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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein Rationalitätsanker für alle Maniker und weniger bedrohliche Leute mit schwachen Nerven: Peter Bieris Buch über das Zusammenspiel von Selbstbestimmung und Selbsterkenntnis.
Was wäre selbstverständlicher als Selbstbestimmung? Autonomie in allen Lebensbereichen - das ist die kulturelle Leitvorstellung, an der niemand vorbeikommt, will er nicht als paternalistisch (Täter) oder fremdbestimmt (Opfer) gelten. Institutionen und Biographien gelten als gelungen in dem Umfang, in dem sie sich der Rede von der Selbstbestimmung geöffnet haben. "Er lebte und starb für die Katz' - aber selbstbestimmt": Wer sich das auf den Grabstein schreiben kann, war, so scheint es, nicht umsonst auf Erden.
Aber was genau ist eigentlich Selbstbestimmung? Der Philosoph Peter Bieri nähert sich in mehreren Anläufen dieser Grundvokabel der Aufklärung, die heute schlechterdings auch in der Autowerbung zu finden ist oder in den Prospekten von Krankenhäusern, Kantinen und Kirchen. Bieri tut das als jemand, der der Philosophie zutraut, durch Auslotung der Begriffe "zu einem umfassenden Verständnis der Welt und unserer Stellung in ihr" zu gelangen, statt, wie allzu oft in der Provinz der analytischen Philosophie, nur "begriffliche Turnübungen" zu absolvieren, "in denen man keine philosophische Motivation erkennen kann".
Bieri, der selbst früher Standardwerke der analytischen Philosophie herausgegeben hat, bleibt erkennbar ihrem Niveau an gedanklicher Transparenz und Klarheit verpflichtet, seit er vor ein paar Jahren seinen Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin gegen das Dasein als philosophischer Schriftsteller getauscht hat. Vor zehn Jahren erschien sein Bestseller "Das Handwerk der Freiheit", inzwischen steht er kurz vor Abschluss eines Buches über die Menschenwürde. Vorstudien dazu legt er in dem dieser Tage erscheinenden Band "Wie wollen wir leben?" vor, das drei Vorlesungen über den Zusammenhang von Selbstbestimmung und Selbsterkenntnis dokumentiert.
Bei diesem Unternehmen verschiebt sich der Akzent, den die Alltagssprache setzt. Nicht die Unabhängigkeit den anderen gegenüber ("Wir möchten nicht, dass uns jemand vorschreibt, was wir zu denken, zu sagen und zu tun haben") steht im Mittelpunkt, sondern die Fähigkeit, über sich selbst zu bestimmen, eine Fähigkeit, die angesichts der etlichen Bedingtheiten wie ein rhetorisches Manöver des Selbstbetrugs wirken könnte. "Doch so ist es nicht. Auch wenn meine Innenwelt aufs engste verflochten ist mit dem Rest der Welt, so gibt es doch einen gewaltigen Unterschied zwischen einem Leben, in dem jemand sich so um sein Denken, Fühlen und Wollen kümmert, dass er in einem emphatischen Sinne sein Autor und sein Subjekt ist, und einem anderen Leben, das der Person nur zustößt und von dessen Erleben sie wehrlos überwältigt wird, so dass statt von einem Subjekt nur von einem Schauplatz des Erlebens die Rede sein kann. Selbstbestimmung zu verstehen heißt, diesen Unterschied auf den Begriff zu bringen."
Man könnte den Band "Wie wollen wir leben?" also auch einen Versuch über den Möglichkeitssinn nennen, über die Frage, wie es gehen kann, sich im Meer der Optionen als ein Jemand zu bestimmen. Wobei Bieri hier die Alternative zwischen Essentialismus oder Konstruktivismus konzeptionell in der Schwebe lässt. Entscheidend sei, ein erkennbares Selbstbild auszuprägen, poetisch gesagt: eine innere Stimme zu entwickeln, die die Lebenszeit zur Zeit meines Lebens macht.
Wäre das dann die Stimme des eigentlichen Selbst? Lässt sich, so fragt Bieri, in einem absoluten Sinne unterscheiden zwischen dem, was ich eigentlich bin und dem, was ich zu sein scheine? Nach der ersten Deutung bestünde das Aufdecken einer Selbsttäuschung darin, die wahren Tatsachen freizulegen. Nach der zweiten handelte es sich darum, ein Stück in einer Geschichte, das nicht passt, durch eines zu ersetzen, das sich besser einfügt. Das Selbstbild ist kein Museumsstück. Als Maßstab des eigenen Denkens, Fühlens und Wollens ist es selbst im Fluss; es geht so lange zum Brunnen, bis es bricht. Aber auch ein solcher Bruch hätte sich vor der eigenen inneren Stimme zu rechtfertigen und vor sich selbst darzulegen, warum man meint, mit dem neu eingeschlagenen Pfad keiner Selbsttäuschung aufzusitzen, sondern eine neue Qualität des Beisichseins erfährt.
