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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Das neue Buch des Wachstumsskeptikers Tim Jackson
Seit der ökonomischen Klassik ist Wachstum ein zentrales Thema wirtschaftswissenschaftlichen Denkens. Adam Smith fürchtete einen wachstumslosen Zustand, John Stuart Mill wünschte ihn herbei. William Stanley Jevons thematisierte die Begrenztheit der britischen Kohlereserven, John Maynard Keynes prognostizierte ein Ende von Knappheit und Wachstum. "Die Grenzen des Wachstums" markierten 1972 eine Zuspitzung der Wachstumsdebatte, die von der Ökologischen Ökonomik aufgenommen und fortgeführt wurde.
In jüngster Zeit firmiert Kritik am Wachstum unter dem Label "Postwachstum". Vertreter dieser Denkrichtung weisen darauf hin, dass es so etwas wie "unwirtschaftliches Wirtschaftswachstum" (Herman E. Daly) geben kann. Der Brite Tim Jackson ist als Autor des Bestsellers "Wohlstand ohne Wachstum" und charismatischer Redner ein Star des Postwachstums-Diskurses. Die gerade erschienene deutsche Ausgabe seines Buches über "Post Growth" (so der Originaltitel) wird von der grünen Heinrich-Böll-Stiftung herausgegeben. Insoweit sollte man Jacksons Buch nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch lesen.
In dieser Hinsicht ist der Untertitel des Textes programmatisch: "Wege aus dem Wachstumswahn". Von regierungsamtlicher Realpolitik ist das Buch damit ebenso weit weg wie von laufenden Koalitionsgesprächen. Gleichwohl kann man den Text als Versuch lesen, auch den politischen Diskurs mit Provokation, Fantasie und gedanklicher Experimentierfreude voranzubringen. Ähnlich wie deutsche Postwachstumsdenker wie Meinhard Miegel und Niko Paech legt Jackson eine soziale, ökologische und ganz wesentlich kulturelle Wachstumskritik vor.
In zehn Kapiteln mit Titeln wie "Der Mythos vom Wachstum", "Von Liebe und Entropie" und "Arbeit und Menschsein" geht Jackson grundlegenden gesellschaftlichen und ökonomischen Fragen nach. Er argumentiert mit guten Gründen, dass effizienzbasiertes "grünes Wachstum" eine heikle Strategie ist und dass der Beitrag des Wachstums zur Lebensqualität in reichen Ländern durchaus begrenzt erscheint. Postwachstum ist vor diesem Hintergrund ein Oberbegriff für die Suche nach einer anderen, einer besseren Wirtschaft. Zu diesen Themen finden sich interessante Passagen, die man mit Interesse und Gewinn lesen kann.
Erstaunlich ist ob des umfassenden Ansatzes freilich, dass die Digitalisierung hier nur sehr kurz erwähnt wird. Das Lesevergnügen wird außerdem dadurch getrübt, dass ständig von "wir" die Rede ist (das Wort kommt über fünfhundertmal vor) und man sich fragt, wer da eigentlich genau gemeint ist. Offenbar predigt Jackson vor allem zu den Postwachstums-Gläubigen - und bemüht sich sehr wenig um Anschlussfähigkeit und Überzeugungsarbeit. Jackson geht weit über eine an der Nachhaltigkeit orientierte Wachstumskritik hinaus und liefert im Grunde eine fundamentale Kapitalismuskritik, die nahezu alles Schlechte auf die Wirtschaftsordnung zurückführt.
Dabei spießt er zwar real existierende Probleme der vorherrschenden Wirtschaftsweise auf, vermag aber nicht darzulegen, wie die geforderte Kulturrevolution und der systemische Totalumbau mit einer freiheitlich-demokratischen Ordnung in Einklang zu bringen ist. Diese Kompatibilität erscheint zumindest zweifelhaft, wenn Jackson die Bremswirkung der Corona-Krise lobt und er sich über die Lenkung menschlicher Sehnsüchte und die "politische Steuerung in einer Postwachstums-Welt" Gedanken macht.
Ein Buch, das die Ökonomie als "Erzählkunst" bezeichnet und auf dessen Buchdeckel von "Poesie" die Rede ist, muss sich auch an sprachlichen Kriterien messen lassen - und auch hier macht sich Ernüchterung breit. Die reichlich pompöse Rhetorik der Originalausgabe gewinnt durch die etwas holprige Übersetzung leider nicht an Lesbarkeit, wie folgende Passage verdeutlichen mag: "Das gefährliche Phänomen, dass wir auf den Daseinskampf mit ausbeuterischem Machteifer reagieren, kann es sich nicht erlauben, in aller Offenheit ausgetragen zu werden. Um seine Schattenseite zu verschleiern, geben ausgeklügelte Spiegelungen vor, dass der Schaden, den dieser expansive Eifer verursacht, unwichtig sei, geringfügig oder, wenn überhaupt, ganz woanders stattfindet. Nicht unser Problem."
Insgesamt ist das Buch eine vertane Chance: Denn der Diskurs über Wirtschafts-, Finanz- und Nachhaltigkeitspolitik braucht auch Ideen, die jenseits der herrschenden wirtschaftswissenschaftlichen Lehre liegen. Überlegungen zum Postwachstum könnten ein wichtiger Beitrag zu einer pluralistischen Ökonomik sein. Auch hat Jackson einen guten Punkt mit der Diagnose, dass dauernde Expansion in einer endlichen Welt wohl kein nachhaltiges Fortschrittsmodell sein kann. Aber es gelingt ihm nicht, die von ihm so vehement geforderte Alternative auch nur halbwegs plausibel zu machen. Es wird zwar deutlich, dass die Postwachstums-Wirtschaft von "Flow-Erlebnissen", buddhistischer Philosophie und den Postulaten der umstrittenen "Modern Monetary Theory" geprägt sein soll. Die politische Praktikabilität dieser Fantasien bleibt am Ende freilich ebenso nebulös wie ihr wissenschaftlicher Mehrwert. FRED LUKS
Tim Jackson: Wie wollen wir leben? Wege aus dem Wachstumswahn. Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung. oekom Verlag, München 2021, 304 Seiten, 22 Euro.
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