Mirja besucht ihre Schwester Sisko täglich im Krankenhaus. Sisko hat Krebs, und in Erwartung des nahen Endes reden die Schwestern über Leben und Tod, ihre Familie und die Vergangenheit. Sisko lebt in England, ihre Schwester Mirja, die zur Unterstützung angereist ist, in Deutschland. Die Familie kommt aber aus Finnland, und in den Geschichten von früher, von der Kindheit inmitten der Geschwister und der eigenwilligen Eltern, spielt diese Herkunft eine wichtige Rolle. Marjaleena Lembckes Sprache ist entwaffnend direkt und dadurch eindringlich. Selten liest man so unverstellt von den letzten Dingen und findet dabei dennoch Trost.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Katharina Laszlo geht bedrückt hervor aus der Lektüre von Marjaleena Lembckes Roman. Wie die Autorin darin Leid und Schmerz verhandelt erscheint ihr unerhört erbarmungslos, als nicht enden wollender Reigen vom Tode Gezeichneter, gehalten durch nichts, keine Metaphysik, keine verlässliche menschliche Nähe. So unsentimental, wie Lembcke von der Unmöglichkeit der Erlösung berichtet, so subversiv erscheint Laszlo dieser Ansatz, lässt er sie doch - frei von spiritueller Erhöhung - Momente erhöhter Wahrnehmung und Wahrheit erfahren. Ein Roman als Schmerz-Maschine, das ist neu für die Rezensentin und gewöhnungsbedürftig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2016Vom Versagen in wichtigen Momenten
Marjaleena Lembckes Roman über eine finnische Verstörung
Die rätselhafte Beziehung zwischen Wirklichkeit und Erfindung zeigt sich nirgendwo so deutlich wie in der entsetzlichen Tatsache menschlicher Sterblichkeit. Der Titel von Marjaleena Lembckes neuem Roman lautet "Wir bleiben nicht lange". Verschleierungssätze wie diesen erfinden wir, weil es einfacher ist, die sich dahinter verbergende Wirklichkeit nicht direkt zu benennen. Geschichten erzählen wir, um diese Welt vielleicht nicht zu überleben, aber die verschiedenen Arten von Unglück, die sie für die Menschen bereithält, zumindest begreiflich zu machen. Nicht so Lembcke.
Ein leichtes Leben hat niemand in "Wir bleiben nicht lange" und schon gar kein leichtes Sterben. Die Protagonistin Sisko liegt mit unheilbarem Krebs auf einer Londoner Palliativstation. In Rückblenden und Krankenbesuchen begegnen wir einer Familie, die hauptsächlich von der Vergangenheit und vom Unglück zusammengehalten wird - längst haben die Familienmitglieder Finnland, das Land ihrer Kindheit, verlassen, leben in Deutschland, England, Schweden. In einer Art Ur-Katastrophe wirft sich die Mutter vor einen Zug, als die Geschwister noch Kinder sind. Ein Bruder, Juhani, hat Aids und lebt nur noch dank der Niere, die ihm der zweite Bruder, Tapani, gespendet hat. Dieser wiederum hat einen toten Sohn. Der dritte Bruder, Eino, ist mit 47 an einem Herzinfarkt gestorben. Auch Siskos Schwester, Mirja, der es in der Gegenwart am besten zu gehen scheint, hat viel Zeit in einer psychiatrischen Klinik verbracht, an Armen und Beinen gefesselt. Selbst die Randfiguren ereilt ein grausames Schicksal. Siskos Ex-Schwiegermutter, die nur auf ein paar Seiten vorkommt, entkommt ihrer erdrückenden Ehe erst durch einen Nervenzusammenbruch und stirbt schließlich in einer psychiatrischen Klinik. Man wünscht sich einen Fluch, eine strafende Macht, aber Lembcke bietet nichts davon. Das Wort "ungerecht" kommt nicht vor, als wäre das eine vollkommen unangebrachte Kategorie.
