in halsbrecherischem Tempo", schreibt Albert Camus in einem Gedicht, das Mirko Bonné (selber einst leidenschaftlicher Alfa-Romeo-Fahrer) seinem neuen Roman voranstellt. "Wahrheit lügt, Offenheit verhehlt. Verbirg dich im Licht." Das Absurde kann "jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen", vor allem, wenn er im Winter mit halsbrecherischen 135 Stundenkilometern auf der Landstraße unterwegs ist. Am 4. Januar 1960, mitten im heiteren Gespräch, starb Camus bei Villeblin südöstlich von Paris, als der Facel Vega - eine imposante Fehlkonstruktion mit 260 PS und berüchtigten "Selbstmördertüren" - von Michel Gallimard, dem Neffen und Kronprinzen seines Verlegers, bei überhöhter Geschwindigkeit von der Route Nationale 6 abkam. Camus hat den Verkehrsunfall einmal den absurdesten aller Tode genannt. Der Autor von "Der glückliche Tod" war sofort tot; Gallimard starb wenige Tage später, seine Frau und seine Tochter überlebten.
Am selben Tag geschah in Villeblin noch ein anderer Unfall, der Bonnés Erzähler alles raubte, woran er geglaubt hatte: seine große Liebe, seinen besten Freund, die Hoffnung auf eine bessere Welt anderswo. Zusammen mit Maurice hatte Raymond eine Draisine zur "Großen Maschine des Verschwindens" umgebaut, auf der sie aus ihrem Provinzkaff fliehen wollten; aber als es dann so weit war, ließen Maurice und Delphine ihn im Stich. Der pubertäre Traum vom großen Verschwinden endete an einer Weiche, die sich nicht umlegen ließ: Raymonds Jugend ging an diesem verhängnisvollen Tag zu Ende, und mit seiner Unschuld zerbrach auch das Vertrauen in die Menschen.
Vier Jahrzehnte später bittet Maurice, inzwischen Schriftsteller im letzten Stadium einer unheilbaren Lateralsklerose, in Briefen um Verzeihung, aber Raymond, nach einer schweren Herzerkrankung frühpensioniert und seit dem Tod seiner Frau vollends apathisch und depressiv, weist das Ansinnen mit der Kälte des gelernten Wissenschaftlers ab. "Wen kümmert schon die Seelenpein eines anderen. Eine Fehlfunktion von Gehirn und Neurotransmittern. Wen kümmert die meine? Einen, so schien es, der im Sterben lag, den ich seit 38 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Aber hatte mich deshalb auch gleich seine Seelenfehlfunktion zu kümmern?"
Camus, ihr gemeinsames Idol (der von seinem Kampfgefährten Sartre auf ähnlich schmerzhafte Weise entzweit wurde), forderte menschliche Solidarität im Angesicht des Todes, Überwindung der Tragik durch Pflichterfüllung, die Revolte eines "höhnischen Trotzdem". Aber die Briefe nähren in Raymond den schrecklichen Verdacht, dass Maurice ihm auch Veronique, Stütze und Trost seines zweiten Lebens, gestohlen haben könnte, und diese Kränkung wiegt noch schwerer als der erste Verrat.
Das bisschen Lebensfreude, das ihm noch geblieben ist, wird von den Sorgen um seine Töchter aufgezehrt. Jeanne hat gerade ihre Ehe mit André für eine Affäre mit einem dahergelaufenen Schläger weggeworfen. Raymond gerät zwischen die Fronten des Ehekriegs; Pénélope, seine jüngere Tochter, ist zu weit weg und zu ungestüm, um ihrem hilflosen Vater beistehen zu können. So fühlt sich der lebensmüde Rentner "fehl am Platz in der Ordnung der Dinge", im freien Fall zum Tod: Kein Bote aus der Vergangenheit, keine zur Versöhnung ausgestreckte Hand sollen ihn aus Isolation und Verbitterung aufstören dürfen.
Bonné gelingt es immer wieder, die "vergrübelte Düsternis" in Raymonds "Kummermuseum" durch lebenskluge Gedanken und Geschichten aus dem Mikrokosmos der französischen Provinz aufzuhellen. Beiläufig und bedächtig verschränkt er das große Verschwinden Camus' mit den kleinen Fluchten seiner jugendlichen Schüler und führt die beiden unsterblich verfeindeten Jugendfreunde auf Umwegen und Nebenstraßen schließlich ohne falsche Sentimentalität wieder zusammen. Am Ende kommt die Maschine des Verschwindens, die so lange auf dem toten Gleis stand, noch einmal in Fahrt. Die in Superzeitlupe gedehnte Erzählung von Camus' letzten Sekunden, die Maurice seinen Briefen beilegt, lösen Hemmschuhe und Bremsklötze in Raymond; seine neue Freundin Robertine setzt ihn behutsam aufs richtige Gleis. Widerstrebend und misstrauisch, beginnt er seinen alten Groll zu überwinden.
