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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Tash Aws Roman "Wir, die Überlebenden" lehrt uns in Konfrontation mit einem Mann, der zum Verbrecher wurde, die eigene Identität erkennen
Wer ist Ah Hock? Ein Fischer, ein Farmer, ein Ehemann, ein Arbeiter, ein Freund, ein Mörder? Ein Überlebender? Das erfahren wir nur langsam und vor allem von ihm selbst. Und doch bildet sich am Ende von Tash Aws Roman "Wir, die Überlebenden" ein umfassendes Bild vom Leben eines Mannes bis hin zu jenem Tag, an dem er einen Bangladeschi tötet, was erst den Anlass für das Buch gibt.
Der Mord, den der Protagonist Ah Hock begeht (diesen Namen erfahren wir erst spät), ist - ohne zu viel von Aws großartigem Roman vorwegzunehmen - der Grund, warum er von einer jungen Malaysierin aufgesucht wird. Sie ist Journalistin und möchte ihn ausgiebig interviewen.
Aber warum? Sie kann es nicht so recht erklären, und ihm ist der Grund gleichgültig, denn er erzählt ihr alles, was ihm durch den Kopf schießt. So bekommt der Leser immer wieder Einblicke in die Beziehung zwischen dem Mann, der seine dreijährige Haftstrafe im Jetzt des Romans schon abgeschlossen hat, und der jungen Frau, die keine Kohlenhydrate isst, die mit einer Frau zusammenlebt, die gegen die Korruption in ihrem Land kämpfen möchte und die, im Gegensatz zu den meisten Figuren dieses Buchs, in relativem Wohlstand aufgewachsen ist. Es ist diese junge Journalistin, die uns in die malaiische Welt von Ah Hock einführt. Diese ist geprägt von Rassismus gegenüber Arbeitsmigranten und von den Auswirkungen der Globalisierung auf der anderen Seite des Erdballs.
Aw hat dem Roman einen protokollartigen Charakter gegeben. So sind die Kapitel in Daten zwischen Oktober und Januar eingeteilt und stellen wohl die jeweiligen Gespräche der jungen Frau mit Ah Hock dar. In den Sitzungen spricht er über alles, und auch wenn es am Anfang noch nicht klar ist, hat alles irgendwie mit dem Mord zu tun. Die Kapitel sind aus Ah Hocks Sicht geschrieben, und doch weiß man um den protokollarischen Charakter des Buchs recht schnell. Denn Ah Hock spricht sein Gegenüber immer wieder direkt an, sodass man als Leser den Eindruck bekommt, man selbst wäre damit gemeint, zumal wir, weitaus mehr als die junge Frau, Vertreter der westlichen Welt sind.
Und dann gibt es noch Zwischenkapitel ohne Überschrift, in denen Ah Hocks Gedanken ohne Protokoll dastehen. Ein Element, das das Buch umso lesenswerter macht, denn es durchbricht den Strudel an Erinnerungen, lässt Spannung aufkommen, denn Gedanken, die erwähnt werden, werden manchmal erst siebzig Seiten später wieder aufgegriffen.
Durch diese Zwischenkapitel erfährt der Leser auch von der sich anbahnenden Freundschaft zwischen der jungen Frau und dem Protagonisten. Nur häppchenweise erfahren wir jedoch etwas über ihr Leben. Im letzten Viertel des Romans wird die Freundschaft auf eine Art Metaebene gehoben: Die junge Frau eröffnet Ah Hock, dass sie ein Buch aus seiner Geschichte machen möchte. Auf die Frage, was für ein Buch das sein solle, sagt sie: "Es ist ein bisschen schwierig zu definieren. Ein Mittelding zwischen einer Biographie und Journalismus. Ein erzählendes Sachbuch. Oder vielleicht ein wahres Verbrechen, nur, na ja, anders eben." Vielleicht trifft diese Bezeichnung den Kern des Genres am besten.
Die Erzählungen von Ah Hock beginnen zunächst banal. Dass er einen Mord begangen hat, bleibt zwar kein Geheimnis: Er spricht seine Zeit im Gefängnis mehrmals an und erklärt, wie sein Leben mittlerweile aussieht. Aber um den Mord zu verstehen, braucht es nicht nur die Episoden aus seinem Leben, sondern auch die aus dem seines alten Schulfreundes Keong.