Wie sich hier herausstellt, gibt es noch etwas Nervenaufreibenderes, als von einem Roman bedrängt zu werden und zu glauben, er provoziere Rührung aufgrund einer von der Materie vorgegebenen, vorgefertigten Schwere: das Gegenteil von all dem. "Wir bleiben nicht lange" ist bevölkert von einer absurd hohen Anzahl an Leidenden, sträubt sich aber gegen jede Deutung dieses Leids, gegen jegliche Art von metaphysischem Halt. Allein unmittelbar Sterbenskranken wird dieser zugestanden, aber er ist eine Art Unzurechnungsfähigkeit: "Ob von Morphium und Wodka benebelt oder nur aus Verzweiflung", entwickelt Sisko in ihren letzten Tagen eine Vorliebe für Wunder und Zeichen, glaubt "ihr Schicksal sei bereits vor ihrer Geburt festgelegt worden, sie selbst habe sich die Eltern, ihr Leben ausgesucht". Das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der Dinge als Pathologie.
In seiner an Erbarmungslosigkeit grenzenden Unsentimentalität zieht der Roman den Leser hinein in ein moralisches Universum, in dem Erlösung unmöglich ist. Nichts weist darauf hin, dass sich ein Leben verändert oder jemand etwas über seinen Sinn erfahren hätte. Das Buch entfaltet aber auch eine subversive Kraft, indem es, in Abwesenheit spiritueller Erhöhung, Momente erhöhter Wahrnehmung bündelt, eine intensive Aufmerksamkeit für sich und andere erzeugt. So zum Beispiel bei Mirjas Exkursionen zu einem indischen Laden in der Nähe, wo sie Wodka, Bier und Saft kauft, ins Krankenhaus schmuggelt und genau so mischt, wie Sisko es gern hat.
In Lembckes radikaler Bereitschaft, die Wirklichkeit nicht zu erklären, sondern einfach auszuhalten, leuchtet eines immer wieder auf: Wahrheit. Als Sisko stirbt, ist Mirja nicht bei ihr. Wenn dies etwas zu bedeuten hat, dann nur, dass man in den wichtigen Momenten des Lebens auch nicht weniger versagt als in den unwichtigen. Es gibt Augenblicke rauher Zärtlichkeit, die jedoch sofort im Relativismus erstickt werden. Als Mirja Sisko aus "Jooseppi vom Lumpenstrand" vorliest, Ilmari Kiantos Roman aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert über einen armen finnischen Kleinbauern, der nach einem Leben in Notlage von einem Baum erschlagen wird, folgt auf das atemlose Pathos Kiantos nur die ultimative Einsamkeit des Einzelnen und eine so undurchschaubare Mehrdeutigkeit der Gefühle, dass noch nicht einmal die Erzählstimme sie endgültig zu dechiffrieren vermag: "Mirja stieg Wasser in die Augen", vielleicht aber "nur, weil sie müde war." Am Ende funktioniert der Roman wie eine Maschine, die auf die Produktion von Schmerz programmiert ist. Und kann deshalb weder auf die Figuren noch auf den Leser kathartisch wirken.
KATHARINA LASZLO
Marjaleena Lembcke: "Wir bleiben nicht lange". Roman.
Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2016. 192 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marjaleena Lembckes Roman über eine finnische Verstörung
Die rätselhafte Beziehung zwischen Wirklichkeit und Erfindung zeigt sich nirgendwo so deutlich wie in der entsetzlichen Tatsache menschlicher Sterblichkeit. Der Titel von Marjaleena Lembckes neuem Roman lautet "Wir bleiben nicht lange". Verschleierungssätze wie diesen erfinden wir, weil es einfacher ist, die sich dahinter verbergende Wirklichkeit nicht direkt zu benennen. Geschichten erzählen wir, um diese Welt vielleicht nicht zu überleben, aber die verschiedenen Arten von Unglück, die sie für die Menschen bereithält, zumindest begreiflich zu machen. Nicht so Lembcke.
