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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Fabian Michl proträtiert eindrucksvoll die Verfassungsrichterin Wiltraut Rupp-von Brünneck. Doch ihre Karriere in der NS-Zeit ließ sie bis zum Schluss nicht los
Kurz nach der Urteilsverkündung schickte die Frankfurter „Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen“ ein Telegramm nach Karlsruhe. Wiltraut Rupp-von Brünnecks Sondervotum zum Abtreibungsurteil sei ein „Beweis von Klugheit, Vernunft und Menschlichkeit“, lobten die Frauen. Und die halbe Republik applaudierte mit. Das Bundesverfassungsgericht hatte die liberale Fristenlösung zum Schwangerschaftsabbruch gekippt, aber die Frau im hohen Richteramt hatte dazu eine fulminante abweichende Meinung formuliert, gemeinsam mit Helmut Simon. Das war, obwohl sie gewonnen hatten, ein harter Schlag für die Konservativen im Gericht; bevor Rupp-von Brünneck ihr „Dissenting“ vortrug, verließ ihr Kollege Werner Böhmer den Gerichtssaal.
Man schrieb das Jahr 1975, und ihr beherztes Nein sollte ihr Bild für die Nachwelt prägen: als eine für Gleichberechtigung und Liberalität streitende Richterin. Dabei war sie keineswegs eine Verfechterin der Abtreibungsreform, wie aus ihrer privaten Korrespondenz hervorgeht. Im Abtreibungsurteil ging es ihr zuvorderst um die Demokratie. Die Entscheidung des gewählten Parlaments für eine Fristenlösung müsse vom Gericht respektiert werden, forderte sie.
Der Jurist Fabian Michl, Juniorprofessor in Leipzig, hat ein umfangreiches Buch über die so begabte und erfolgreiche Juristin geschrieben, die sich gleich zwei Mal ihre berufliche Karriere im frauenfeindlichen Umfeld erkämpfen musste. Zuerst im NS-Regime mit seiner Mutterideologie, dann in der jungen Bundesrepublik, in der die Gleichberechtigung zunächst nur auf dem Papier stand. Beide Male ist es ihr gelungen; man ahnt, dass so ein Leben tiefe Brüche aufweist.
Wiltraut von Brünneck wurde im Jahr 1912 in eine uradlige Familie hineingeboren, ansässig in Brandenburg und Westpreußen, mit einem Staatsminister und mehreren Juristen in der Ahnenreihe. Das Umfeld war deutschnational geprägt, in der Schule im Berliner Stadtteil Lankwitz wurden die Schüler mit Konzepten wie „Deutschtum“ und „Volksgemeinschaft“ vertraut gemacht. Die Familie lehnte die Weimarer Republik ab, hegte aber zugleich wenig Sympathie für die erstarkenden Nazis – freilich vor allem wegen ihres proletarischen Habitus, schreibt Michl.
Im Jurastudium, das sie 1932 in Berlin begann, zeigte sich rasch ihre außerordentliche Begabung; 1941 sollte sie als Jahrgangsbeste abschließen. In der „Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Studentinnen“ in Heidelberg und Berlin engagierte sie sich, wenn man so will, frauenpolitisch. Allerdings mit einer völkisch vergifteten Argumentation, die halb nach Strategie, halb nach Überzeugung klingt. Die Wahrung des Rechts obliege dem Manne, aber der Frau komme eine „ergänzende“ Rolle zu. Es ging also gerade nicht um „Gleichberechtigung“, sondern um ihren Platz in der „Volksgemeinschaft“. Kein Geschlechterkampf, aber eben auch keine Reduktion auf die Mutterrolle. Und ihr erster Job in der Grundbuchabteilung im Reichsjustizministerium führte sie mitten ins NS-System. Die Aufgabe war nur scheinbar unpolitisch. Es galt, bei der „Arisierung“ jüdischer Grundstücke Lasten aus den Grundbüchern zu tilgen. Also dem Raub einen legalen Anstrich zu geben.
