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»Judith Hermanns Bücher sind unbeirrbare Erkundungen der menschlichen Verhältnisse« Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung Eine Kindheit in unkonventionellen Verhältnissen, das geteilte Berlin, Familienbande und Wahlverwandtschaften, lange, glückliche Sommer am Meer. Judith Hermann spricht über ihr Schreiben und ihr Leben, über das, was Schreiben und Leben zusammenhält und miteinander verbindet. Wahrheit, Erfindung und Geheimnis - Wo beginnt eine Geschichte und wo hört sie auf? Wie verlässlich ist unsere Erinnerung, wie nah sind unsere Träume an der Wirklichkeit. Wie in ihren Romanen und…mehr

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Produktbeschreibung
»Judith Hermanns Bücher sind unbeirrbare Erkundungen der menschlichen Verhältnisse« Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung Eine Kindheit in unkonventionellen Verhältnissen, das geteilte Berlin, Familienbande und Wahlverwandtschaften, lange, glückliche Sommer am Meer. Judith Hermann spricht über ihr Schreiben und ihr Leben, über das, was Schreiben und Leben zusammenhält und miteinander verbindet. Wahrheit, Erfindung und Geheimnis - Wo beginnt eine Geschichte und wo hört sie auf? Wie verlässlich ist unsere Erinnerung, wie nah sind unsere Träume an der Wirklichkeit. Wie in ihren Romanen und Erzählungen fängt Judith Hermann ein ganzes Lebensgefühl ein: Mit klarer poetischer Stimme erzählt sie von der empfindsamen Mitte des Lebens, von Freundschaft, Aufbruch und Freiheit.

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Autorenporträt
Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt »Sommerhaus, später« (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien »Alice«, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, »Aller Liebe Anfang«. 2016 folgten die Erzählungen »Lettipark«, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. 2021 erschien der Roman »Daheim«, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, und für den Judith Hermann mit dem Bremer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien 2023 bei S. FISCHER »Wir hätten uns alles gesagt«, basierend auf den Frankfurter Poetikvorlesungen, die Judith Hermann im Frühjahr 2022 hielt. Dafür erhielt sie den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. Literaturpreise: Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2023 Preis der LiteraTour Nord 2022 Bremer Literaturpreis 2022 Rheingau Literatur Preis 2021 Blixenprisen 2018 für »Lettipark« Erich-Fried-Preis 2014 Friedrich-Hölderlin-Preis 2009 Kleist-Preis 2001 Hugo-Ball-Förderpreis 1999 Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 1999
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension

Im besten Sinne "ziemlich uncool" findet Rezensent Dirk von Petersdorff Judith Hermanns Frankfurter Poetikvorlesungen, die ihm einen Einblick geben in die schöpferische Kraft, die die Autorin dem Erzählen idealistisch zuschreibt. Dass sie zwischen Erzähldrang und dem nicht Sagbaren einen Kompromiss findet und von ihrer schwierigen Kindheit, einer Psychoanalyse oder einem verstorbenen Freund schreibt und den eigentlichen Kern des Geschehen dabei immer nur umreißen kann, macht für ihn eine große Faszination und Stärke in Hermanns Werk aus. Auch wenn die Vorlesungen private Themen behandeln, sind für Petersdorff dennoch in vielerlei Hinsicht auch allgemeinere Schlussfolgerungen und Gegenwartsdiagnose möglich. Den Auftrag, mit ihren Poetikvorlesungen "Interessantes zur Gegenwartsliteratur" beizutragen, hat sie auf jeden Fall erfüllt, findet er.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2023

Das Verschweigen des Eigentlichen
Auf der Suche nach den Quellen ihres Sounds: Judith Hermanns Frankfurter Poetikvorlesungen

Seit Beginn ihrer literarischen Laufbahn wird Judith Hermann ein besonderer Sound zugeschrieben. Ihrer Ausdrucksweise haftet trotz zahlreicher Analysen, Besprechungen, Lesungen und Interviews stets etwas Unergründliches an, und es scheint ihr gelungen zu sein, das als stilistisches Wiedererkennungspotential für sich wirksam zu machen. Aus diesem Grund dürfte den Frankfurter Poetikvorlesungen Hermanns - die schon als Veranstaltungen im Mai 2022 gut besucht waren und jetzt unter dem Titel "Wir hätten uns alles gesagt" erschienen sind - größere Aufmerksamkeit zuteilwerden. Sie könnten über Literaturkritik und -wissenschaft hinaus Hermanns große Leserschaft interessieren: auf der Suche danach, was den Sound ihrer gefeierten Autorin ausmacht.

