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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Goldrausch im wilden Gewimmel der Keime: Ed Yong taucht in die Welt der Mikroben ein und beschreibt sie als Quertreiber und Architekten unseres Daseins.
Die erste Reaktion ist - hört das denn gar nicht auf? Muss man Mikroben unbedingt auch noch ins Herz schließen, wo sie im Darm als "Superorganismus" schon gefühlt Jahrzehnte ihren Charme spielen lassen? Müssen wir es wirklich ertragen, wenn Autoren wie der junge Brite Ed Yong, die vollständig auf dem Fundament der aktuellen Forschung stehen, uns Kapitel über Kapitel vom "Lieblingsbakterium" vorschwärmen und die Herrschaftsstrategien der Mikroben über die lebendige Welt zum evolutionären, quasidarwinistischen Paradigma der Lebenswissenschaften stilisieren?
Die Antwort ist: Ja, sehr wohl, die Beschäftigung mit dem Mikrobiom-Hype ist alles, nur keine verschwendete Zeit. Und das gilt nicht nur für den sensiblen, am besten erforschten Bereich, wo es um unsere Gesundheit geht, sondern eben auch weit darüber hinaus. Ed Yong ist ein bekennender Mikrobenbewunderer, der die Erkenntnisse der mikrobiellen Forschung der letzten beiden Dekaden als pars pro toto nennt und ganz weit ausholt: "Es ist an der Zeit, im Großen zu denken."
Die Zahlen und Fakten, die dafür stehen, sind in der Tat atemberaubend. Viele mögen zuerst an die Billionen von Bakterien denken, die unseren Körper besiedeln, drinnen im Darm und den Schleimhäuten und draußen auf der Haut, wo sie zusammengenommen die Zahl unserer sehr viel größeren Körperzellen weit übersteigen. Kiloweise Keime, die unseren Körper ausfüllen und zusammenhalten - buchstäblich nicht nur bauen, sondern auch am Laufen halten. Oder eben nicht, sollte das Mikrobiom gestört sein.
Hunderte von wissenschaftlichen Publikationen haben wir in den vergangenen Jahren gelesen und Tausende übersehen, die diese physiologischen und medizinischen Mirakel des Zusammenwirkens mit diesen mikroskopischen Existenzen zu erklären versuchen.
Wir können, wie Ed Yong im ersten Teil seines Buches ausführlich und hochaktuell darlegt, die unterschiedlichen Körper-Geist- und Mikroben-Achsen bis in molekulare Details verfolgen. Aber schon in diesem höchst alltagsrelevanten Teil, in dem er etwa die mutmaßliche Bedeutung von Probiotika für Krankheiten - Autismus beispielsweise - ebenso wie für unsere Gesunderhaltung beschreibt, wird eines deutlich: Noch immer stecken wir ganz früh in der Sammelphase der Mikrobenjäger fest. Es wirkt wie ein Goldrausch im wilden Gewimmel der Keime, die uns genauso Freund wie sie uns Feind sind. Man könnte an dieser Dutzende, ja Hunderte Beispiele für diese Mikrobeneuphorie aufzählen, die Ed Yong sehr lebendig und entlang der großen und kleinen Entdeckergeschichten aufschreibt. Man bleibt dennoch oft im Staunen stecken. Kann es wirklich sein, dass die Mikroben alles mitbestimmen - Yong spricht oft gar vom "Steuern" der Lebensprozesse: von der Entwicklung unseres Gehirns bis zu der Wirkung oder eben dem Versagen von Medikamenten und Nahrungsmitteln?
Die empirischen Belege dafür sind in der Breite noch dünn, und dennoch: Genau so interpretiert der in Washington lebende Wissenschaftsjournalist den Strom an Daten und Befunden, die aus den Laboren an die Öffentlichkeit dringen. Es ist kein Fetisch für eine Organismengruppe, die Yong offensichtlich antreibt, vielmehr eine Euphorie, wie man sie vor sechzig Jahren in der Molekularbiologie und vor dreißig oder vierzig Jahren durch den Aufbruch ins ökologische Zeitalter spüren konnte: die Erkenntnis nämlich, dass hinter den vermeintlich einfachen linearen Verkettungen in der Natur, ein komplexes, hochdynamisches und für Überraschungen immer wieder gutes Netzwerk steckt, das für sein Funktionieren viele Mitspieler braucht. Für Yong heißt das, kurz gesagt: Bazillen sind die Quertreiber und Architekten unseres Daseins.