Fabian Michl ist ein detailverliebter Biograf, der auf die Aussagekraft der gründlich recherchierten Fakten vertraut. Er verzichtet auf die Pose moralischer Überlegenheit, was eine große Stärke des Buches ist. Aber irgendwann stellt er die Frage: „War Wiltraut von Brünneck eine Nationalsozialistin?“ War die Juristin, deren Einsatz für die Grundrechte später bejubelt werden sollte, eine Anhängerin des NS-Regimes? Sie selbst gab sich wortkarg, als sie sich im Mai 1945 bei der US-Kommandantur um eine Stelle am Amtsgericht Sangerhausen bemühte: „I never belonged to the NS-Party.“ Tatsächlich war sie nie Parteimitglied. Aber eben auch nicht nur ein Blatt im Wind. Michl überlässt die Antwort den Lesern: „Sie spielte zwar keine Hauptrolle, war aber doch mehr als nur eine Statistin.“
Dass sie nach 1945 umgehend in der jungen Bundesrepublik Fuß fasste, mag ein Beispiel für die oft beschriebene Anpassungsfähigkeit der Juristen sein. Aber vielleicht ist es auch die Geschichte einer Läuterung. Brünneck schaffte den Einstieg ins Justizministerium im „roten“ Hessen. Also unter der Ägide eines Ministers, der über jeden Verdacht erhaben war: Georg August Zinn, ein gestandener Sozialdemokrat, hatte sich im NS-Staat für Verfolgte des Regimes eingesetzt. Vermutlich habe er bei ihrer Einstellung ein Auge zugedrückt, schreibt Michl. Jedenfalls erlebte die Oberregierungsrätin, die einst bei einem Professor in NS-Uniform Staatsrecht gelernt hatte, ihre zweite Sozialisation; sie lernte, was Demokratie bedeutet.
Und dieses Mal setzte sie sich für wirkliche Gleichberechtigung ein. Im Parlamentarischen Rat war sie im Hintergrund an der Formulierung des Artikels 117 Grundgesetz beteiligt, eine Art Ultimatum für die Umsetzung der Gleichberechtigung. Da arbeitete sie an der Seite von Elisabeth Selbert, einer der wenigen Grundgesetz-Mütter. Und als die die patriarchale Politik in den 50er-Jahren immer noch bremste, schrieb die Spitzenbeamtin vom hessischen Ministerium aus an einer Verfassungsbeschwerde mit, die 1959 einen spektakulären Erfolg erzielte. Die Vorrechte des Mannes in der Erziehung wurden gekippt. Auch in Karlsruhe war eine Frau am Werk: Erna Scheffler, Brünnecks Vorgängerin am Bundesverfassungsgericht.
Als sie 1963 zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts gewählt wurde, war aus Wiltraut von Brünneck längst eine Sozialdemokratin geworden, wenn auch ohne Parteibuch. Sie ließ die hessische Politik nur widerstrebend hinter sich. Doch in Karlsruhe fand sie, was sie dort nicht erwartet haben wird – ihr privates Glück. An einem festlichen Abend lernte sie – Mitglied im Ersten Senat – Hans Rupp kennen, der dem Zweiten Senat des Gerichts angehörte. 1965 heirateten die Richterin und der Richter, eine Premiere in Karlsruhe. Georg August Zinn war Trauzeuge.
Im Gericht sollte sie im Familienrecht fortsetzen, was sie in Hessen begonnen hatte. Sie brachte die reformunwillige konservative Politik auf Trab. Nur ein Beispiel: Das Grundgesetz verpflichtete den Gesetzgeber zwar, gleiche Bedingungen für, wie es damals hieß, „uneheliche“ Kinder zu schaffen, doch die Wirklichkeit blieb dahinter zurück. Die neue Richterin trieb entsprechendes Verfahren im Gericht voran, und ein Beschluss vom Januar 1969 setzte die Politik unter Zugzwang. Vier Monate später wurde die Reform im Bundestag beschlossen. Am Ende ihres Lebens – sie war noch im Amt, als sie 1977 starb – hatte sie sich den Ruf einer Demokratin erworben, die sich für Gleichberechtigung und für die soziale Frage engagierte.
Fabian Michl ist ein eindrucksvolles Buch gelungen, für das es eigentlich kein Genre gibt. Über hohe Richter werden so gut wie nie Biografien geschrieben. Insofern füllt seine Nahsicht auf eine Karlsruher Protagonistin jener Jahre eine Lücke. Doch sein gut lesbares, aber manchmal zu ausführliches Werk ist mehr als ein Juristinnenporträt. Er beschreibt ein geradezu paradigmatisches deutsches Leben, durch das sich der tiefe Graben zwischen Diktatur und Demokratie zieht wie eine hässliche Narbe. Das blieb bis zum Schluss so. Unter den Menschen, die Wiltraut Rupp-von Brünneck von ihrem Tod benachrichtigt wissen wollte, waren Verfolgte des Naziregimes. Und schwer belastete NS-Funktionäre.
WOLFGANG JANISCH
Sie war nicht Parteigenossin,
aber sie stand nicht abseits.
Später vertrat sie Werte der SPD
Fabian Michl:
Wiltraut Rupp-von Brünneck (1912–1977).
Juristin, Spitzenbeamtin, Verfassungsrichterin. Campus-Verlag, Frankfurt 2022. 558 Seiten, 39 Euro.
E-Book: 35,99 Euro.
Der Tag, der sie berühmt machte: Wiltraut Rupp-von Brünneck (Zweite von rechts) bei der Urteilsverkündung zur Fristenlösung bei Schwangerschaftsabbrüchen am 25. Februar 1975 in Karlsruhe.
Foto: Michael Dick/dpa
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