Als er ihm in Auvers-sur-Oise (wo auch van Gogh begraben liegt) schließlich gegenübertritt, kann Maurice nicht einmal mehr sprechen: Das Zucken der Lidmuskeln ist das Morsealphabet des gelähmten Autors, das nur noch ein Liebender nachbuchstabieren kann. Delphines Sohn liest seinem Stiefvater mit einer Wunderbrille von den Augen ab, was noch zu sagen ist. Es ist nicht mehr viel, aber genug, um, ganz im Sinne Camus', das Kriegsbeil zu begraben: Das Leben mag sinnlos sein, aber man darf es nicht wegwerfen. Die Leere hält niemand alleine aus; man tut gut daran, "seine stärkste Wache am Tor zum Nichts aufzustellen" und auf den Beistand von Freunden nicht zu verzichten. So gelingt das Wiedersehen, das sich Raymond nur als Zusammenstoß zweier Züge vorstellen konnte, wider Erwarten doch: als erinnernde, verzeihende Vergegenwärtigung geteilten Leids und gemeinsam erfahrener Absurdität. "Der Tod setzt allem eine Grenze, nicht aber dem Erzählen."
Mirko Bonnés Gedichte und Romane sind schon viel gelobt worden, aber er wird immer noch nicht gebührend geschätzt. In "Wie wir verschwinden" erzählt er so ruhig und gelassen von der Kunst des Lebens und Sterbens, vom Umgang mit Trauer und Schuld, dass das ernste Thema alles tragische Pathos verliert. Sein Roman ist nicht frei von Längen und altersweiser Behäbigkeit, aber auch voll französischer Leichtigkeit und Esprit. Der melancholische Zauber der Provinz im Dreieck zwischen Villeblin, Versailles und Auvers erinnert an Françoise Sagans "Bonjour Tristesse", die prekäre Dreiecksbeziehung an Truffaut-Filme, das Plaudern in lauen Sommernächten an Eric Rohmer. Raymond, der schwermütige stille Brüter, ist eine durchaus deutsche Figur. Aber wie die beiden Jungexistentialisten durch den Tod ihres Idols getrennt und wieder zusammengeführt werden, auf der Suche nach der verlorenen Zeit traurige Chansons im Autoradio hören und geistreich-elegant Aristoteles, Lully, Nabokov, Einstein und andere Bildungshelden beschwören: Das macht Bonné zum wohl französischsten Autor in der neueren deutschen Literatur.
Raymond hat den "Mythos des Sisyphos" nie gelesen, aber am Ende muss man sich ihn als glücklichen Menschen vorstellen. Der leidgeprüfte, mit seinem Schicksal hadernde Frührentner hat den Stein, unter dem seine Jugendträume begraben liegen, so beharrlich um und um gewendet, bis er zuletzt doch noch ins Rollen kam. Leben war für Camus Bewegung, Neugier, Offenheit und reine kinetische Energie, Tod dagegen Stillstand und Unbeweglichkeit. Im selben Maße, wie Maurice bewegungslos verdämmert, kehrt sein verlorener Zwillingsbruder bewegt aus der Totenstarre der Resignation ins Leben zurück. Das Unglück des einen ist das Glück des anderen; aber spätestens im Tod werden die getrennten Hälften eines absurden Schicksals wieder eins.
MARTIN HALTER
Mirko Bonné: "Wie wir verschwinden". Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2009. 339 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Erinnert Mirko Bonnes Roman "Wie wir verschwinden" zunächst an einen französischen Film, der an einem leichten Sommertag zögerlich seine Geschichte um Liebe, Verrat und Treuebruch entfaltet, so gewinnt er in seinem zweiten Erzählstrang eine Dynamik von mythischer Wucht, stellt Ulrich Baron fasziniert fest. Der 1965 in Tegernsee geborene Autor entrollt die Geschichte zweier Jugendfreunde, deren Freundschaft zerbricht, "als sie ihren größten Triumph feiern wollen": Er lässt die beiden in der französischen Provinz in einer selbst instandgesetzten Draisine auf eben jenen Sportwagen zusteuern, mit dem Albert Camus und der Neffe des Verlegers Gallimard tödlich verunglücken. Für den Rezensenten gehört dieser Verkehrsunfall von geradezu mythischer Dimension zu den beeindruckendsten Szenen der deutschen Literatur, wie ihn das Buch überhaupt als brillant konstruierter Roman begeistert. Dabei ist es insbesondere die Diskrepanz von geradezu somnambuler Ruhe und rasender Dynamik, die Baron an diesem Werk so beeindruckend findet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Bonné erzählt so ruhig und gelassen von der Kunst des Lebens und Sterbens, vom Umgang mit Trauer und Schuld, dass das ernste Thema alles tragische Pathos verliert.« Martin Halter / Frankfurter Allgemeine Zeitung»Bonné schafft eine Kollisionsstelle zwischen (literatur-)historischer Realität und literarischer Fiktion, die zu den eindruckvollsten Szenen zählt, die die deutsche Literatur der letzten Jahre hervorgebracht hat.« Ulrich Baron / Süddeutsche Zeitung