Bereits Hermanns literarisches Debüt "Sommerhaus, später" brachte 1998 die deutsche Literaturszene in Aufruhr, paradoxerweise durch den auffallend ruhigen Erzählton. Noch dazu geschrieben von einer jungen Frau! Man sprach mit einem Fünfzigerjahre-Begriff vom "Fräuleinwunder". Doch trotz allen Zweifels daran, dass auch junge Frauen zu großer Literatur fähig sind, hörte Hermann nicht mit dem Schreiben auf. Nach zwei weiteren Erzählbänden erschien 2014 ihr Romandebüt, "Aller Liebe Anfang", 2016 der Erzählband "Lettipark" und 2021 ihr jüngster Roman "Daheim".

Zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum von Hermanns Debüt lädt diese Veröffentlichung nun dazu ein, der Autorin am Schreibtisch über die Schulter zu schauen. Als intime Werkstattführung inszeniert Hermann die Poetikvorlesungen jedenfalls im Vorwort: "Die Arbeit an dieser Vorlesung ist nicht einfach gewesen. Auf dem Weg von ihrem Anfang bis zu einem Ende hin ist unerwartet Privates im Text aufgetaucht, es wird sich zeigen, ob das zu bereuen ist." Tatsächlich sind einige aufgenommene Erinnerungen ausgefallen persönlich für diese Autorin.

In gewohntem erzählerischen Duktus erzählt Hermann Geschichten aus ihrer Kindheit, jungen Erwachsenenzeit und auch jüngsten Vergangenheit während der Pandemie in deren Frühphase 2020. Es geht beispielsweise um die Wohnung, das "Trauerhaus", in dem sie als Kleinkind gelebt hat, zusammen mit ihrer Brotsuppe kochenden russischen Oma, dem manisch-depressiven Vater und der meist abwesenden Mutter, die sich um den Verdienst der Familie kümmerte. Die Wohnung erlebte Hermann dabei als Geheimnis, was zum einen daran lag, dass alles mit rätselhaften Dingen vollgestellt war, zum anderen daran, dass ihr Vater ihr mit großer Ernsthaftigkeit Geistergeschichten erzählte wie die vom "Untermieter, einem Kleinwüchsigen", der im Hängeboden lebte. Die ihr vom Vater gebaute Puppenstube war dann eine Art Urgeschichte für Hermann, sie vermutet, dass "alle meine Geschichten in der Puppenstube angefangen haben". Solche Kindheitserinnerungen sind für ihr Schreiben bedeutsam: "Mein Schreiben ist an diese frühen Jahre gebunden."

Spätere Geschichten aus ihrem Leben handeln etwa davon, wie sie ihren Psychoanalytiker nach abgeschlossener Behandlung zufällig in einer Kneipe wiedertrifft. Mit der Erinnerung an diese Begegnung eröffnet Hermann ganz unvermittelt die Vorlesungen und führt damit beispielhaft aus, wie ihre Geschichten vom eigenen Leben inspiriert sind. Ihr "Schreiben imitiert Leben", allerdings nicht dokumentarisch als exakte Übernahme, vielmehr als Inspiration für ein Motiv, eine Figur oder ein Ereignis. Der Analytiker sei die Vorlage für die Figur des Dr. Gupka in der Erzählung "Träume" aus "Lettipark" gewesen, und als Hermann ihrem Analytiker wiederbegegnete, wollte sie von ihm erfahren, was er von der Erzählung über ihn halte. Sein Fazit bringt Hermanns Autofiktionsverständnis auf den Punkt: "Was für eine unermüdliche Detailarbeit, alles so geschickt zu entfremden, zu entstellen, dass am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr."

Die Geschichten zu "Menschen und Situationen, die das Schreiben beeinflusst haben", in den Poetikvorlesungen, seien solche, die Hermann nicht literarisch verarbeiten konnte. Absurderweise sagen gerade diese nicht geschriebenen Geschichten etwas über ihr Schreiben aus; die Poetikvorlesungen bestimmen den Erzählstil ex negativo. Das führt zu Hermanns zentralem poetischen Prinzip: den Leerstellen. Es sind diese mit den Worten der Autorin "Geheimnisse" oder "Gespenster", die Geschichten erzählenswert machen, ihnen die Eindeutigkeit nehmen und eine Interpretation vonseiten der Leser ermöglichen oder sogar erzwingen. Und einige Situationen oder Geschichten aus Hermanns Leben enthalten dieses Potential zur Leerstelle eben nicht: "Sie haben kein Geheimnis. Sie sind eindeutig, eine Wahrheit, an diesen Sätzen gibt es nichts zu rütteln."

