Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Albert Schweitzer sinnt auf Wege aus der demographischen Krise
Wer in den fünfziger Jahren zur Schule gegangen ist, hatte kaum eine Chance, um Albert Schweitzer (1875 bis 1965) herumzukommen. Er war Theologe, Philosoph und Gelehrter, schrieb eine "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung", war Musikwissenschaftler und Orgelvirtuose. Seit 1905 studierte er Medizin, um in Afrika als Arzt und Missionar arbeiten zu können. Ich entsinne mich, wie unser Religionslehrer mit einem Flackern in den Augen sagte: Er hatte hier doch alles, er hätte sogar Professor werden können; er aber ging nach Lambarene. Das galt als unwiderlegbares Argument für seine Nachfolge Christi.
Nun liegt ein Manuskript aus dem Nachlaß vor, das zu großen Teilen während des Ersten Weltkrieges entstanden ist, Überschneidungen mit Gedanken in bereits publizierten Texten nicht ausschließt, als Corpus aber doch eigenständig ist. Leitmotiv ist das Epigonentum. Das Wort "Epigone" - seltsamerweise fällt nirgends ein Verweis auf den Roman von Karl Immermann aus dem Jahre 1836 - dringt dem Schüler und dem späteren Studenten immer wieder ins Bewußtsein. Es bezieht sich bei Schweitzer aber nicht auf das Ende der Goethezeit, sondern auf den Tod des alten Kaisers Wilhelm I. im Jahre 1888. Mit Grausen habe er als Knabe daran gedacht, daß die Zeit der großen Helden nun vorbei sei. Im Hause Curtius in Berlin habe er es 1899 dann wieder gehört: "Das hilft alles nichts, wir sind doch nur Epigonen."
Der Niedergang der Kultur scheint unaufhaltsam. Schweitzer untersucht seine Gründe. Den Kulturbruch setzt er in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an: Die große Philosophie des Deutschen Idealismus ist am Ende und die gesellschaftlichen Umwälzungen im industriellen Kapitalismus begründen eine neue Knechtschaft. Der steigende Einfluß der Masse hemmt die Kultur. "Es ist nicht zufällig, daß der Niedergang in der Periode beginnt, in der das demokratische Regiment sich in den Kulturstaaten allgemein durchzusetzen beginnt."
Der moderne Massenmensch ließ sich einfangen von dem katastrophischen Triumvirat Nationalismus, Militarismus und Klerikalismus, die die Völker aufeinanderhetzen und die Urteilskraft verdunkeln. Schweitzer muß konstatieren, daß alle am Krieg beteiligten Nationen behaupten, gerade diese Katastrophe sei der Anfang einer Regeneration. Dem sucht Schweitzer eine wirkliche Regeneration entgegenzusetzen: er kann sie nur vage umreißen als eine künftige Weltkultur jenseits der hoffnungslos verfeindeten nationalen Kulturen; betont aber die Schwierigkeiten ihrer Realisierung. Erfordert wäre geistige Freiheit; die Abhängigkeit und die unselbständige Art der Beschäftigung verhindern aber alle geistige Betätigung in der Ausbildung einer Idee der Menschheit. Diese nur gefühlsmäßig zu erreichen wie im Christentum führt nicht weiter, sie sei zu einer "bloß historischen Religion" geworden, die mit den Verhältnissen in Widerspruch stehe. So ähnlich hatte das Ludwig Feuerbach auch schon gesagt.
Schweitzer setzt auf sittliche Persönlichkeiten, die "Vielen" müssen zu denkenden Menschen werden. Mitwirken sollen in diesem Prozeß Kirche, theologische Fakultäten und die Schule. Die Schule überhaupt sollte demokratisiert werden, wenigstens in den ersten Schuljahren, dann könnten doch die bessergestellten Bürgerkinder von ihren Kameraden erfahren, was Not, Hunger und Kummer ist. Wenn er auf die sinkende Geburtenrate in den europäischen Staaten zu sprechen kommt, blitzt plötzlich seine Erfahrung aus anderen Kulturen durch: Die Polygamie kommt mit dem "natürlichen Rhythmus der Geburten" viel besser zurecht; denn von der Frau wird nicht verlangt, daß sie Gattin und Mutter zugleich ist. Sie kann sich eine Zeitlang dann ganz dem Kinde widmen, weil andere Frauen den Platz der Gattin einnehmen.
So räsoniert der gelehrte Epigone vor sich hin; daß seine in alle Richtungen ausschweifenden Aufzeichnungen mit Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes" vergleichbar sein könnten, wie das Vorwort nahelegt, ist gänzlich unbegründet. Denn Spengler forderte ein herrisches Ja-Sagen zur endzeitlichen Zivilisation im Kreislauf seiner Kulturtheorie. Er hat festgefügte Thesen, mit denen er das deutsche Volk wieder "in Form" bringen will. Davon kann bei Schweitzer keine Rede sein. Hier blicken wir in die Gedankenwerkstatt eines Theologen, der die vermeintliche Sekurität des Wilhelminischen Kaiserreiches durchschaut hat, vom Weltkrieg erschüttert ist und nun nach Orientierung sucht, dessen Originalität sich aber in Grenzen hält. Ähnliches kann man auch anderswo lesen.
Ein 1927 gehaltener Vortrag über die "Beziehungen zwischen den weißen und farbigen Rassen" sieht es als die Tragik, daß zivilisatorische und koloniale Interessen sich widersprechen. Dabei sind die Afrikaner aber nicht Opfer en bloc, sondern es gibt durchaus Gewinner und Verlierer. In allen Kolonien wird Zwangsarbeit geleistet; zwar werden die Dörfer dafür bezahlt, sie können sich aber nicht verweigern. Das Geld fließt dem Häuptling und seinen Frauen zu. Die Männer sind es gewohnt, daß ihre Frauen auf den Plantagen arbeiten. Warum sollen sie dann nicht auch zum Straßenbau herangezogen werden? Schweitzer fordert, Frauen nur dann zu beschäftigen, wenn die Arbeit in der Nähe der Dörfer ist, so daß sie nachts zu Hause schlafen können, wenn keine Plantagenarbeit notwendig ist und wenn sie kein Kind an der Brust haben. Kinderarbeit ist zu verbieten, und das Arbeitstempo darf nicht übertrieben werden. Diese kleine Aufzählung sagt mehr zum Epigonalen als ganze Abhandlungen.
HEINZ DIETER KITTSTEINER
Albert Schweitzer: "Wir Epigonen". Kultur und Kulturstaat. Werke aus dem Nachlaß. Hrsg. v. Ulrich Körtner und Johann Zürcher. C.H. Beck Verlag, München 2005. 416 S., 2 Abb., geb., 59,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH