Wie uns das Denken der Kolonialzeit noch immer prägt – eine packende Geschichtsreportage zur aktuellen Debatte
Die deutschen Kolonien - dieses Kapitel unserer Geschichte ist beunruhigend aktuell, wie Bartholomäus Grill zeigt. Und das nicht nur im Bewusstsein der Afrikaner selbst (etwa der Nachfahren der Herero, die heute Entschädigung für Gräueltaten der Deutschen fordern). Sondern auch in unseren eigenen Köpfen. Der SPIEGEL-Reporter, einer der besten deutschen Afrikakenner, hat in den letzten drei Jahrzehnten an allen Schauplätze des ehemaligen Kolonialreichs recherchiert, er hat mit den letzten Augenzeugen gesprochen, den Nachkommen von Tätern wie Opfern. Grill verfolgt akribisch die Spuren der deutschen Fremdherrschaft in Afrika, China und der Südsee und beschreibt unser rassistische Erbe: Das Herrenmenschentum prägt nach wie vor unser Denken, die Klischees von den „bedrohlichen Afrikanern“ oder „hilflosen Entwicklungsländern“ wirken fort, gerade in Zeiten verstärkter Flucht und Migration. Eine packende historische Reportage – und zugleich ein Debattenbuch von höchster Aktualität.
Die deutschen Kolonien - dieses Kapitel unserer Geschichte ist beunruhigend aktuell, wie Bartholomäus Grill zeigt. Und das nicht nur im Bewusstsein der Afrikaner selbst (etwa der Nachfahren der Herero, die heute Entschädigung für Gräueltaten der Deutschen fordern). Sondern auch in unseren eigenen Köpfen. Der SPIEGEL-Reporter, einer der besten deutschen Afrikakenner, hat in den letzten drei Jahrzehnten an allen Schauplätze des ehemaligen Kolonialreichs recherchiert, er hat mit den letzten Augenzeugen gesprochen, den Nachkommen von Tätern wie Opfern. Grill verfolgt akribisch die Spuren der deutschen Fremdherrschaft in Afrika, China und der Südsee und beschreibt unser rassistische Erbe: Das Herrenmenschentum prägt nach wie vor unser Denken, die Klischees von den „bedrohlichen Afrikanern“ oder „hilflosen Entwicklungsländern“ wirken fort, gerade in Zeiten verstärkter Flucht und Migration. Eine packende historische Reportage – und zugleich ein Debattenbuch von höchster Aktualität.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2019Überforderte Militärs stehen nicht gleich für einen Völkermord
Weißwürste in Togo, Soldatenrenten in Tansania: Bartholomäus Grill reist auf den Spuren der deutschen Kolonialgeschichte durch Afrika
Der Kolonialismus ist das große neue Thema in der Kultur. Wer auf der Welle des Zeitgeists reiten will, muss lautstark die historischen Verbrechen der Europäer in Übersee anprangern und gleich im nächsten Satz die konsequente Rückgabe aller erbeuteten oder "asymmetrisch" erworbenen - also möglichst aller - Objekte in den ethnologischen Museen an ihre Herkunftsländer fordern. Dabei wissen die wenigsten, die so daherreden, wie es in den ehemaligen Kolonien heute tatsächlich aussieht oder zu Kolonialzeiten ausgesehen hat. Bartholomäus Grill weiß es genau. Der langjährige Afrika-Korrespondent der "Zeit" und jetzige Berichterstatter des "Spiegels" lebt seit 1993 in Südafrika und hat den schwarzen Kontinent in alle Richtungen bereist. Schon deshalb lohnt es sich, sein Buch über die deutsche Kolonialgeschichte in Afrika (mit zwei angehängt wirkenden Kapiteln über Tsingtao und Neuguinea) zu lesen.
Denn bei Grill ist alles Anschauung. Wenn er über die Askari schreibt, die einheimischen Söldner der deutschen Schutztruppe im heutigen Tansania, dann fasst er kein Buchwissen zusammen, sondern erzählt von seinem Besuch bei einem fast hundertjährigen Greis, der noch 1995 das Treuegeld des Auswärtigen Amts für afrikanische Kriegsveteranen empfängt, weil er achtzig Jahre vorher unter Paul von Lettow-Vorbeck in der Schlacht bei Tanga gegen die Briten gekämpft hat. In Lomé in Togo isst Grill Weißwürste bei einem Metzger, der sein Handwerk in Rosenheim gelernt hat, in Moshi am Kilimandscharo sucht er mit den Dorfbewohnern nach den Überresten eines von den Deutschen hingerichteten Wachagga-Anführers, und in Windhoek befragt er Kuaima Ruruako, den umstrittenen Chief der Herero. Wenn Grill schreibt, dass ein Berg in Togo früher "Pickelhaube" hieß und das neue namibische Nationalmuseum ein mit Heldenkitsch gefüllter Klotz ist, kann man sich darauf verlassen, dass es stimmt.
