Eine Studentin bedrängt ihren Professor auf den Gängen der Fakultät, zwei superschlaue Trolle finden in ihrem Hass zueinander, und eine vergessene Theorie kann alles erklären. Eine philosophische Komödie über Macht, Verführung und die Schönheit der Niedertracht – barock, brillant-verrückt, erbarmungslos. Sie möchten sich von einem Roman verzaubern lassen? Literarische Figuren kennenlernen, mit denen Sie sich identifizieren können, die zu guten Freunden werden? In Wilde Theorien gibt es nichts davon – nur Intellektuelle mit empathiefreiem Weltzugang, Lust an der Provokation und dem unstillbaren Wunsch, zu dominieren. Die wunderschöne Erzählerin, eine Philosophiestudentin, trägt stets eine dreisprachige Aristoteles-Ausgabe bei sich, umkreist einen Ex-Guerillakämpfer und ist überzeugt, die Theorie ihres überforderten Professors endlich vervollständigt zu haben. Dann sind da die kleine Kamtchowsky und ihr Freund Pabst, so überhebliche wie hässliche Außenseiter, die in die Subkultur von Buenos Aires eintauchen, moralische Videospiele entwerfen und in ihrer Bilderstürmerei vor kaum einer Geschmacklosigkeit zurückschrecken. Und zuletzt gibt es einen niederländischen Anthropologen, der erklärt, wie die Bestie Mensch zum Menschen wird – bevor er im Urwald verschwindet … Ein überbordender, wilder Roman über das Irrlichtern großer Geister und eine jahrtausendealte, immer wieder hervorbrechende Gewalt.
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Rezensent Jan Küveler kämpft sich durch das abstrakte Romandebüt von Pola Oloixarac und hat im Grunde nur Gutes darüber zu berichten, auch wenn ihm Oloixaracs überschäumender Stil, halb essayistisch (bildungs-)wuchernd, halb surrealistisch poetisch, einiges an Konzentration abverlangt. Was die höllisch belesene, erotomane Erzählerin im Buch alles anstellt, um ihren Professor zu verführen, was die Theorie der Egoistischen Übertragung und Argentiniens Geschichte damit zu haben, erfährt Küveler, indem er sich dem Sog der Sprache und Gedanken bei Oloixarac überlässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.03.2021Wenn nicht mal die Orgie hilft
„Wilde Theorien“: Pola Oloixaracs Satire über einen obsessiven Professor und die Neurosen der akademischen Linken war ein Skandal in Argentinien
Seien Sie gewarnt: „Der Leser muss darauf achten, dass der im Folgenden beschriebene strahlende Glanz sein Denkvermögen nicht blendet, sondern vielmehr die Dimension des sich anbahnenden Dramas noch erweitert.“ Dieser ironisch überhebliche Satz verbirgt sich in dem Roman „Wilde Theorien“ der argentinischen Schriftstellerin Pola Oloixarac, der bereits 2008 im spanischen Original erschienen ist. Es ist der Leitsatz dieses auf nur 250 Seiten völlig ausufernden Buches.
In dessen Zentrum stehen drei ineinander verflochtene Erzählstränge, so komplex vernetzt wie die Tripel-Helix einer DNA-Mutante. Zwei der Narrative rauschen durch das Buenos Aires der jüngeren Vergangenheit: Da sind einerseits die urbanen Eskapaden der jungen Kamtchowsky und ihres Freundes Pabst, die durch Hacker-Szene und Sexclubs treiben. Andererseits versucht Rosa Ostreech, die Ich-Erzählerin, einen älteren Professor namens Collazo zu bezwingen, auf sexueller, aber noch viel wichtiger auf intellektueller Ebene. Dessen Forschungsgebiet produziert den theoretischen Treibsand, in dem die Figuren ertrinken, und den dritten Erzählstrang.
Er beginnt 1917 mit dem fiktiven holländischen Ethnologen Johan van Vliet, der eine Universaltheorie des menschlichen Verhaltens zu belegen versucht. Seine „Theorie der Egoischen Übertragung“ postuliert, die menschliche Zivilisation gründe in einer urzeitlichen Verschiebung, durch die unsere Vorfahren aus von Raubtieren gejagten Affen zu waffenstarrenden Jägern wurden. Die Gewalt des Primaten sei die Bedingung der Kultur. Van Vliets Jünger versuchen mit den Instrumentarien verschiedener Orchideenfächer, seine Theorien zu beweisen und weiterzuentwickeln. So auch Rosa Ostreech, die durch die Verführung des Professors und Dissidenten Collazo die Theorie der egoischen Übertragung in die Praxis umsetzen will.
