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Die Selbstverständlichkeit, mit der man inzwischen auf Wikipedia zugreift, mag darüber hinwegtäuschen, dass das Modell eines unbezahlten Mitmachlexikons eigentlich ein unwahrscheinliches öffentliches Gut ist: Wie lässt sich der Impuls zur selbstausbeuterischen Lexikonarbeit erklären, wenn die Autoren nicht nur auf Entlohnung verzichten, sondern auch Reputationsgewinne bescheiden ausfallen, weil die Arbeit meist im Anonymen abläuft? Es scheint nahezuliegen, im hochtourigen Fortlaufen der Enzyklopädie ein Lehrstück für den Anwendungserfolg der oft genannten Prinzipien wie Graswurzeldemokratie und Schwarmintelligenz zu sehen.
Wikipedia ist im Sog der libertären Utopien aus der Frühzeit des Internets groß geworden. Seit Beginn verteilt sich die Motivation für die Mitarbeit auf mehrere Pfeiler: Neben der reinen Freude am Tun treibt das Projekt eine bürgerliche Leistungs- und Bildungsethik an, die sich um enzyklopädisches Wissen und selbständige Weltorientierung bemüht. Den ideellen Treibstoff liefert eine emanzipative, antikommerzielle Gesellschaftsutopie, die mit dem Internet den freien Zugang zum Wissen und damit den Weg in eine friedlichere, demokratischere Welt bahnen will. Dass sich an diesen Prinzipien auch die interne Organisation des Lexikons orientiert, erscheint logisch. Wer den Kampf gegen Expertokratie und institutionelle Machtstrukturen auf seine Fahne schreibt, sollte selbst zu egalitären Organisationsformen neigen. Würde das Unternehmen auch dann weiterlaufen, wenn sich dieses Leitbild wandelte? Und wer darf darüber entscheiden?
Genau diese Fragen hat der Frankfurter Soziologe Christian Stegbauer auf breiter empirischer Basis untersucht und dabei einen tiefgreifenden Strukturwandel festgestellt ("Wikipedia". Das Rätsel der Kooperation. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009. 321 S., br., 29,90 [Euro]). Etiketten wie Schwarmintelligenz oder Graswurzeldemokratie treffen den Kern des Projekts demnach immer weniger. Das Selbstverständnis hat sich von einer Befreiungs- zu einer Produktideologie verlagert. Nicht mehr der emanzipatorische Appell des "Jeder kann mitmachen", sondern eine markenbewusste Produktlogik bestimmt die Ausrichtung: Vorrangiges Ziel ist ein Lexikon, das sich gegenüber kommerziellen Mitbewerbern behaupten kann.
Mit diesem Übergang ist auch eine implizite Entscheidung über Organisationsprinzipien gefallen. Zwar steht am Portal Wikipedias noch immer das Motto des freien Zugangs für jeden. In der Praxis hat aber eine überschaubare Gruppe besonders motivierter und leistungsstarker Mitarbeiter die Führung übernommen. Sie trägt nicht nur die Hauptlast der Lexikoneinträge und der Organisation, sondern bestimmt auch den Kurs des Lexikons - mit der Tendenz, sich nach unten und gegenüber Neuankömmlingen abzuschließen. Wer in diesen Zirkel eindringen will, hat mit Widerstand zu rechnen. Stimmt er dabei die alten basisdemokratischen Parolen an, läuft er Gefahr, als Störfaktor im aufreibenden Produktionsprozess zu gelten. Auch die Weisheit der vielen hat bei der Lexikonarbeit ihre Grenzen: Die maximale Zahl garantiert nicht das beste Resultat.
In seiner heutigen Form erscheint die Struktur von Wikipedia deshalb als ein Nebeneinander oligarchischer, demokratischer und anarchischer Formen; ein System, das sich in ständigen Reputations- und Rollenkämpfen stabilisiert, aber doch über ein zentrales Ordnungprinzip verfügt: den Fleiß. Ihre unablässige Betriebsamkeit rechtfertigt die exponierte Stellung der rund zweihundertfünfzig Administratoren, die über das Recht verfügen, Artikel zu löschen und Benutzerprofile zu sperren. Beim Zugang zum Administratorenamt, über den eine formelle Wahl entscheidet, hat sich ein Kooptationsverfahren eingebürgert: Wer diese zentrale Funktion übernehmen will, sollte sich der Gunst etablierter Teilnehmer versichern.
Aus soziologischer Sicht kann es nicht überraschen, dass sich bei wachsender Komplexität eines undeutlich verfassten Gebildes wie Wikipedia Führungseliten herausbilden. Stegbauer schreibt die Ausschließungsprozesse nicht individuellem Machtwillen zu. Er nennt sie den notwendigen Preis für den Erfolg des Unternehmens, das durch ständige basisdemokratische Grundsatzdiskussionen zeitlich und organisatorisch überfordert wäre. Die eigentliche Überraschung liegt darin, dass die Diskrepanz zwischen dem Gründergeist der Bewegung und der Realität nicht unbedingt zu einer tiefen Enttäuschung führt. Wer den Strukturwandel nicht akzeptiert, wird sich in ermüdenden Diskussionen zerreiben und irgendwann resigniert Abschied nehmen. Bei den Übrigen verformt sich die individuelle Anfangsmotivation. Der Verweis auf Ursprungsideale erscheint dann bald nur noch als überholte Geste.
THOMAS THIEL
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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