Wie treffsicher Hermanns Leerstellen-Prinzip funktioniert, lässt sich an ihrem letzten Roman "Daheim" erkennen. Bereits in der Rahmenerzählung, in der die Hauptfigur von ihrer Tätigkeit in einer Zigarettenfabrik und dem Angebot, als Assistentin eines Zauberers nach Singapur zu fahren, erzählt, tut sich eine Lücke nach der anderen auf. Warum die Protagonistin handelt, was ihre Motive sind, bleibt offen - angefangen bei ihren Lebens- und Arbeitsumständen hin zu dem Umstand, dass sie bereitwillig eine Probe als Zauberassistentin mitmacht, ihre Sachen für Singapur packt, die Wohnung ausräumt und sich schließlich doch gegen die Reise entscheidet. Hermann überlässt die Ausgestaltung der Antwort ihren Lesern.

Auch in ihren Poetikvorlesungen bleiben einige Leerstellen offen. Hermann verliert beispielsweise kaum ein Wort darüber, dass es meist die kurzen Formen sind, die ihr Schreiben bestimmen. Das "Befreiende, Beglückende" an diesen kürzeren Erzählungen gegenüber dem Roman benennt Hermann zwar, aber führt es kaum aus, verweist nur auf ihre bereits bekannten angloamerikanischen Vorbilder Hemingway, Carver und Updike oder das spezifische "scharf gestellte, frostige Schlagschlicht einer Short Story, die irgendwo beginnt, etwas einfängt, wieder abbricht, bevor es zu Conclusion und Fazit kommen kann". Doch zu mehr als diesen knappen Umschreibungen kommt es nicht. Warum Hermann die kurze Form bevorzugt, verrät sie nicht. Ähnlich verhält es sich mit ihrem Bezug zur Lyrik: Die Autorin erzählt auch von Gedichten, die Menschen beeinflusst haben, so beispielsweise ein Vers aus Gottfried Benns "Rauhreif". Warum Hermann allerdings selbst das narrative Schreiben dem poetischen vorzieht, bleibt vage.

Etwas konkreter wird die Autorin, wenn sie ihren Schreibprozess, insbesondere die Entstehung einer Geschichte, beschreibt, die bei ihr immer über einen Initialsatz führt: "Ich höre diesen Satz, und das Hören ist begleitet von einer nur sekundenlangen, aber eindeutigen und unmittelbar körperlichen Empfindung." Hermann findet also intuitiv zu ihren Erzählstoffen, indem sie ein Motiv aus ihrem Leben aufgreift und es zur Geschichte ausbaut. Der Satz stellt dann im Verborgenen einen Teil ihrer Geschichte dar, denn sie möchte ihn als Kern ihrer Erzählungen "zeigen und zugleich verbergen"; was schließlich dazu führt, dass Hermanns Literatur Wesenszüge eines Rätsels annimmt beziehungsweise eines "geteilten Rätsels" - wenn ihre Leser den Initialsatz gefunden haben.

Ein Motiv, auf das Hermann oft zurückgreift, ist die Parallelisierung vom Schreiben und Träumen. Ihr Schreibimpuls begründe sich durch ihre Traumlosigkeit: "Oder andersherum - vielleicht träume ich nicht, weil ich schreibe." Hier schließt sich der Kreis, denn das träumerische Schreiben Hermanns begründet wiederum ihr Verständnis von autofiktionaler Literatur, die sich einerseits am eigenen Leben orientiert und andererseits Leerstellen offen-, Geheimnisse und Gespenster verborgen lässt.

"Das Verschweigen des Eigentlichen zieht sich durch alle Texte" - daraus folgt der Untertitel der Poetikvorlesungen "Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben". Doch obwohl Verschwiegenheit in diesem Genre eher untypisch ist, sind Hermanns Poetikvorlesungen erzählerisch und stilistisch gelungen und seien jedem empfohlen, der auf der Suche danach ist, was den typischen Hermann-Sound ausmacht. EMILIA KRÖGER

Judith Hermann:

"Wir hätten uns alles gesagt".