Das gilt auch für das Eingangskapitel, in dem der Autor seine biographische Verbindung zum Thema offenlegt. Als Kind las er die Groschenheftchen der "Kolonial-Bibliothek" und die Erinnerungsbücher von Lettow-Vorbeck, Ludwig Foehse und anderen, die sein Großvater in einer Kiste auf seinem Speicher hinterlassen hatte. Die Sehnsucht nach Afrika ließ Grill nicht wieder los, auch wenn seine Gewährsleute bald andere Namen trugen, Frantz Fanon, Edward Said, J.M. Coetzee, Aimé Césaire. Mit seinem Buch will er nun "die Mär vom deutschen Kolonialidyll" widerlegen. Dabei sei ihm bewusst, so Grill, dass er auch nach drei Jahrzehnten in Afrika "das rassistische Erbe nicht einfach abschütteln" könne.
Die Lektüre bestätigt das nicht. Im Gegenteil: Überall da, wo Grill besonders antirassistisch und postkolonial erscheinen will, wird sein Ton schrill, seine Prosa predigerhaft. "Der Nazi-Schauspieler Hans Albers" spielt da den Sadisten Carl Peters im Film, die Reformpolitik der deutschen Statthalter in Kamerun hängt sich "ein humanitäres Mäntelchen" um, und beim Wechsel von der Sklaverei mit Peitsche und Folter zur Ausbeutung durch Arbeit "folgte der Pest die Cholera". Umso einprägsamer sind die Schilderungen dessen, was Grill selbst gesehen hat: die riesige Landungsbrücke von Lomé in Togo, die seit hundert Jahren vor sich hin rostet; der Polizist an der Straße nach Douala, der erklärt, er heiße Adolf, "wie Adolf Hitler"; oder die opulente Palastvilla des einstigen deutschen Gouverneurs Jesko von Puttkamer, die heute als Landsitz von Paul Biya dient, dem seit 1982 mit diktatorischen Mitteln regierenden Präsidenten von Kamerun. Es sind starke Bilder, und sie sind stark, weil sie zweideutig sind, so zweideutig wie das Verhältnis der ehemaligen Kolonien zu ihren früheren Kolonialmächten insgesamt.
Im Kapitel über Namibia nimmt das Buch eine überraschende Wendung. Grill trifft neben dem bereits erwähnten Herero-Chief Kuaima Ruruako auch David Kambazembi, einen Führer des Nama-Volkes, besucht die Schlachtfelder des Kolonialkriegs von 1904 bis 1908, redet mit Angehörigen der deutschen Siedlerminderheit - und gerät dabei unverhofft mit dem Hamburger Afrikahistoriker Jürgen Zimmerer in eine öffentliche Grundsatzdebatte, in der jener "einen Punktsieg" (Grill) davonträgt. Das Streitgespräch, das vor drei Jahren im "Spiegel" erschienen ist, kann man im Internet nachlesen.
Worum geht es? Grill hat es gewagt, die Anwendbarkeit des Völkermord-Begriffs auf die Feldzüge der deutschen Kolonialmacht gegen die aufständischen Herero und Nama in Zweifel zu ziehen. Er hat die Gegend durchfahren, in der die schwache deutsche Schutztruppe nach der Schlacht am Waterberg angeblich alle Angehörigen des Hererovolkes an der Rückkehr aus der Omaheke-Wüste hinderte und so dem Tod durch Verdursten preisgab, und er hat Unterlagen gesichtet, die das Chaos in der damaligen Militärführung offenlegen - etwa die unveröffentlichten Tagebücher jenes Generals Trotha, dessen Vernichtungsbefehl vom Oktober 1904 ("ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf") für Grill ein Dokument der Hilflosigkeit ist.
Vor allem aber steht Grill bei seinen Recherchen ein anderer Völkermord vor Augen, über den er selbst als Journalist berichtet hat: den akribisch geplanten, staatlich gelenkten Genozid an den Tutsi in Ruanda im Sommer 1994. Mit diesem Gemetzel will er die deutschen Verbrechen in Namibia nicht in einen Topf werfen. Das Vorgehen der Kolonialtruppen wurde von den Sozialdemokraten im Reichstag regelmäßig angeprangert und sogar zum Anlass für Neuwahlen (die "Hottentottenwahl" von 1907), Trotha selbst wenige Wochen nach der Proklamation seines Befehls von seinem Posten abgelöst. Die Zustände in den deutschen Lagern, etwa auf der berüchtigten Haifischinsel, wo die Hälfte der Gefangenen an Hunger und Krankheiten starb, waren katastrophal, aber kein geplanter Massenmord. Doch solche Differenzierungen will Jürgen Zimmerer nicht gelten lassen. "Es kommt auf den Vernichtungswillen an." Mit anderen Worten: Der deutsche Historiker klammert sich an die Buchstaben der Originaldokumente, während der Journalist nach der Logik des Geschehens fragt. So redet man aneinander vorbei.
Und so wird auch dieses eminent lesenswerte Buch vermutlich gerade diejenigen nicht erreichen, denen es am dringendsten zu empfehlen wäre: die Wortführer der aktuellen Debatte über die Rückgabe afrikanischer und anderer kolonialer Kulturgüter aus deutschen Museen an ihre Herkunftsländer. Bei Grill kann man lernen, dass mit Restitutionen (die er befürwortet) allein nicht das Geringste gewonnen ist, dass Federkronen und Masken kein Ersatz für Demokratie und wirtschaftliche Eigenständigkeit in Kamerun, Togo, Tansania und anderswo sein können. Aber die Fronten und Pfründen im Meinungsstreit sind offenbar derart stabil, dass eine Reporterstimme wie die von Bartholomäus Grill nur als Störung des Debattenfriedens empfunden wird. So kann man nur hoffen, dass sein Buch wenigstens im breiten Publikum die Leserschaft findet, die es verdient.