Keong zieht im späten Teenageralter mit seiner Mutter in das Dorf Klang, in dem auch Ah Hock mit seiner Mutter wohnt. Beide träumen davon, einmal in Kuala Lumpur viel Geld zu verdienen. Keong hat diese Erfahrung schon gemacht, kommt als Rebell nach Klang und findet nur einen einzigen Freund unter den Dorfbewohnern, nämlich Ah Hock. Eine Freundschaft, die Ah Hock in seinen Erzählungen bereut, so wie er alles bereut, was mit Keong zu tun hat. Die Wege der beiden kreuzen sich nach der Schulzeit immer wieder. Während kontaktloser Zeiten scheint Ah Hock mit seiner Vergangenheit im Reinen, hat überwunden, dass sein chinesischer Vater ihn als Kind verlassen hat, dass seine Mutter und er sich allein in dem malaiischen Dorf durchgeschlagen haben, bis sie schließlich an Krebs gestorben ist, für dessen Behandlung kein Geld da war.
Er findet eine Arbeit bei einer Fischfarm, heiratet die Halbchinesin Jenny und träumt mit ihr. Auch Jenny ist mehr als nur eine blasse Figur; wir lernen sie als starke, unabhängige Frau kennen, die ihren Mann mit seinen Problemen alleinlässt. Denn Ah Hock ist zu nett zu den indonesischen Arbeitern einer Fischfarm, hat zu viel Mitleid, wenn sie auch einmal krank werden, und weigert sich zunächst, Bangladeschis einzustellen, obwohl Keong ihm erklärt: "Zwei Bangladeschis kosten genauso viel wie ein Einheimischer." Keong wiederum fungiert mittlerweile als Mittelsmann - er selbst nennt es "Makler" - für billige Arbeitskräfte aus umliegenden Ländern.
Ah Hocks Nettigkeit wird ihm zum Verhängnis, und irgendwann resultiert aus einem Dominoeffekt von Ereignissen, deren Ursprung die Freundschaft mit Keong ist, der Mord. Während des Lesens ist es, als würden die Leser ihre eigene Reflexion in einem Fischteich sehen, der als Spiegel der globalisierten Gesellschaft dient. Dadurch können sie erkennen, was es bedeutet, wenn die Europäische Union plötzlich auf Palmöl verzichtet oder die USA beschließen, keine Gummihandschuhe mehr aus Malaysia importieren zu wollen.
Es bedeutet Arbeitslosigkeit vom einen auf den anderen Tag für Menschen, die die Sprache des Landes, in dem sie arbeiten, gar nicht verstehen und im Normalfall auch keine Papiere haben. Dass Menschen vielleicht umsonst ins Land geschmuggelt wurden und erst mal Monate in einer schlammigen Unterkunft verbringen müssen, bis sie zu krank sind, um ihren eigentlichen Zweck zu erfüllen - sofern sie nicht schon auf dem Fluchtweg aus ihrer Heimat gestorben sind.
Doch diese Realität ist nicht nur dem Leser unbekannt. Auch die junge Malaysierin, die in New York studierte, hat, wenn überhaupt, nur eine vage Ahnung von alldem. Ah Hock will mit ihr darüber sprechen: "Trotzdem erzähle ich ihr genau das, was ich von dem ausländischen Hilfsarbeiter erfuhr. Wie die Menschenschmuggler seiner toten Frau den Bauch aufschlitzten, damit die Leiche sich nicht aufblähte wie ein Ballon und auf dem Wasser trieb, nachdem sie sie über Bord geschmissen hatten . . . Ich wollte, dass sie diesen Schmerz mit mir teilte, dass er in ihre Welt drang, in ihre saubere, glückliche Welt."
Ah Hock steht zwar eine Stufe über diesen Arbeitsmigranten, denn er ist immerhin zur Hälfte Einheimischer, aber er kommt mittellos zur Welt und bleibt es auch fast die ganze Zeit. Und auch wenn er zum Mörder wird, zeichnet Tash Aw mit ihm einen Menschen, den man am Ende kennt und mit dem man einfach mitleiden muss. ANNA FLÖRCHINGER
Tash Aw: "Wir, die Überlebenden". Roman.
Aus dem Englischen von Pocaio und Roberto de Hollanda. Luchterhand Literaturverlag, München 2022. 416 S., geb., 24,- Euro.
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