Ein leichtes Leben hat niemand in "Wir bleiben nicht lange" und schon gar kein leichtes Sterben. Die Protagonistin Sisko liegt mit unheilbarem Krebs auf einer Londoner Palliativstation. In Rückblenden und Krankenbesuchen begegnen wir einer Familie, die hauptsächlich von der Vergangenheit und vom Unglück zusammengehalten wird - längst haben die Familienmitglieder Finnland, das Land ihrer Kindheit, verlassen, leben in Deutschland, England, Schweden. In einer Art Ur-Katastrophe wirft sich die Mutter vor einen Zug, als die Geschwister noch Kinder sind. Ein Bruder, Juhani, hat Aids und lebt nur noch dank der Niere, die ihm der zweite Bruder, Tapani, gespendet hat. Dieser wiederum hat einen toten Sohn. Der dritte Bruder, Eino, ist mit 47 an einem Herzinfarkt gestorben. Auch Siskos Schwester, Mirja, der es in der Gegenwart am besten zu gehen scheint, hat viel Zeit in einer psychiatrischen Klinik verbracht, an Armen und Beinen gefesselt. Selbst die Randfiguren ereilt ein grausames Schicksal. Siskos Ex-Schwiegermutter, die nur auf ein paar Seiten vorkommt, entkommt ihrer erdrückenden Ehe erst durch einen Nervenzusammenbruch und stirbt schließlich in einer psychiatrischen Klinik. Man wünscht sich einen Fluch, eine strafende Macht, aber Lembcke bietet nichts davon. Das Wort "ungerecht" kommt nicht vor, als wäre das eine vollkommen unangebrachte Kategorie.
Wie sich hier herausstellt, gibt es noch etwas Nervenaufreibenderes, als von einem Roman bedrängt zu werden und zu glauben, er provoziere Rührung aufgrund einer von der Materie vorgegebenen, vorgefertigten Schwere: das Gegenteil von all dem. "Wir bleiben nicht lange" ist bevölkert von einer absurd hohen Anzahl an Leidenden, sträubt sich aber gegen jede Deutung dieses Leids, gegen jegliche Art von metaphysischem Halt. Allein unmittelbar Sterbenskranken wird dieser zugestanden, aber er ist eine Art Unzurechnungsfähigkeit: "Ob von Morphium und Wodka benebelt oder nur aus Verzweiflung", entwickelt Sisko in ihren letzten Tagen eine Vorliebe für Wunder und Zeichen, glaubt "ihr Schicksal sei bereits vor ihrer Geburt festgelegt worden, sie selbst habe sich die Eltern, ihr Leben ausgesucht". Das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der Dinge als Pathologie.
In seiner an Erbarmungslosigkeit grenzenden Unsentimentalität zieht der Roman den Leser hinein in ein moralisches Universum, in dem Erlösung unmöglich ist. Nichts weist darauf hin, dass sich ein Leben verändert oder jemand etwas über seinen Sinn erfahren hätte. Das Buch entfaltet aber auch eine subversive Kraft, indem es, in Abwesenheit spiritueller Erhöhung, Momente erhöhter Wahrnehmung bündelt, eine intensive Aufmerksamkeit für sich und andere erzeugt. So zum Beispiel bei Mirjas Exkursionen zu einem indischen Laden in der Nähe, wo sie Wodka, Bier und Saft kauft, ins Krankenhaus schmuggelt und genau so mischt, wie Sisko es gern hat.
In Lembckes radikaler Bereitschaft, die Wirklichkeit nicht zu erklären, sondern einfach auszuhalten, leuchtet eines immer wieder auf: Wahrheit. Als Sisko stirbt, ist Mirja nicht bei ihr. Wenn dies etwas zu bedeuten hat, dann nur, dass man in den wichtigen Momenten des Lebens auch nicht weniger versagt als in den unwichtigen. Es gibt Augenblicke rauher Zärtlichkeit, die jedoch sofort im Relativismus erstickt werden. Als Mirja Sisko aus "Jooseppi vom Lumpenstrand" vorliest, Ilmari Kiantos Roman aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert über einen armen finnischen Kleinbauern, der nach einem Leben in Notlage von einem Baum erschlagen wird, folgt auf das atemlose Pathos Kiantos nur die ultimative Einsamkeit des Einzelnen und eine so undurchschaubare Mehrdeutigkeit der Gefühle, dass noch nicht einmal die Erzählstimme sie endgültig zu dechiffrieren vermag: "Mirja stieg Wasser in die Augen", vielleicht aber "nur, weil sie müde war." Am Ende funktioniert der Roman wie eine Maschine, die auf die Produktion von Schmerz programmiert ist. Und kann deshalb weder auf die Figuren noch auf den Leser kathartisch wirken.
KATHARINA LASZLO
Marjaleena Lembcke: "Wir bleiben nicht lange". Roman.
Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2016. 192 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main