ANDREAS KILB
Bartholomäus Grill: "Wir Herrenmenschen". Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte.
Siedler Verlag, Berlin 2019. 304 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weißwürste in Togo, Soldatenrenten in Tansania: Bartholomäus Grill reist auf den Spuren der deutschen Kolonialgeschichte durch Afrika
Der Kolonialismus ist das große neue Thema in der Kultur. Wer auf der Welle des Zeitgeists reiten will, muss lautstark die historischen Verbrechen der Europäer in Übersee anprangern und gleich im nächsten Satz die konsequente Rückgabe aller erbeuteten oder "asymmetrisch" erworbenen - also möglichst aller - Objekte in den ethnologischen Museen an ihre Herkunftsländer fordern. Dabei wissen die wenigsten, die so daherreden, wie es in den ehemaligen Kolonien heute tatsächlich aussieht oder zu Kolonialzeiten ausgesehen hat. Bartholomäus Grill weiß es genau. Der langjährige Afrika-Korrespondent der "Zeit" und jetzige Berichterstatter des "Spiegels" lebt seit 1993 in Südafrika und hat den schwarzen Kontinent in alle Richtungen bereist. Schon deshalb lohnt es sich, sein Buch über die deutsche Kolonialgeschichte in Afrika (mit zwei angehängt wirkenden Kapiteln über Tsingtao und Neuguinea) zu lesen.
Denn bei Grill ist alles Anschauung. Wenn er über die Askari schreibt, die einheimischen Söldner der deutschen Schutztruppe im heutigen Tansania, dann fasst er kein Buchwissen zusammen, sondern erzählt von seinem Besuch bei einem fast hundertjährigen Greis, der noch 1995 das Treuegeld des Auswärtigen Amts für afrikanische Kriegsveteranen empfängt, weil er achtzig Jahre vorher unter Paul von Lettow-Vorbeck in der Schlacht bei Tanga gegen die Briten gekämpft hat. In Lomé in Togo isst Grill Weißwürste bei einem Metzger, der sein Handwerk in Rosenheim gelernt hat, in Moshi am Kilimandscharo sucht er mit den Dorfbewohnern nach den Überresten eines von den Deutschen hingerichteten Wachagga-Anführers, und in Windhoek befragt er Kuaima Ruruako, den umstrittenen Chief der Herero. Wenn Grill schreibt, dass ein Berg in Togo früher "Pickelhaube" hieß und das neue namibische Nationalmuseum ein mit Heldenkitsch gefüllter Klotz ist, kann man sich darauf verlassen, dass es stimmt.
Das gilt auch für das Eingangskapitel, in dem der Autor seine biographische Verbindung zum Thema offenlegt. Als Kind las er die Groschenheftchen der "Kolonial-Bibliothek" und die Erinnerungsbücher von Lettow-Vorbeck, Ludwig Foehse und anderen, die sein Großvater in einer Kiste auf seinem Speicher hinterlassen hatte. Die Sehnsucht nach Afrika ließ Grill nicht wieder los, auch wenn seine Gewährsleute bald andere Namen trugen, Frantz Fanon, Edward Said, J.M. Coetzee, Aimé Césaire. Mit seinem Buch will er nun "die Mär vom deutschen Kolonialidyll" widerlegen. Dabei sei ihm bewusst, so Grill, dass er auch nach drei Jahrzehnten in Afrika "das rassistische Erbe nicht einfach abschütteln" könne.
Die Lektüre bestätigt das nicht. Im Gegenteil: Überall da, wo Grill besonders antirassistisch und postkolonial erscheinen will, wird sein Ton schrill, seine Prosa predigerhaft. "Der Nazi-Schauspieler Hans Albers" spielt da den Sadisten Carl Peters im Film, die Reformpolitik der deutschen Statthalter in Kamerun hängt sich "ein humanitäres Mäntelchen" um, und beim Wechsel von der Sklaverei mit Peitsche und Folter zur Ausbeutung durch Arbeit "folgte der Pest die Cholera". Umso einprägsamer sind die Schilderungen dessen, was Grill selbst gesehen hat: die riesige Landungsbrücke von Lomé in Togo, die seit hundert Jahren vor sich hin rostet; der Polizist an der Straße nach Douala, der erklärt, er heiße Adolf, "wie Adolf Hitler"; oder die opulente Palastvilla des einstigen deutschen Gouverneurs Jesko von Puttkamer, die heute als Landsitz von Paul Biya dient, dem seit 1982 mit diktatorischen Mitteln regierenden Präsidenten von Kamerun. Es sind starke Bilder, und sie sind stark, weil sie zweideutig sind, so zweideutig wie das Verhältnis der ehemaligen Kolonien zu ihren früheren Kolonialmächten insgesamt.
Im Kapitel über Namibia nimmt das Buch eine überraschende Wendung. Grill trifft neben dem bereits erwähnten Herero-Chief Kuaima Ruruako auch David Kambazembi, einen Führer des Nama-Volkes, besucht die Schlachtfelder des Kolonialkriegs von 1904 bis 1908, redet mit Angehörigen der deutschen Siedlerminderheit - und gerät dabei unverhofft mit dem Hamburger Afrikahistoriker Jürgen Zimmerer in eine öffentliche Grundsatzdebatte, in der jener "einen Punktsieg" (Grill) davonträgt. Das Streitgespräch, das vor drei Jahren im "Spiegel" erschienen ist, kann man im Internet nachlesen.
