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In seinem Thriller „Wir, die süßen Schlampen“ lässt Zoran Drvenkar fünf junge Frauen von
ihrer neuen Freiheit erzählen – in einem Berlin, das von Männern und ihren Gangs dominiert wird
VON FRITZ GÖTTLER
Vorbei ... Mit einem kleinen Tattoo geht es los, aufs Handgelenk gemalt, da wo der Puls gemessen wird. Vorbei, das meint, der letzte Schultag ist da, endlich, Schluss mit Stress und Langeweile, für Stinke, Nessi, Rute, Schnappi und Taja, die sich als die „süßen Schlampen“ bezeichnen, selbstsicher und sehr kokett: „Wir sind zwar Schlampen, aber dafür sind wir süß.“ Fünf Berliner Girls im Alter von sechzehn, treu verschworen, meistens über die sozialen Medien, fünf Blutsschwestern, es gilt die Musketier-Parole. Sie versuchen die neue Freiheit in Worte zu fassen – Geilheit oder Tempo oder Rausch: „Du willst das Jetzt.“
Vorbei, das heißt, erst mal abhängen, ein wenig über die Zukunft reflektieren soziales Jahr oder ein Beruf. Man geht ins Kino, plagt sich ab mit Jungs, die nur müden Sex zustande bringen, diskutiert über Klamotten oder „Epolotion“ (oder wie auch immer das heißt). Eine denkt – die Mutter ist Vietnamesin – an die Heimat, eine andere befürchtet, dass sie schwanger ist. Und dann ist da der Stress mit Taja, die sich einige Tage nicht meldet. Über sie kommen die Mädchen mit der Realität der Berliner Straßen in Kontakt,Bandenkriminalität, Drogenhandel, Zwangsprostitution, Mädchenhandel. Taja reagiert mit Scham und Verzweiflung, lässt sich auf Heroin ein. Die andern müssen ihr beim Entzug helfen, und beim Versuch, das Unrecht gutzumachen, das sie verursacht hat.
Die fünf Schlampen tauchten zuerst in Zoran Drvenkars Thriller „Du“ auf, in einem Nebenplot, und er wurde sie nicht mehr los, fasziniert von ihrer Lebenslust und Konsequenz: „Wir Mädchen bezahlen für unsere Fehler.“ Wenn sie von sich selbst als Schlampen sprechen, klingt der Begriff nicht mehr pejorativ. Drvenkar lässt sie reihum erzählen, mit Lust nutzt er die Möglichkeiten der weiblichen Perspektive, ihr Erzählen ist offener, derber, energischer, sie sind schlagfertig und gewitzt, fantasievoll und vulgär, da ist mehr Selbstironie drin und weniger Larmoyanz, als wenn Männer erzählen. Selbst wenn sie uns einwickeln mit ihrer Rhetorik, ist das sympathisch: „Ich weiß, du bist jetzt verwirrt, und es tut mir leid ... Wer will schon ohne Vorwarnung in der Hölle landen, richtig?“ Eine Leichtfertigkeit zeichnet sie aus, selbst in den brutalen Szenen im Gangmilieu. Naivität ist ihr Schutzschild, ein Schild aus Sprache, und irgendwie gilt das auch für den Erzähler Drvenkar.
Es kommen auch Jungen und junge Männer zu Wort, aber die sind eingespannt in ihre Gruppen und Gangs und deren Mythos, da sind dann sofort Väter oder Onkel im Spiel, Rituale und Pflichten, ein Machokodex. Einer muss den Vater in seinen Jaguar packen und an einem Sommerabend durch Berlin fahren, mit offenem Verdeck, John Coltrane spielt „Stardust“. Der Mann ist gelähmt: „Mein Vater sitzt da, als wäre er zu Besuch in einem Traum.“
Die Freiheit der Schlampen ist durch und durch märchenhaft, eine Männerfantasie: wie man sein Leben selbstbestimmt führen kann. „Mein Leben war bisher eine klare Linie, der ich brav gefolgt bin“, reflektiert Nessi. „Schule und noch mal Schule, meine Freundinnen und ich. Jetzt aber kommt das wahre Leben ... Es wird keine Linie sein. Es wird Kurven machen und Haken schlagen, es wird zwischendurch einfach einknicken und dann wieder hochschießen. Genau so stelle ich mir das Leben vor. Unberechenbar ... ich brauche auch keine Sicherheiten, ich brauche nur das Gefühl, dass alles möglich ist. (für junge Erwachsene)
Zoran Drvenkar: Wir, die süßen Schlampen. Thriller. Beltz & Gelberg, Weinheim 2022. 480 Seiten, 20 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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