Zu den Überraschungsfunden hat die Mikrobiologie in der Tat eine ganze Menge beigetragen. Yong ist da auch nicht kleinlich in seinen Bewertungen. Er freut sich mit den Forschern diebisch, dass aus der "Hinterhofwissenschaft" eine Art Reise zum "Mittelpunkt des Universums" wird. Menschliche Seinsfragen inklusive. "Wie können wir angesichts dessen, was wir wissen, überhaupt ein Individuum definieren?", fragt Yong eingedenk der Masse und Macht, die Mikroben auf die Körper sämtlicher Lebewesen und deren Verhalten - und eben auch auf unseren Geist - ausüben. Anatomisch betrachtet, jedenfalls sind Mikroben nicht bloß Trittbrettfahrer, sie sind nicht nur parasitisch oder symbiotisch unterwegs, sie sind in den Augen des Autors schlichtweg konstitutiv für das gelingende Leben. Wir teilen nicht nur den Raum mit ihnen, sie sind gewissermaßen wir selbst.
Solche Interpretation kann man geistesgeschichtlich als philosophisches Dilettieren ignorieren, man kann darüber ebenso hinwegsehen, wie man über die unbestreitbar mächtige Rolle der Gene für das menschliche Verhalten gerne hinwegsieht, weil man die Freiheit unseres Willens, unser Schöpfertum oder unsere moralische Überlegenheit zu schützen vorgibt. Doch wäre es fatal, die Konsequenzen der Mikrobiomforschung für die Zukunft damit gleichzeitig zu unterschätzen. Oder sie auch nur kleinzureden, weil es vermeintlich um natürliche Gleichgewichte, um Lebensvielfalt in Parallelwelten oder um mikrobielle Stabilität und Ökoschwärmerei geht.
Nein, Yong hat durchaus einen entscheidenden Punkt. Sein Ansatz, die zentrale Rolle des Mikrobioms für das Leben auf diesem Planeten auf die Größe eines darwinistischen Paradigmenwechsels aufzublasen, trifft nämlich einen harten humanen Kern, der in anderen Büchern zum Thema selten so klar - amerikanisch explizit - vorkommt: Mit den Mikroben, die nie nur gut und nie nur böse sein können, kommt eine grundsätzlich neue, jedenfalls übersehene soziale wie biotechnologische Komponente in unsere Lebens- und Umweltgestaltung.
Die Architektur ist so ein Beispiel: In dem Kapitel über die Welt von morgen beschreibt Yong, wie er sich die nicht mehr von fatalen Zufällen geprägte Koexistenz zwischen Mensch und Mikrobe vorstellen könnte - oder wie sie inzwischen einflussreiche Leute wie der chinesischstämmige Ingenieur Luke Leung propagieren. Leung hat als Ingenieur unter anderem den Burj-Khalifa-Turm in Dubai, das höchste Gebäude der Welt, und den Finanzdistrikt von Peking gestaltet.
Seit er den Mikrobiologen Jack Gilbert aus Chicago kennengelernt hat, entwirft er Pläne, Mikroben gezielt in die Häuser auszusäen. Und nicht nur Häuser: auch Krankenhäuser, Betriebe, Studentenwohnheime. Man ahnt, wohin das gehen soll: Reißt die Fenster auf, lasset der Natur ihren Lauf, weg mit Domestos. Yong berichtet von Mikrobiom-Initiativen, die sich inzwischen länderübergreifend gebildet haben und einen mikrobiologischen Perspektivwechsel einfordern.
Sein wissenschaftliches Gespür ist ausgeprägt genug, auf die Lückenhaftigkeit hinzuweisen, mit der die mikrobielle Steuerung der Umwelt begründet wird. Vielleicht kann man ihm vorwerfen, zu wenig Material zusammenzutragen, um auf die Risiken großskaliger Eingriffe und die Vorläufigkeit der bisherigen Erkenntnisse hinzuweisen. Andererseits findet man wenige fundierte Autoren, die sich wie er auf den Flügeln der Begeisterung für die Mikrobenjagd so weit, nämlich rund um die Welt und quer durch sämtliche Wissenschaftsdisziplinen, tragen lassen.
JOACHIM MÜLLER-JUNG
Ed Yong: "Winzige Gefährten". Wie Mikroben uns eine umfassendere Ansicht vom Leben vemitteln.
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Antje Kunstmann Verlag, München 2018.
448 S., Abb., geb., 28,- [Euro].
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