Worum geht es? Grill hat es gewagt, die Anwendbarkeit des Völkermord-Begriffs auf die Feldzüge der deutschen Kolonialmacht gegen die aufständischen Herero und Nama in Zweifel zu ziehen. Er hat die Gegend durchfahren, in der die schwache deutsche Schutztruppe nach der Schlacht am Waterberg angeblich alle Angehörigen des Hererovolkes an der Rückkehr aus der Omaheke-Wüste hinderte und so dem Tod durch Verdursten preisgab, und er hat Unterlagen gesichtet, die das Chaos in der damaligen Militärführung offenlegen - etwa die unveröffentlichten Tagebücher jenes Generals Trotha, dessen Vernichtungsbefehl vom Oktober 1904 ("ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf") für Grill ein Dokument der Hilflosigkeit ist.
Vor allem aber steht Grill bei seinen Recherchen ein anderer Völkermord vor Augen, über den er selbst als Journalist berichtet hat: den akribisch geplanten, staatlich gelenkten Genozid an den Tutsi in Ruanda im Sommer 1994. Mit diesem Gemetzel will er die deutschen Verbrechen in Namibia nicht in einen Topf werfen. Das Vorgehen der Kolonialtruppen wurde von den Sozialdemokraten im Reichstag regelmäßig angeprangert und sogar zum Anlass für Neuwahlen (die "Hottentottenwahl" von 1907), Trotha selbst wenige Wochen nach der Proklamation seines Befehls von seinem Posten abgelöst. Die Zustände in den deutschen Lagern, etwa auf der berüchtigten Haifischinsel, wo die Hälfte der Gefangenen an Hunger und Krankheiten starb, waren katastrophal, aber kein geplanter Massenmord. Doch solche Differenzierungen will Jürgen Zimmerer nicht gelten lassen. "Es kommt auf den Vernichtungswillen an." Mit anderen Worten: Der deutsche Historiker klammert sich an die Buchstaben der Originaldokumente, während der Journalist nach der Logik des Geschehens fragt. So redet man aneinander vorbei.
Und so wird auch dieses eminent lesenswerte Buch vermutlich gerade diejenigen nicht erreichen, denen es am dringendsten zu empfehlen wäre: die Wortführer der aktuellen Debatte über die Rückgabe afrikanischer und anderer kolonialer Kulturgüter aus deutschen Museen an ihre Herkunftsländer. Bei Grill kann man lernen, dass mit Restitutionen (die er befürwortet) allein nicht das Geringste gewonnen ist, dass Federkronen und Masken kein Ersatz für Demokratie und wirtschaftliche Eigenständigkeit in Kamerun, Togo, Tansania und anderswo sein können. Aber die Fronten und Pfründen im Meinungsstreit sind offenbar derart stabil, dass eine Reporterstimme wie die von Bartholomäus Grill nur als Störung des Debattenfriedens empfunden wird. So kann man nur hoffen, dass sein Buch wenigstens im breiten Publikum die Leserschaft findet, die es verdient.
ANDREAS KILB
Bartholomäus Grill: "Wir Herrenmenschen". Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte.
Siedler Verlag, Berlin 2019. 304 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.07.2019Schuld, Raub
und Rückgabe
Vor 100 Jahren „verlor“ Deutschland seine Kolonien.
Das furchtbare Erbe ist bis heute nicht aufgearbeitet
VON WOLFGANG BENZ
Die Herrschafts- und Wirtschaftsform des Kolonialismus, die im 19. Jahrhundert als imperialistische Ausbeutung Afrikas und Asiens durch die europäischen Staaten (Großbritannien und Frankreich, Belgien, Niederlande, Italien und zuletzt Deutschland) den Höhepunkt erreichte, war zutiefst von der Ideologie des Rassismus geprägt. Kolonialismus gründete sich auf das Bewusstsein der „rassischen“ Überlegenheit der Europäer als „Weiße“, die das Recht beanspruchten, Menschen angeblich minderen Wertes zu beherrschen, ihrer Ressourcen zu berauben und bei Verstößen gegen die ihnen auferlegten Regeln und Strukturen nach Belieben zu bestrafen. Gerechtfertigt und dargestellt wurde die koloniale politische Praxis als Mission der Zivilisierung und der Kulturvermittlung. Der angebliche Zivilisierungsauftrag schloss körperliche Gewalt („väterliche Züchtigung“ bei Vergehen gegen die von der Kolonialherrschaft verfügte Ordnung) und Brechung von Widerstand bis zum Völkermord ein: an den Hereros in Südwestafrika 1904, im Maji-Maji-Aufstand in Ostafrika 1905/06 – zwei Beispiele aus der deutschen Kolonialgeschichte.
Die Zerstörung indigener, politischer und sozialer Strukturen, von Tradition und Kultur galt als Voraussetzung eines notwendigen Kulturtransfers. Die Ausbeutung der „unterentwickelten“ Regionen der Erde wurde auch als christliche Heilsbotschaft durch die überlegenere weiße „Rasse“ gerechtfertigt und die Kolonialisierung als Hilfe zur Entwicklung stilisiert.