Institutionalisierte Grausamkeit und die ewigen Kriege zwischen Stämmen, Städten und Nationen definierten unsere Spezies weit mehr als kulturelle oder wissenschaftliche Errungenschaften, lehrt van Vliet. Angst und Hass, nicht Lust oder Liebe sporne menschliches Handeln an. Das ist die ziemlich wilde Theorie dieses Romans zur Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts im Allgemeinen und der Geschichte Argentiniens im Speziellen.
Aber wir wissen ja, es geht nicht darum, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Das tun Oloixaracs Protagonisten auf ihre postmoderne Weise – indem sie mit einem Online-Videospiel den schmutzigen Krieg in den Siebzigern nachstellen und Google Earth hacken und so verändern, dass man damit alles Mögliche erfassen kann: die „geologischen Schichten“ der örtlichen Dialekte, Soldaten und Panzer auf den Plazas der Stadt, genau wie den Wohnort einer Romanfigur von Borges: „Das Nebeneinander der Zeiten verdichtete sich zu einer räumlichen Syntax“ und überlastet die Server – Google Earth stürzt ab.
Die Verzerrungen der Sprache ist eines von Oloixaracs Hauptthemen. „Die Syntax lügt nicht“ heißt einer ihrer trügerischen Leitsätze. Ihre Obsession für die Wirrungen der überbordenden akademischen Sprache muss die Übersetzung des Romans aus dem Spanischen zu einer großen Herausforderung gemacht haben. Matthias Strobl verdient einen linguistischen Orden dafür, Oloixaracs gleichzeitig verkopfte und sinnliche Sprache so erfolgreich ins Deutsche übertragen zu haben. Natur- und geisteswissenschaftliche Metaphern durchziehen den Text, da werden Profile „von Vektoren aus konzentrierter Hässlichkeit durchlöchert“, griechische Restaurants heißen Platon, Katzen Montaigne. Eine Sexszene ist als mathematische Formel dargestellt, mit Wurzel und Kosinus.
Die rechte Militärdiktatur, Entführungen, der Linksterrorismus der bleiernen Siebzigerjahre, der Linksnationalismus des Peronismus, all das schwingt in Oloixaracs Roman mit. Wer sich wenig mit argentinischer Geschichte auskennt, wird den Verdacht nicht los, blind zu bleiben gegenüber Anspielungen und Bedeutungsebenen. „Wilde Theorien“ lässt sich aber auch als scharfe Kritik an den intellektuellen Grundannahmen der Neuen Linken und ihrer kulturellen Hegemonie lesen. Oloixarac steckt die Wurzeln dieses Denkens in Brand: den Glauben an das Individuum. Die Psychologisierung des Einzelnen führt sie ad absurdum wenn sie ihre Figuren zu ketamingeschwängerten Orgien oder in die Niederungen von Online-Foren schickt, wo sie zwar Auflösung in einem Kollektiv suchen, aber doch nur noch mehr von sich selbst finden.
Nicht einmal die Masturbation erlöst die obsessiven Geisteswissenschaftler von Buenos Aires davon, sich selbst theoretisch und psychoanalytisch zu erfassen: „Manchmal wurde er von einem metatheoretischen Sturm der Ausdeutungen seiner Wichsereien erfasst.“ Diese Satire auf die akademischen Linken verursachte einen Skandal in Argentinien. Oloixaracs Roman war binnen zwei Monaten ausverkauft, doch die Kritik überzog sie mit Häme, der Vorwurf stand im Raum, sie sei eine verkappte Faschistin. Ein Magazin schrieb, Oloixarac sei keine rechte Schriftstellerin, denn sie sei gar keine Schriftstellerin.
Dieser Wertung griesgrämiger argentinischer Kulturkritiker kann man sich angesichts ihrer üppigen Sprache und des verwinkelten Plots dieses Romans nicht anschließen. Vielmehr beginnt man sich darauf zu freuen, noch mehr Zeit mit Oloixaracs Schreiben zu verbringen. Ihr zweiter Roman ist bereits 2016 unter dem Titel „Kryptozän“ auf Deutsch erschienen. Und 2019 hat sie den Roman „Mona“ veröffentlicht, den man hoffentlich bald auch auf Deutsch lesen kann. Darin spießt sie die akademische Welt des globalen Nordens auf, die sie dank ihres PhD in Philosophie an der University Stanford bestens kennt.