Kommt, noch einmal gefragt, man auf diese Weise zu seinem wahren Selbst oder nur zu einer stimmigeren autobiographischen Erzählung? Das sind die zwei grundsätzlich möglichen Arten, Identität zu kommentieren. An dieser wie an anderen Stellen, wo die Natur philosophischer Gewissheit berührt wird, nimmt Bieri zum Nutzen der Philosophie die Rolle des Literaten ein (als der er unter dem Pseudonym Pascal Mercier bekannt ist), der sich berechtigt weiß, auch biographische Evidenzerfahrungen in die philosophische Argumentation einzubeziehen. "Obwohl mich die Frage, welcher von beiden der richtige Kommentar ist, seit der Zeit meines Studiums beschäftigt, ist es mir nie gelungen, zu einer wirklich beständigen Meinung darüber zu gelangen. Es ist befreiend, John Dewey, Nelson Goodman und Richard Rorty dazu zu lesen - über sprachlich gemachte und erfundene Phänomene und Welten, über Erkennen als Tun, über den Starrsinn und Irrsinn einer realistischen Deutung von Wahrheit und Erkennen. All das ist befreiend und charmant, und oft schon habe auch ich es nachgesprochen. Doch dann denke ich an Erfahrungen, die ich selbst mache und die oft genug auch meine literarischen Figuren machen: dass man spürt, ganz genau spürt, wo das Gravitationszentrum der eigenen Emotionen liegt, und dass der natürliche, der einzig natürliche Kommentar dazu ist: Das ist die Wahrheit, so sind die inneren Tatsachen, und wie sie sind, hängt nicht an irgendeiner naseweisen Geschichte, die ich mir so oder auch anders zusammenreimen könnte. Was also ist richtig? Um die Wahrheit zu sagen: Ich weiß es bis heute nicht."
In digitalen Zeiten, in denen die erkenntniskritische Frage in den Vordergrund drängt, wie das Internet das Denken formt und möglicherweise verformt, legt sich Bieri die Frage so zurecht: "Was unterscheidet Einfluss, den wir als Manipulation empfinden, von Einfluss, der die Selbstbestimmung nicht bedroht, sondern fördert? Ich halte das für die tiefste und schwierigste politische Frage, die man aufwerfen kann." Damit verfolgt er eine Fährte, die weitaus mehr Ertrag verspricht als die gedankenlose politische Alternative "verbieten oder erlauben".
An Psychologiekritik lässt es Bieri in diesem Zusammenhang nicht fehlen. Die breit propagierten psychologischen Therapien der Achtsamkeit und Wahrnehmungsverbesserung greifen demnach zu kurz, stattdessen geht es im Blick auf "das tückische Gift der Manipulation" um begriffliche Differenzierung, also ums Kerngeschäft der Philosophie. Warum, etwas begriffsstutzig gefragt, ist Manipulation ein Übel? Weil es in ihrem Kalkül liegt, eine Beeinflussung zu schaffen, die keiner Kontrolle durch das Selbstbild zugänglich ist und uns in vielen Fällen vom Selbstbild entfernt und also innere Zerrissenheit forciert. "In solchen Fällen werden wir als selbständige Personen übergangen und sind gar nicht richtig anwesend. Das ist grausam, denn es bedeutet einen Verlust an Würde."
Bieri schreibt eine Philosophie, die nicht die Literatur der Lebenskunst bedient, wohl aber den Komplementäranspruch zur Psychotherapie nicht verhehlt. Es ist menschenwürdiger und weniger grausam, sagt der Philosoph, seine Selbsttäuschungen durch geduldige begriffliche Arbeit durchschauen zu wollen statt sie undurchschaut auszuagieren. Hier berührt Bieri das klinische Feld, das sich bei pathologischen Wirklichkeitsverzerrungen auftut, wie sie bei bipolaren Störungen, einer psychischen Haupterkrankung unserer Zeit, zu beobachten sind. Bieris neues kleines Buch ist ein Rationalitätsanker für alle Maniker und weniger bedrohliche Leute mit schwachen Nerven. Es bestärkt darin, der Vernunft zu vertrauen ohne der Illusion zu verfallen, Einsicht alleine reiche aus, um sein Leben zum Besseren hin zu ändern.
CHRISTIAN GEYER
Peter Bieri: "Wie wollen wir leben?"
Residenz Verlag, Salzburg 2011. 96 S., br., 16,90 [Euro].
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