Carl Peters und Adolf Lüderitz, die deutschen Kaufleute, die als Vortrupp der Kolonisation in Afrika mit Eingeborenen Handel trieben und ihnen zu dubiosen Bedingungen Land abkauften, das später als deutsches Staatsgebiet deklariert wurde, werden immer noch als Entdecker und Pioniere gefeiert, weil sie den Anfang des deutschen Kolonialismus in Afrika verkörpern. Die Verbrechen an den Völkern der Herero und Nama in Südwestafrika sind ungesühnt. Für die Landnahme gab es keine Entschädigung. Ein Bewusstsein für das Unrecht und seine Folgen steht, einhundert Jahre nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft, erst in den Anfängen.
Als Postkolonialismus wird das Fortwirken der ökonomischen und politischen Dominanz der ehemaligen Kolonialherrschaften bezeichnet. Die Debatte über Restitutionsleistungen und den Umgang mit der jeweiligen Kolonialgeschichte kam erst lange nach dem formalen Ende der Abhängigkeit und den afrikanischen Staatsgründungen seit den 1960er-Jahren in Gang. Auf der politischen Agenda stehen drei Komplexe aus dem Erbe des Kolonialismus. Erstens die offizielle Bitte der deutschen Regierung an die Adresse der Regierung Namibias um Vergebung für den Völkermord an den Herero und Nama. Zweitens der Umgang mit Kunstschätzen und anderen Kulturzeugnissen, die zur Kolonialzeit geraubt und in die Museen Europas verschleppt wurden. Drittens die Entwicklung von solidarischen Umgangsformen und daraus resultierenden seriösen Antworten auf die ökonomischen, sozialen und politischen Probleme des Kontinents Afrika: Armut und Fluchtbewegungen, zu der die Ausbeutung zur Kolonialzeit den Grund gelegt hat. Der Afrikabeauftragte der Bundesregierung, ein prominenter Bürgerrechtler der DDR, zog im Herbst 2018 Kritik auf sich, als er in einem Zeitungsinterview Ahnungslosigkeit angesichts des kolonialen Erbes erkennen ließ und sich Parolen der einstigen Kolonialpropaganda („Zivilisationsmission“) zu eigen machte. Er drückte aus, was viele empfinden. Ansätze zur politischen Reaktion auf die historischen Folgen des kolonialen Rassismus, die den Regierungen und Gesellschaften Afrikas wirksame Hilfe leisten würden, sind nicht zu erkennen.
Über den Umgang mit Kulturgut kolonialer Herkunft ist eine Debatte in Gang gekommen. Das riesige aus Afrika stammende Dinosaurierskelett im Berliner Naturkundemuseum ist eine weltweite Attraktion. Aber wem gehört sie wirklich? Wie geht man mit Ritualobjekten um, die in europäischen Museen profaniert und ausgestellt sind? Besonders sensibel sind menschliche Überreste aus Kolonialraub.
Das Buch „Deutschland postkolonial“ geht über die klassische Kolonialhistoriografie – ohne sie zu vernachlässigen – und deren Konstrukte – die aufgelöst werden – hinaus, bezieht Fragestellungen der Mentalitätsgeschichte ein, wendet Strategien der Ressentimentforschung auf den Gegenstand Koloniales Erbe an. Das gewichtige Kompendium, das die Hamburger Afrikanistin Marianne Bechhaus-Gerst und der Berliner Historiker Joachim Zeller als Herausgeber verantworten, bietet weit mehr als interdisziplinäre Wissenschaft. Es ist politisch hochaktuell und hat das Potenzial, der öffentlichen Debatte über die ökonomischen und moralischen Nachwirkungen kolonialer Herrschaft und anhaltender Dominanz über die einstigen Kolonien das dringend notwendige Fundament zu geben.
Der Band schlägt einen weiten Bogen vom Ende deutscher Kolonialherrschaft in Afrika und der Südsee über den Kolonialrevisionismus der Zwischenkriegszeit, die rassistischen Erinnerungskonstrukte und das postkoloniale Bewusstsein in Initiativgruppen, Medien, Kunst und Didaktik bis zum aktuellen Diskurs über Raub und Rückgabe von Kulturgut.