Und auch ihre Satire unter argentinischen radikalen Intellektuellen ist keine lokale Angelegenheit. Jeder, der einmal verrauchte Gespräche in WG-Küchen mit großstädtischen, geisteswissenschaftlich gebildeten Hipsterlinken erlebt hat, wird diese Szene in „Wilde Theorien“ wiedererkennen. Oloixaracs Buch ist aber keine Hommage, es stellt die Frage, ob man aus dem Elfenbeinturm heraus die Welt verändern kann. Oder ob man dort nur feine Unterschiede kultiviert.
CASPAR SHALLER
Oloixarac steckt die Wurzeln
linken Denkens in Brand:
den Glauben ans Individuum
Pola Oloixarac:
Wilde Theorien. Roman. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel.
Wagenbach, Berlin 2021. 256 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Wilde Theorien“: Pola Oloixaracs Satire über einen obsessiven Professor und die Neurosen der akademischen Linken war ein Skandal in Argentinien
Seien Sie gewarnt: „Der Leser muss darauf achten, dass der im Folgenden beschriebene strahlende Glanz sein Denkvermögen nicht blendet, sondern vielmehr die Dimension des sich anbahnenden Dramas noch erweitert.“ Dieser ironisch überhebliche Satz verbirgt sich in dem Roman „Wilde Theorien“ der argentinischen Schriftstellerin Pola Oloixarac, der bereits 2008 im spanischen Original erschienen ist. Es ist der Leitsatz dieses auf nur 250 Seiten völlig ausufernden Buches.
In dessen Zentrum stehen drei ineinander verflochtene Erzählstränge, so komplex vernetzt wie die Tripel-Helix einer DNA-Mutante. Zwei der Narrative rauschen durch das Buenos Aires der jüngeren Vergangenheit: Da sind einerseits die urbanen Eskapaden der jungen Kamtchowsky und ihres Freundes Pabst, die durch Hacker-Szene und Sexclubs treiben. Andererseits versucht Rosa Ostreech, die Ich-Erzählerin, einen älteren Professor namens Collazo zu bezwingen, auf sexueller, aber noch viel wichtiger auf intellektueller Ebene. Dessen Forschungsgebiet produziert den theoretischen Treibsand, in dem die Figuren ertrinken, und den dritten Erzählstrang.
Er beginnt 1917 mit dem fiktiven holländischen Ethnologen Johan van Vliet, der eine Universaltheorie des menschlichen Verhaltens zu belegen versucht. Seine „Theorie der Egoischen Übertragung“ postuliert, die menschliche Zivilisation gründe in einer urzeitlichen Verschiebung, durch die unsere Vorfahren aus von Raubtieren gejagten Affen zu waffenstarrenden Jägern wurden. Die Gewalt des Primaten sei die Bedingung der Kultur. Van Vliets Jünger versuchen mit den Instrumentarien verschiedener Orchideenfächer, seine Theorien zu beweisen und weiterzuentwickeln. So auch Rosa Ostreech, die durch die Verführung des Professors und Dissidenten Collazo die Theorie der egoischen Übertragung in die Praxis umsetzen will.
Institutionalisierte Grausamkeit und die ewigen Kriege zwischen Stämmen, Städten und Nationen definierten unsere Spezies weit mehr als kulturelle oder wissenschaftliche Errungenschaften, lehrt van Vliet. Angst und Hass, nicht Lust oder Liebe sporne menschliches Handeln an. Das ist die ziemlich wilde Theorie dieses Romans zur Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts im Allgemeinen und der Geschichte Argentiniens im Speziellen.
Aber wir wissen ja, es geht nicht darum, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Das tun Oloixaracs Protagonisten auf ihre postmoderne Weise – indem sie mit einem Online-Videospiel den schmutzigen Krieg in den Siebzigern nachstellen und Google Earth hacken und so verändern, dass man damit alles Mögliche erfassen kann: die „geologischen Schichten“ der örtlichen Dialekte, Soldaten und Panzer auf den Plazas der Stadt, genau wie den Wohnort einer Romanfigur von Borges: „Das Nebeneinander der Zeiten verdichtete sich zu einer räumlichen Syntax“ und überlastet die Server – Google Earth stürzt ab.