Verlag S. Fischer,

Frankfurt am Main 2023. 187 S., geb., 23,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2023

Die Offenbarung
In ihrem neuen Buch geht Judith Hermann klug und poetisch
dem Zauber ihres eigenen Schreibens auf den Grund
VON SIGRID LÖFFLER
Wer im vergangenen Mai die Frankfurter Poetikvorlesungen Judith Hermanns versäumt hat, der kann sie jetzt in Buchform nachlesen. Und wird schnell merken, wie sehr diese oft überschwänglich gepriesene und kultisch verehrte, aber auch boshaft bespöttelte Berliner Erzählerin ihre suggestiven Methoden inzwischen verfeinert hat. In ihrem siebenten Buch, nach vier Bänden von Short Storys und zwei kurzen Romanen binnen 25 Jahren, führt die inzwischen 53-jährige Autorin die Stärken und Schwächen ihres lakonischen Erzählstils so selbstgewiss vor, dass die oft beanstandeten Defizite ihres Schreibens als dessen eigentliche Vorzüge erscheinen.
Gleich eingangs beteuert das erzählende Ich dieser drei langen Texte: „Ich schreibe über mich. Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht“ – nur, um dieses scheinbar treuherzige, fast einfältige Bekenntnis im Folgenden auf immer raffiniertere Weise zu relativieren, zu unterminieren, infrage zu stellen, zu verrätseln und schließlich zu widerrufen. Womit wir es bei diesen jede Genre-Zuordnung sabotierenden drei Prosastücken zu tun bekommen, ist eine trickreiche literarische Darbietung des Enthüllens und Verbergens, des versteckten Zeigens und offenbarenden Verhehlens. Der Blick in Judith Hermanns literarische Werkstatt wird zugleich behauptet und verwehrt.
Indem dieses Ich so tut, als wären ihm hier zur eigenen Überraschung autobiografische Bekenntnisse unterlaufen – es sei „unerwartet Privates im Text aufgetaucht“, wird einleitend versichert –, lässt Judith Hermann den Leser an diesem Versteckspiel der kontrollierten Selbstpreisgabe teilhaben und warnt ihn gleichzeitig, es handle sich nur um kunstvolle Ablenkungsmanöver: „Ein Zaubertrick – der Leser sieht dem Hokuspokus des Zauberers zu und verpasst den Trick. Ich erzähle von meiner Psychoanalyse und gebe sie an eine Figur ab, die ist, wie ich immer sein wollte, niemals war oder sein werde.“
Wir erfahren, dass diese Ich-Figur zehn Jahre lang bei einem Berliner Psychoanalytiker am Prenzlauer Berg auf der Couch lag. Zwei Jahre, nachdem sie ihre vielhundertstündige Analyse bei diesem Dr. Dreehüs abrupt beendete, begegnet sie ihm unverhofft eines Nachts auf der Straße und setzt sich spontan auf ein paar Gin Tonics mit ihm in einer Kneipe zusammen. Wie sich herausstellt, ist Autoreneitelkeit das eigentliche Motiv dieses nächtlichen Gesprächs mit ihrem alten Analytiker.
Sie hatte ihm seinerzeit ihren Erzählungsband „Lettipark“ samt Widmung in den Briefkasten gesteckt, in der Hoffnung, er werde sich in dem Analytiker Dr. Gupta in der Short Story „Träume“ wiedererkennen, doch Dr. Dreehüs hat nie reagiert. Auf Nachfrage beteuert er nun, er habe den Band nie erhalten, werde ihn aber sofort kaufen und lesen. Das verschafft Judith Hermanns Erzählerin die Genugtuung, ihm das schmeichelhafteste Eigenlob in den Mund zu legen: „Er schrieb – ich zitiere – was für eine unermüdliche Detailarbeit, alles so geschickt zu verfremden, zu entstellen, dass am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr.“
Bei diesem skurrilen Präludium, von dem nie ganz klar wird, ob es sich um unfreiwillige oder selbstironische Komik handelt, schließlich steht Judith Hermann nicht im Rufe besonderen Humors, sollte man der Autorin nicht auf den Leim gehen: Dr. Dreehüs ist eine literarische Figur, genau wie Dr. Gupta. Judith Hermann lässt seinen biografischen Realitätsgrad geschickt im Ungewissen.
Und damit leitet sie über zum eigentlichen Hauptthema ihrer Poetikvorlesungen – der Erörterung der verstörenden Familiengeschichte ihrer Ich-Figur und der spektakulären Traumata ihrer eigenen, bislang noch nie erzählten Autobiografie, die sie hier in einem verhüllenden Enthüllungsspiel zugleich preisgibt und als literarisches Konstrukt von sich wegrückt: „Diese Erzählerin ist Ich. Und sie ist ein Traumbild. Ich träume sie, und sie träumt mich. Offenbar habe ich mir für sie eine Geschichte ausgedacht. Es ist egal, ob die Träume das Leben sind oder das Leben geträumt wird, egal, ob eine Geschichte erfunden, wahr oder nur zur Hälfte wahr, ausgedacht oder wirklich ist – total egal.“