Das gut lesbare Handbuch geht über die Ankündigung des Titels weit hinaus. Es leistet nicht nur einen notwendigen Beitrag zum Erinnerungsdiskurs, der auf hohem Niveau (gelegentlich auch abgehoben) in den Feuilletons geführt wird, das Buch ist erfreulich konkret, faktenreich und trotzdem hoch reflektiert. Ein Beitrag spürt etwa den Wurzeln der skurrilen Germanophilie in Togo nach, ein anderer thematisiert das kollektive Gedächtnis im ehemaligen deutschen „Schutzgebiet“ Kamerun anhand architektonischer Relikte wie des Palastes des Gouverneurs Jesko von Puttkamer, der als Inkarnation des Herrenmenschen die Kolonie von 1895 bis 1907 regierte, oder des 1966 von Bundespräsident Heinrich Lübke eingeweihten Seemannsheimes in Douala. Der politischen Instrumentalisierung des Themas im Kalten Krieg widmet sich eine Studie des Bandes, in der sowohl der Wettbewerb der beiden deutschen Staaten um die Gunst der jungen Nationen Afrikas wie dessen neokoloniale Methoden thematisiert sind. Nicht weniger kompetent sind die Felder „Postkolonialismus und Genozid“ sowie Rassismus und Kolonialismus bestellt. Alle Beiträge zeichnen sich aus durch wissenschaftlichen, also unaufgeregten Zugriff bei eindeutigen moralischen Positionen. Das gilt insbesondere für die Exemplifizierung der aktuellen Debatten über menschliche Relikte aus einst kolonialen Territorien in deutschen Museen, ethnologischen oder anthropologischen Instituten, in denen die Tradition fürstlicher Wunderkammern und Kuriositätenkabinette fortgesetzt werden, das gilt für die koloniale Raubkunst in deutschen Galerien und nicht zuletzt für das vor der Eröffnung stehende Berliner Humboldt-Forum. Der Band ist eine dichte Gemeinschaftsarbeit von 32 Autoren (Herausgeberin und Herausgeber sind selbst außer der gemeinsamen Einführung mit je zwei profunden Studien beteiligt, auch das zeugt von der Seriosität des Unternehmens).
Bartholomäus Grill, Afrikakorrespondent erst der Zeit, dann des Spiegels, beschreibt die deutsche Kolonialgeschichte in Afrika, Ostasien und der Südsee im journalistischen Zugriff und heiligen Zorn darüber, was Ausbeuter in kommerzieller und christlicher Absicht im staatlichen Auftrag dem Kontinent angetan haben. Grill geißelt die Schandtaten des Carl Peters, der Völker um ihr Land betrog, die Verbrechen des „grimmigen Herrn Theodor von Gunzert“, der pars pro toto als Bezirksamtmann im Namen der Reichskolonialverwaltung am Victoriasee prunkte und prasste, „Eingeborene“ auspeitschen und aufhängen ließ. Es geht um die Untaten des Jesko von Puttkamer als Gouverneur von Kamerun und anderer Psychopathen, die ihre sadistischen Neigungen und Machtfantasien in unvorstellbaren Ausrottungsorgien gegen Afrikaner auslebten.
Sie fühlten sich als Herrenmenschen und trieben in der kurzen Zeit deutscher Kolonialherrschaft eine genozidale Kolonialpolitik mit langen Folgen. Sie wirkten zusammen mit den Betreibern von Monokulturen und arglistig agierenden Kaufleuten (denen in der Heimat dafür Denkmale gesetzt wurden), mit christlichen Missionaren und Wissenschaftlern (die wie der Nobelpreisträger Robert Koch im Kaiserlichen Krankenhaus Daressalam mit dubiosen Methoden experimentierten, um dem glücklicheren Teil der Menschheit Heil und Segen zu bringen).
Grills Buch vereint einen entschiedenen Standpunkt mit profunder Recherche, bietet in 13 Reportagen die Summe der Erfahrungen eines engagierten Journalisten. Das Buch ist als Einstiegslektüre für Ahnungslose wie für Interessierte, für Politiker, für Teilnehmer und Betrachter von Talkshows über unser koloniales Erbe dringend zu empfehlen: Ein Katalog nicht erkannter und nicht aufgearbeiteter Schuld.
Wolfgang Benz ist Historiker, Prof. em. der TU Berlin und Direktor des Instituts für Vorurteils- und Konfliktforschung Berlin.
Politische Ansätze, wie heute
afrikanischen Gesellschaften zu
helfen wäre, sind nicht vorhanden
Psychopathen und Sadisten lebten
vor 1919 ihre Neigungen aus –
mit mörderischer Konsequenz
Bartholomäus Grill:
Wir Herrenmenschen.
Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte. Siedler, München 2019.
304 Seiten, 24 Euro.
Marianne Bechhaus-Gerst, Joachim Zeller (Hg.):
Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit. Metropol-Verlag, Berlin 2018. 579 Seiten, 29 Euro.
E-Book: 23 Euro.
Druck von den Nachfahren: Eine Delegation von Herero- und Nama-Vertretern 2018 in Berlin.
Sie wollen die Erinnerung an die Opfer von Versklavung, Kolonialismus und rassistischer Gewalt wachhalten – und sie wollen eine Geste der Regierung, mindestens. imago
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
und Rückgabe
Vor 100 Jahren „verlor“ Deutschland seine Kolonien.
Das furchtbare Erbe ist bis heute nicht aufgearbeitet
VON WOLFGANG BENZ
Die Herrschafts- und Wirtschaftsform des Kolonialismus, die im 19. Jahrhundert als imperialistische Ausbeutung Afrikas und Asiens durch die europäischen Staaten (Großbritannien und Frankreich, Belgien, Niederlande, Italien und zuletzt Deutschland) den Höhepunkt erreichte, war zutiefst von der Ideologie des Rassismus geprägt. Kolonialismus gründete sich auf das Bewusstsein der „rassischen“ Überlegenheit der Europäer als „Weiße“, die das Recht beanspruchten, Menschen angeblich minderen Wertes zu beherrschen, ihrer Ressourcen zu berauben und bei Verstößen gegen die ihnen auferlegten Regeln und Strukturen nach Belieben zu bestrafen. Gerechtfertigt und dargestellt wurde die koloniale politische Praxis als Mission der Zivilisierung und der Kulturvermittlung. Der angebliche Zivilisierungsauftrag schloss körperliche Gewalt („väterliche Züchtigung“ bei Vergehen gegen die von der Kolonialherrschaft verfügte Ordnung) und Brechung von Widerstand bis zum Völkermord ein: an den Hereros in Südwestafrika 1904, im Maji-Maji-Aufstand in Ostafrika 1905/06 – zwei Beispiele aus der deutschen Kolonialgeschichte.
