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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die argentinische Autorin Aurora Venturini erzählt die Lebensgeschichte einer ebenso exzentrischen wie hochintelligenten Rebellin.
Es ist kurios genug, dass eine Frau ihr Leben lang originelle literarische Texte hervorbringt, ohne dass der so gefräßige Kulturbetrieb das bemerkt. Und noch kurioser ist, dass sie bei einem eher für Nachwuchsautoren gedachten Wettbewerb zum ersten Mal einen bedeutenden Preis erhält und da schon 85 Jahre alt ist. Die argentinische Schriftstellerin Aurora Venturini ist 2007, acht Jahre vor ihrem Tod, für "Las primas" (Die Cousinen) von einer Zeitung in ihrem Heimatland ausgezeichnet worden. Der Roman kam auf Deutsch freilich erst 2022 heraus. Obwohl Johanna Schwering dafür von der Leipziger Buchmesse deren Übersetzerpreis bekam, hält sich die Aufmerksamkeit für Venturini hierzulande noch in Grenzen. Das könnte sich jetzt, mit der Veröffentlichung der deutschen Fassung des Schwesterwerks "Wir, die Familie Caserta", ändern. Dieser Roman war, auch dies ein Kuriosum, schon in den Sechzigerjahren entstanden, wirkt aber ähnlich modern wie "Die Cousinen".
Vieles an Aurora Venturini ist und bleibt geheimnisvoll. Geradezu obsessiv arbeitet sie sich an einer chaotischen, von schrägen bis monsterhaften Figuren bevölkerten Familie ab. In welchem Maß ihre Romane autobiographisch sind, lässt sich kaum abschätzen, weil viel zu wenig über ihr Leben bekannt ist. Sie selbst hat einiges unternommen, um Spuren zu verwischen, falsche Fährten zu legen und manche ihrer Lebenserfahrungen in ein Zwielicht von Realität und Phantasie zu tauchen. Dazu zählen etwa ihre vorgebliche Freundschaft mit der Präsidentengattin Eva Perón oder Verbindungen zum Kreis der Existenzialisten um Jean-Paul Sartre. Bei den immer wieder eingestreuten Gedichtzitaten - besonders gern Verse von Rimbaud - nimmt sie es mit der Authentizität nicht sehr genau.
In dem Caserta-Roman schildert Venturini die Lebensgeschichte eines Sprosses einer aus Sizilien in die argentinische Provinzhauptstadt La Plata eingewanderten Dynastie. Die autistisch veranlagte Icherzählerin Chela flüchtet sich in ihre eigene kleine Welt. Die richtet sie sich im Speicher des Hauses ein, und dort freundet sie sich mit einer Eule an. Überhaupt pflegt sie, die sich selbst als "ekelerregendes Viech" sieht, einen sehr menschlichen Umgang mit Tieren, später erwählt sie eine Schildkröte zu ihrer treuesten Gefährtin; als einziges ihr nahestehendes menschliches Wesen akzeptiert sie ihr behindertes Brüderchen.
Eine Idylle ist das Speicherexil keineswegs. Chela ist ein rebellisches, eigenbrötlerisches, exzentrisches Biest, aber auch hellwach und hochintelligent, durchaus ein bisschen so, wie sich die Autorin selbst gern dargestellt hat. Nur einmal verlässt Venturini die Icherzähler-Perspektive, wenn sie den längeren Bericht einer Erzieherin und Psychologin über die Entwicklung der kleinen Chela zitiert. Episodenhaft und etwas beflissen schildert sie danach, wie sich die heranwachsende junge Frau im Ausland - in Chile, auf der Osterinsel, in Paris, Madrid oder Rom - weiterbildet und mit ihrem Wissen zu brillieren weiß.
Schließlich trifft Chela in Sizilien ihre zwergwüchsige Großtante Angelina, und da verdichtet sich der Erzählfluss wieder zu einer Folge grandioser Sprachbilder. Von ihrer Verwandten wird sie in okkultistische Praktiken eingeführt, und bei der Gutsherrin entdeckt sie endlich auch das, was sie nach dem gescheiterten Versuch einer Liebesbeziehung zu einem verheirateten Mann nicht mehr zu finden glaubte: Zuneigung und sexuelle Erfüllung. "Und so schenkten wir einander Freuden, die so unvermutet wie unaussprechlich waren und mich heute reizen und brandmarken wie glühendes Eisen das Vieh."
Die deutsche Übersetzung von Johanna Schwering vermittelt präzise den ebenso lakonischen wie phasenweise schwärmerischen Erzählton, in den eine Fülle an delikaten, aber auch derben, einfühlsamen, aber auch unflätigen Sprachbildern eingebettet ist. Gelegentlich stolpert man allerdings über eine merkwürdige Wortwahl, wenn es etwa für "cataplasma" (Nervensäge, Quälgeist) "Deibelkopf" heißt, oder über falsche Verbformen wie "striff" statt "streifte". In einem ausführlichen Nachwort legt Schwering freilich ausgiebig Rechenschaft über ihre Übersetzung ab und gibt viele Hintergrundinformationen zu Leben und Werk von Aurora Venturini.
Viele Passagen des Romans, vor allem die sehr explizite Beschreibung des lesbischen Liebesabenteuers gegen Ende hätten im Argentinien der Sechzigerjahre sicher Staub aufgewirbelt - wenn der Roman damals einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden wäre. Heute noch sind gerade diese Szenen ein eindrucksvoller Nachweis für das frühe Talent dieser rätselhaften argentinischen Autorin. JOSEF OEHRLEIN
Aurora Venturini: "Wir, die Familie Caserta". Roman.
Aus dem Spanischen von Johanna Schwering. Dtv, München 2024. 240 S., geb., 24,- Euro.
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