Zugegeben: Ein solch schlichtes Resümee am Ende allen Nachdenkens über das komplexe Widerspiel zwischen Schreiben und Leben, Fiktion und realer Erfahrung nimmt sich doch recht genügsam aus und setzt hinter alle subtilen Differenzierungsbemühungen dieser klugen Texte einen arg wurschtigen Schlusspunkt. Doch abgesehen davon muss man anerkennen, wie faszinierend sich diese doppelte Familiengeschichte liest, die hier in der Erinnerung einer Fünfzigerin an die eigene Jugend vor zwanzig, dreißig Jahren in Flashbacks wieder auftaucht.
Denn ihrem jungen Selbst, das im zwanghaften Unglück einer schrecklichen Herkunftsfamilie festzustecken glaubte, widerfuhr seinerzeit ein unerhörtes Befreiungserlebnis. Es sei möglich, sich von der eigenen Herkunft loszusagen und sich nach freiem Belieben eine poetische Wahlfamilie zuzulegen, verkündete damals ihre verwegene Freundin Ada, die ungekrönte Königin einer Clique von matten Dämmerseelen, Driftern, Slackern und Möchtegern-Künstlern, die ihre trägen Tage mit Rauchen, Trinken und Nichtstun hinbrachten, in den köstlich verwahrlosten langen Wochen als Dauergäste im Sommerhaus an der Nordsee, das die Erzählerin von ihrer Großmutter geerbt hatte.
Wir kennen dieses vage Prekariat einer Prenzlberg-Hinterhaus-Wohngemeinschaft in ihrer Mischung aus Provisorium und schlechten Prognosen aus den Erzählungen in Judith Hermanns Sensationsdebüt „Sommerhaus, später“ und dem Folgeband „Nichts als Gespenster“. Damals glaubte eine ganze Generation ihr eigenes Lebensgefühl darin zu erkennen. Was Judith Hermann nun im Rückblick beschreibt, ist die Zerbrechlichkeit dieser amorphen Wahlverwandtschaft, die umso leichter auseinanderfällt, weil sie von nichts zusammengehalten wird als dem Gefühl einer günstigen Momentan-Konstellation, ohne gemeinsam verlebte Geschichte und ohne das geringste Interesse daran, wo alle anderen herkommen und wer sie eigentlich sind.
Es ist freilich das horrende autobiografische Material, das diese Erzähltexte aus allem heraushebt, was Judith Hermann bisher geschrieben hat. Schroff offenbart ihre Ich-Figur einem Freund gegenüber ihr Geheimnis: „Ich sagte, ich bin das traumatisierte Kind eines depressiven Vaters, ich komme aus einer Familie von Verrückten, ich muss die vielfältigen Symptome der Krankheiten des Geistes vor der Welt verbergen. Ich fügte zur Illustration zwei, drei Details hinzu, Selbstverstümmelungen meines Vaters in der Psychiatrie, die Suizide, die Krankheit meiner Großmutter.“
Judith Hermanns oft bemerktes sprödes Stilmittel – die Beschreibung von Räumen mittels obsessiver Aufzählung aller darin enthaltenen Objekte – gewinnt hier eine besondere Triftigkeit, denn die zugeräumte, mit Kisten, Kartons und Abfall vollgestopfte elterliche Altbauwohnung in Berlin Neukölln kennzeichnet erstickend die Wohnhaft ihrer unglücklichen Insassen. Sie ist mehr begehbare Müllplastik als menschliche Behausung.
Gleichwohl gelingt es Judith Hermann, der bedrückenden Gestalt des kranken Vaters mit seinen Tobsuchtsanfällen und schizoiden Schüben Nuancen zärtlicher Zuwendung abzugewinnen. In ihrem siebenten Buch zeigt sich uns Judith Hermann von einer neuen, herzzerreißenden Seite, ohne dem Kitsch anheimzufallen. Und das ist kein geringes Kunststück.
„Diese Erzählerin ist Ich. Und
sie ist ein Traumbild. Ich träume
sie, und sie träumt mich.“
Der bedrückenden Gestalt des
kranken Vaters gewinnt sie
Nuancen zärtlicher Zuwendung ab
Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt. S. Fischer, Frankfurt/Main 2023. 188 Seiten 23 Euro.
„Ich erzähle von meiner Psychoanalyse und gebe sie an eine Figur ab, die ist, wie ich immer sein wollte, niemals war oder sein werde“: die Schriftstellerin Judith Hermann.
Foto: Andreas Reiberg
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In der 'Nobelpreisliga' Frankfurter Rundschau 20241009