Die Zerstörung indigener, politischer und sozialer Strukturen, von Tradition und Kultur galt als Voraussetzung eines notwendigen Kulturtransfers. Die Ausbeutung der „unterentwickelten“ Regionen der Erde wurde auch als christliche Heilsbotschaft durch die überlegenere weiße „Rasse“ gerechtfertigt und die Kolonialisierung als Hilfe zur Entwicklung stilisiert.
Carl Peters und Adolf Lüderitz, die deutschen Kaufleute, die als Vortrupp der Kolonisation in Afrika mit Eingeborenen Handel trieben und ihnen zu dubiosen Bedingungen Land abkauften, das später als deutsches Staatsgebiet deklariert wurde, werden immer noch als Entdecker und Pioniere gefeiert, weil sie den Anfang des deutschen Kolonialismus in Afrika verkörpern. Die Verbrechen an den Völkern der Herero und Nama in Südwestafrika sind ungesühnt. Für die Landnahme gab es keine Entschädigung. Ein Bewusstsein für das Unrecht und seine Folgen steht, einhundert Jahre nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft, erst in den Anfängen.
Als Postkolonialismus wird das Fortwirken der ökonomischen und politischen Dominanz der ehemaligen Kolonialherrschaften bezeichnet. Die Debatte über Restitutionsleistungen und den Umgang mit der jeweiligen Kolonialgeschichte kam erst lange nach dem formalen Ende der Abhängigkeit und den afrikanischen Staatsgründungen seit den 1960er-Jahren in Gang. Auf der politischen Agenda stehen drei Komplexe aus dem Erbe des Kolonialismus. Erstens die offizielle Bitte der deutschen Regierung an die Adresse der Regierung Namibias um Vergebung für den Völkermord an den Herero und Nama. Zweitens der Umgang mit Kunstschätzen und anderen Kulturzeugnissen, die zur Kolonialzeit geraubt und in die Museen Europas verschleppt wurden. Drittens die Entwicklung von solidarischen Umgangsformen und daraus resultierenden seriösen Antworten auf die ökonomischen, sozialen und politischen Probleme des Kontinents Afrika: Armut und Fluchtbewegungen, zu der die Ausbeutung zur Kolonialzeit den Grund gelegt hat. Der Afrikabeauftragte der Bundesregierung, ein prominenter Bürgerrechtler der DDR, zog im Herbst 2018 Kritik auf sich, als er in einem Zeitungsinterview Ahnungslosigkeit angesichts des kolonialen Erbes erkennen ließ und sich Parolen der einstigen Kolonialpropaganda („Zivilisationsmission“) zu eigen machte. Er drückte aus, was viele empfinden. Ansätze zur politischen Reaktion auf die historischen Folgen des kolonialen Rassismus, die den Regierungen und Gesellschaften Afrikas wirksame Hilfe leisten würden, sind nicht zu erkennen.
Über den Umgang mit Kulturgut kolonialer Herkunft ist eine Debatte in Gang gekommen. Das riesige aus Afrika stammende Dinosaurierskelett im Berliner Naturkundemuseum ist eine weltweite Attraktion. Aber wem gehört sie wirklich? Wie geht man mit Ritualobjekten um, die in europäischen Museen profaniert und ausgestellt sind? Besonders sensibel sind menschliche Überreste aus Kolonialraub.
Das Buch „Deutschland postkolonial“ geht über die klassische Kolonialhistoriografie – ohne sie zu vernachlässigen – und deren Konstrukte – die aufgelöst werden – hinaus, bezieht Fragestellungen der Mentalitätsgeschichte ein, wendet Strategien der Ressentimentforschung auf den Gegenstand Koloniales Erbe an. Das gewichtige Kompendium, das die Hamburger Afrikanistin Marianne Bechhaus-Gerst und der Berliner Historiker Joachim Zeller als Herausgeber verantworten, bietet weit mehr als interdisziplinäre Wissenschaft. Es ist politisch hochaktuell und hat das Potenzial, der öffentlichen Debatte über die ökonomischen und moralischen Nachwirkungen kolonialer Herrschaft und anhaltender Dominanz über die einstigen Kolonien das dringend notwendige Fundament zu geben.
Der Band schlägt einen weiten Bogen vom Ende deutscher Kolonialherrschaft in Afrika und der Südsee über den Kolonialrevisionismus der Zwischenkriegszeit, die rassistischen Erinnerungskonstrukte und das postkoloniale Bewusstsein in Initiativgruppen, Medien, Kunst und Didaktik bis zum aktuellen Diskurs über Raub und Rückgabe von Kulturgut.