Die Verzerrungen der Sprache ist eines von Oloixaracs Hauptthemen. „Die Syntax lügt nicht“ heißt einer ihrer trügerischen Leitsätze. Ihre Obsession für die Wirrungen der überbordenden akademischen Sprache muss die Übersetzung des Romans aus dem Spanischen zu einer großen Herausforderung gemacht haben. Matthias Strobl verdient einen linguistischen Orden dafür, Oloixaracs gleichzeitig verkopfte und sinnliche Sprache so erfolgreich ins Deutsche übertragen zu haben. Natur- und geisteswissenschaftliche Metaphern durchziehen den Text, da werden Profile „von Vektoren aus konzentrierter Hässlichkeit durchlöchert“, griechische Restaurants heißen Platon, Katzen Montaigne. Eine Sexszene ist als mathematische Formel dargestellt, mit Wurzel und Kosinus.
Die rechte Militärdiktatur, Entführungen, der Linksterrorismus der bleiernen Siebzigerjahre, der Linksnationalismus des Peronismus, all das schwingt in Oloixaracs Roman mit. Wer sich wenig mit argentinischer Geschichte auskennt, wird den Verdacht nicht los, blind zu bleiben gegenüber Anspielungen und Bedeutungsebenen. „Wilde Theorien“ lässt sich aber auch als scharfe Kritik an den intellektuellen Grundannahmen der Neuen Linken und ihrer kulturellen Hegemonie lesen. Oloixarac steckt die Wurzeln dieses Denkens in Brand: den Glauben an das Individuum. Die Psychologisierung des Einzelnen führt sie ad absurdum wenn sie ihre Figuren zu ketamingeschwängerten Orgien oder in die Niederungen von Online-Foren schickt, wo sie zwar Auflösung in einem Kollektiv suchen, aber doch nur noch mehr von sich selbst finden.
Nicht einmal die Masturbation erlöst die obsessiven Geisteswissenschaftler von Buenos Aires davon, sich selbst theoretisch und psychoanalytisch zu erfassen: „Manchmal wurde er von einem metatheoretischen Sturm der Ausdeutungen seiner Wichsereien erfasst.“ Diese Satire auf die akademischen Linken verursachte einen Skandal in Argentinien. Oloixaracs Roman war binnen zwei Monaten ausverkauft, doch die Kritik überzog sie mit Häme, der Vorwurf stand im Raum, sie sei eine verkappte Faschistin. Ein Magazin schrieb, Oloixarac sei keine rechte Schriftstellerin, denn sie sei gar keine Schriftstellerin.
Dieser Wertung griesgrämiger argentinischer Kulturkritiker kann man sich angesichts ihrer üppigen Sprache und des verwinkelten Plots dieses Romans nicht anschließen. Vielmehr beginnt man sich darauf zu freuen, noch mehr Zeit mit Oloixaracs Schreiben zu verbringen. Ihr zweiter Roman ist bereits 2016 unter dem Titel „Kryptozän“ auf Deutsch erschienen. Und 2019 hat sie den Roman „Mona“ veröffentlicht, den man hoffentlich bald auch auf Deutsch lesen kann. Darin spießt sie die akademische Welt des globalen Nordens auf, die sie dank ihres PhD in Philosophie an der University Stanford bestens kennt.
Und auch ihre Satire unter argentinischen radikalen Intellektuellen ist keine lokale Angelegenheit. Jeder, der einmal verrauchte Gespräche in WG-Küchen mit großstädtischen, geisteswissenschaftlich gebildeten Hipsterlinken erlebt hat, wird diese Szene in „Wilde Theorien“ wiedererkennen. Oloixaracs Buch ist aber keine Hommage, es stellt die Frage, ob man aus dem Elfenbeinturm heraus die Welt verändern kann. Oder ob man dort nur feine Unterschiede kultiviert.
CASPAR SHALLER
Oloixarac steckt die Wurzeln
linken Denkens in Brand:
den Glauben ans Individuum
Pola Oloixarac:
Wilde Theorien. Roman. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel.
Wagenbach, Berlin 2021. 256 Seiten, 22 Euro.
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