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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Egon Schwarz über das Los jüdischer Intellektueller im Wiener Fin de Siècle
Nach den barbarischen Schrecken der Weltkriege wurde das Wiener Fin de Siècle zur unwiederbringlichen belle époque der europäischen Kultur und Lebensart verklärt. In keiner anderen Stadt aber traten die das zwanzigste Jahrhundert prägenden Konflikte so scharf und so früh hervor wie in Wien. In diesem Spannungsfeld von Ost und West, von Nationalismus und Multikulturalismus entwickelte sich eine beispiellose deutsch-jüdische Kultursymbiose zugleich mit einem unter dem berüchtigten Bürgermeister Karl Lueger rapide wachsenden Antisemitismus, an dem auch die antijüdische Propaganda der katholischen Kirche Anteil hatte. Hier entstand nicht zufällig der Zionismus eines Theodor Herzl wie der angebliche jüdische Selbsthass eines Otto Weininger.
Dass der Antisemitismus kaffehausfähig wurde, lag zweifellos auch daran, dass die intellektuelle und künstlerische Kultur Wiens zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts von Juden dominiert wurde. Peter Altenberg, Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann, Stefan Zweig, Felix Salten, Karl Kraus, Theodor Herzl, Hermann Broch, Sigmund Freud, Edmund Husserl, Arnold Schönberg, Gustav Mahler, Max Reinhardt und viele andere mehr wurden vom Wiener Adel wie vom Groß- und Bildungsbürgertum hofiert und bewundert, zugleich aber beneidet und befeindet. Auf der anderen Seite wurde der anwachsende Zuzug ostjüdischer Händler und Handwerker vom Wiener Kleinbürgertum als Bedrohung empfunden. Theodor Herzls Vision eines Judenstaates entstand jedenfalls aus dem über alle Schichten verbreiteten Gefühl, als Jude in Wien unerwünscht oder nur halbherzig geduldet zu sein.
Der 1922 in Wien geborene Literaturwissenschaftler Egon Schwarz hat mit dem Buch "Unfreiwillige Wanderjahre" (2005 mit einem bewegenden Nachwort von Uwe Timm zuerst erschienen) einen Bericht über seine Flucht vor Hitler vorgelegt, für die es 1938 beinahe schon zu spät war. Jetzt erscheint eine Sammlung seiner Essays zu jüdisch-österreichischen Schriftstellern. Die Texte sind nicht nur brillant geschrieben, sondern berühren auch durch die persönliche Anteilnahme des Autors. Schwarz kann in seiner eigenen Liebe zu Wien nachfühlen, dass die Emigration, zumal in einen Judenstaat, für die meisten der Genannten keine Alternative darstellte. Sie waren Wiener mit Leib und Seele. Sigmund Freud zögerte ebenfalls gefährlich lange. Erst als seine Tochter Anna 1938 von der Gestapo verhört wurde, entschloss er sich, Wien zu verlassen.
Auch Arthur Schnitzler war als Person und Autor durch und durch Wiener, und doch hat er die bedenklichen Tendenzen so früh und so genau registriert wie kein anderer. "Schon 1883 erkennt er, daß eine ,soziale Bewegung ringsum überall aus dem Keime des Antisemitismus, dieser Spottgeburt aus Neid und Gemeinheit sich mählig entwickelt'." Zeit seines Lebens notierte Schnitzler die antijüdischen Phänomene bis hin zu dem, was er von Kindern auf der Straße hört (was gelegentlich auf bestürzende Weise dem ähnelt, was kürzlich auf antiisraelischen Demonstrationen skandiert wurde). Penibel auch hielt er fest, was über ihn selbst und seine Werke im Umlauf ist, so die als "charakteristisch" bezeichnete Meinung über seine meisterliche Erzählung "Leutnant Gustl", ein Jude solle keinen österreichischen Leutnant schildern.
Andererseits aber kritisierte Schnitzler auf jüdischer Seite "Renegatentum, Kriecherei und Snobismus" und mangelnden Respekt der Juden voreinander, wie er ihn auch bei dem Satiriker Karl Kraus als Flucht vor dem Judentum gegeben sah. Schnitzlers beste Werke, das Drama "Professor Bernhardi" und der Roman "Der Weg ins Freie", sind nicht denkbar ohne seine - so Schwarz - "Beobachtungen der vielfältigen und oft kontradiktorischen Reaktionen der Juden auf die psychische und soziale Komplexität ihrer Situation". Mit stetig zunehmenden Anfeindungen begann auch Schnitzler, sich in seinem Wien als ein Fremder zu fühlen. An Emigration aber hat er keinen Augenblick gedacht. "Er starb rechtzeitig. Nur wenige Jahre später wäre er ohne Rücksicht auf Alter und Heimatrecht von denen, die er erkannt hatte, ins Exil oder in die Gaskammer getrieben worden."
Schnitzlers Aufzeichnungen spiegeln das Selbstverständnis jüdischer Schriftsteller im Fin de Siècle sehr umfassend und differenziert wider, die luziden Essays von Egon Schwarz zu Joseph Roth, Franz Werfel oder Karl Emil Franzos zeigen aber, dass ihre Reaktionen auf die Lage so unterschiedlich waren, dass sich Zweifel an einer Gemeinsamkeit des Schicksals einstellen oder gar Ungewissheit, was denn ein jüdischer Schriftsteller eigentlich sei. So neigt Schwarz schließlich Wolf Biermanns Aussage zu: "Ich weiß nicht, was ein Jude ist."
Der ohnehin sehr lesenswerte Band ist in der derzeitigen Situation zusätzlich lehrreich. Er zeigt sachlich und ohne erhobenen Zeigefinger, wie schnell in einer scheinbar komfortablen gesellschaftlichen Situation schwelende Konflikte in den Irrsinn des Antisemitismus umschlagen können.
FRIEDMAR APEL
Egon Schwarz: "Wien und die Juden". Essays zum
Fin de Siècle.
Verlag C. H. Beck, München 2014. 173 S., geb., 22,95 [Euro].
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