Das gut lesbare Handbuch geht über die Ankündigung des Titels weit hinaus. Es leistet nicht nur einen notwendigen Beitrag zum Erinnerungsdiskurs, der auf hohem Niveau (gelegentlich auch abgehoben) in den Feuilletons geführt wird, das Buch ist erfreulich konkret, faktenreich und trotzdem hoch reflektiert. Ein Beitrag spürt etwa den Wurzeln der skurrilen Germanophilie in Togo nach, ein anderer thematisiert das kollektive Gedächtnis im ehemaligen deutschen „Schutzgebiet“ Kamerun anhand architektonischer Relikte wie des Palastes des Gouverneurs Jesko von Puttkamer, der als Inkarnation des Herrenmenschen die Kolonie von 1895 bis 1907 regierte, oder des 1966 von Bundespräsident Heinrich Lübke eingeweihten Seemannsheimes in Douala. Der politischen Instrumentalisierung des Themas im Kalten Krieg widmet sich eine Studie des Bandes, in der sowohl der Wettbewerb der beiden deutschen Staaten um die Gunst der jungen Nationen Afrikas wie dessen neokoloniale Methoden thematisiert sind. Nicht weniger kompetent sind die Felder „Postkolonialismus und Genozid“ sowie Rassismus und Kolonialismus bestellt. Alle Beiträge zeichnen sich aus durch wissenschaftlichen, also unaufgeregten Zugriff bei eindeutigen moralischen Positionen. Das gilt insbesondere für die Exemplifizierung der aktuellen Debatten über menschliche Relikte aus einst kolonialen Territorien in deutschen Museen, ethnologischen oder anthropologischen Instituten, in denen die Tradition fürstlicher Wunderkammern und Kuriositätenkabinette fortgesetzt werden, das gilt für die koloniale Raubkunst in deutschen Galerien und nicht zuletzt für das vor der Eröffnung stehende Berliner Humboldt-Forum. Der Band ist eine dichte Gemeinschaftsarbeit von 32 Autoren (Herausgeberin und Herausgeber sind selbst außer der gemeinsamen Einführung mit je zwei profunden Studien beteiligt, auch das zeugt von der Seriosität des Unternehmens).
Bartholomäus Grill, Afrikakorrespondent erst der Zeit, dann des Spiegels, beschreibt die deutsche Kolonialgeschichte in Afrika, Ostasien und der Südsee im journalistischen Zugriff und heiligen Zorn darüber, was Ausbeuter in kommerzieller und christlicher Absicht im staatlichen Auftrag dem Kontinent angetan haben. Grill geißelt die Schandtaten des Carl Peters, der Völker um ihr Land betrog, die Verbrechen des „grimmigen Herrn Theodor von Gunzert“, der pars pro toto als Bezirksamtmann im Namen der Reichskolonialverwaltung am Victoriasee prunkte und prasste, „Eingeborene“ auspeitschen und aufhängen ließ. Es geht um die Untaten des Jesko von Puttkamer als Gouverneur von Kamerun und anderer Psychopathen, die ihre sadistischen Neigungen und Machtfantasien in unvorstellbaren Ausrottungsorgien gegen Afrikaner auslebten.
Sie fühlten sich als Herrenmenschen und trieben in der kurzen Zeit deutscher Kolonialherrschaft eine genozidale Kolonialpolitik mit langen Folgen. Sie wirkten zusammen mit den Betreibern von Monokulturen und arglistig agierenden Kaufleuten (denen in der Heimat dafür Denkmale gesetzt wurden), mit christlichen Missionaren und Wissenschaftlern (die wie der Nobelpreisträger Robert Koch im Kaiserlichen Krankenhaus Daressalam mit dubiosen Methoden experimentierten, um dem glücklicheren Teil der Menschheit Heil und Segen zu bringen).
Grills Buch vereint einen entschiedenen Standpunkt mit profunder Recherche, bietet in 13 Reportagen die Summe der Erfahrungen eines engagierten Journalisten. Das Buch ist als Einstiegslektüre für Ahnungslose wie für Interessierte, für Politiker, für Teilnehmer und Betrachter von Talkshows über unser koloniales Erbe dringend zu empfehlen: Ein Katalog nicht erkannter und nicht aufgearbeiteter Schuld.
Wolfgang Benz ist Historiker, Prof. em. der TU Berlin und Direktor des Instituts für Vorurteils- und Konfliktforschung Berlin.
Politische Ansätze, wie heute
afrikanischen Gesellschaften zu
helfen wäre, sind nicht vorhanden
Psychopathen und Sadisten lebten
vor 1919 ihre Neigungen aus –
mit mörderischer Konsequenz
Bartholomäus Grill:
Wir Herrenmenschen.
Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte. Siedler, München 2019.
304 Seiten, 24 Euro.
Marianne Bechhaus-Gerst, Joachim Zeller (Hg.):
Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit. Metropol-Verlag, Berlin 2018. 579 Seiten, 29 Euro.
E-Book: 23 Euro.
Druck von den Nachfahren: Eine Delegation von Herero- und Nama-Vertretern 2018 in Berlin.
Sie wollen die Erinnerung an die Opfer von Versklavung, Kolonialismus und rassistischer Gewalt wachhalten – und sie wollen eine Geste der Regierung, mindestens. imago
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»Es [das Buch] ist ein Appell: Menschen aller Kulturen und Hautfarbe genau als das anzusehen, was sie sind - als Menschen.« Deutschlandfunk Kultur Buchkritik, Günther Wessel