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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Jamey Bradbury verschwindet in Alaskas Wäldern
"In meinen wildesten Träumen hätte ich mir ein Mädchen wie dich nicht ausdenken können", sagt der Vater zu seiner Tochter am nächtlichen Lagerfeuer. Tatsächlich braucht man für eine Figur wie Tracy Sue Petrikoff sehr viel Phantasie. Die Siebzehnjährige ist klein, muskulös, intelligent, wild, gefährlich - und mit allen Techniken, die es zum Überleben in der Wildnis Alaskas braucht, ausgestattet. Ein Menschentier, das am liebsten im Wald verschwindet und das Blut seiner Beutetiere trinkt.
Das hat sie von ihrer Mutter geerbt. Diese ist seit bald zwei Jahren tot. Ein rätselhafter Unfall, von einem Lkw überfahren. Was tat sie nachts allein auf der Landstraße? Der Vater züchtet Schlittenhunde, hält sich und seine Kinder Tracy und Scott mit Holzarbeit und Schneeräumen finanziell gerade so über Wasser. Der jüngere Bruder stützt die keine Auseinandersetzung scheuende Schwester, hält sich aber - anders als sie, die durchdreht, wenn sie nicht allein oder mit den Hunden losziehen kann - lieber mit Büchern im Warmen auf.
Mit der Wahrheit hat es Tracy nicht, und so verschweigt sie, was ihr im Wald widerfährt: "Ein Mann wie ein Baum" stürzt sich auf sie, nur mit Einsatz ihres Messers kann sich Tracy seiner erwehren. Später taucht der Verletzte am Hof der Petrikoffs auf, der Vater bringt ihn ins Krankenhaus. Von nun an wird dieser Tom Hatch zu Tracys Obsession. Sie entwickelt einen Verfolgungswahn, weil sie glaubt, Hatch werde kommen, um sich seinen Rucksack mit den viertausend Dollar, den sie im Wald fand, zu holen und um Rache zu nehmen. Mit dem Geld meldet sie sich heimlich beim Iditarod an, dem härtesten Schlittenhunderennen der Welt. Ihr Vater hat es bestritten, Tracy will, da sie achtzehn Jahre wird, zweimal antreten in einem Jahr, in der Junior- und in der Erwachsenenausgabe.
Der Rächer bleibt aus. Anstelle von Hatch erscheint ein Streuner namens Jesse Goodwin, ungefähr im gleichen Alter wie Tracy, der sich als Hilfsarbeiter verdingt und Lügengeschichten erzählt, die Tracy durchschaut, weil sie das Abenteuerbuch auswendig kennt, aus dem er seine Storys nimmt. Als sie herausfindet, dass Jesse obendrein nur vorgibt, ein Junge zu sein, wird die Geschichte richtig kompliziert. Und die Mauer, die Tracy gegenüber der Welt errichtet, erhält ihren Schlussstein.
Die in Ohio geborene, in Illinois aufgewachsene Jamey Bradbury ging nach einem Studium an der University of North Carolina als Freiwillige nach Afrika. Zwei Jahre arbeitete sie als Assistentin des amerikanischen Schriftstellers John Irving, bei einem weiteren Freiwilligeneinsatz blieb sie in Alaska hängen. Seit zwanzig Jahren lebt sie in Anchorage. Ihr 2018 erschienenes Debüt "The Wild Inside" ist nun unter dem simplifizierenden Titel "Wild" in deutscher Übersetzung erschienen. Irving, der den Schreibprozess begleitet hat, steuert eine Leseempfehlung bei, in der er den Roman zwischen den Brontë-Schwestern und Stephen King ansiedelt.
"Wenn man teilt, was im Blut ist, ist man einem anderen Menschen so nah, wie es überhaupt nur geht." Von Beginn an legt es Bradbury darauf an, die Spur zu verwischen, ob hier Tracy als Icherzählerin oder eine auktoriale Stimme am Werk ist, die Sätze wie diesen produziert: "Ich schätze, es macht keinen Sinn, eine Geschichte zu lesen, wo die Hauptfigur am Ende genauso wie am Anfang ist." Bradbury spielt mit einer unbeholfenen Syntax, so als könne Tracy kein besseres Englisch - schließlich ist sie wegen körperlicher Gewalt Mitschülern gegenüber der Schule verwiesen worden und leidet nun unter dem Hausarrest nebst Hundeverbot. Die Übersetzung von Lydia Dimitrow schießt gelegentlich übers Ziel hinaus. Das Präteritum "schleifte" bedeutet einfach etwas anderes als das Schärfen eines Messers.
Die Grenzen zwischen Mensch, Tier und Vampir lässt Bradbury verschwimmen; ihre Protagonistin ist ein radikaler Gegenentwurf zu jeder Form zivilisatorischer Regeln. Der Roman kümmert sich nicht um Genregrenzen, und er spielt mit Geschlechterfragen. Vor dem Setting einer übermächtigen Natur und eines Landes im Vor-Digitalzeitalter entsteht ein Wechselspiel zwischen "inside" und "outside", ein schwebender Erzählstrom, von Metamorphosen getrieben. Bis Tracy ihre Bestimmung findet, fließt viel Blut. HANNES HINTERMEIER
Jamey Bradbury: "Wild". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Lydia Dimitrow.
Lenos Verlag, Basel 2022.
390 S., br., 26.- Euro.
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