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Sozialistischer Realismus hausgemacht: Gerhard Sawatzkys zwiespältiger Roman "Wir selbst"
Marx und Engels. Diesmal nicht die Hegel-Umdreher, sondern die beiden Städte an der Wolga, die erste 1920, die zweite 1931 umbenannt. Noch während der Zar gegen Wilhelm II. Krieg führte, ließ sich Lenin mit Billigung der deutschen Regierung im plombierten Eisenbahnwagen nach Russland schmuggeln, im Gepäck das ideologische Unterfutter für den neuen Sowjetstaat. Die Russlanddeutschen begrüßten die provisorische Regierung, erhielten sie nun doch den Status einer Arbeitskommune, aus der sich 1924 die Wolgarepublik entwickelte. Sie bestand bis zum nächsten Weltkrieg, bis 1941. Mit Engels als Hauptstadt.
Gerhard Sawatzkys Roman "Wir selbst" von 1938 wird als großes Epos über diese Republik angekündigt, obwohl das Vorspiel zur Gründung und die Auflösung fehlen: Da war der Autor längst verhaftet. Er starb 1944 im Lager, der Roman, bereits gesetzt, blieb ungedruckt.
Die Handlung endet also irgendwann in den dreißiger Jahren, klar in der lichten Zukunft verortet: vom Großen Terror kein Wort, dafür ein Hohelied der Kollektivierung. "In süd-westlicher Richtung stieg jetzt der lachende Vollmond am Himmel empor und übergoss mit weichem Dämmerlicht die endlosen Stoppelfelder, die riesigen Schwarzackerflächen, den Apfelgraben der Kollektivwirtschaft ,Lenins Weg'".
Der fast eintausendeinhundert Seiten starke Roman lässt sich somit in wenigen Worten zusammenfassen: Nach den Greueln des Kriegskommunismus und den Wirrnissen der Neuen Ökonomischen Politik folgt von 1929 an im zweiten Anlauf die Zwangskollektivierung, gepaart mit Verstaatlichung der Produktionsmittel bei forcierter (Schwer)Industrialisierung. Der Wirtschaftswandel wird den Bewusstseinswandel schon bringen. Sawatzky schildert all das plastisch, aber ohne intellektuelle Herausforderung; Figuren ohne jede Psychologie, positive oder negative Helden, Kommunisten oder Konterrevolutionäre. Mit Elly und Heinrich dann noch eine Liebesgeschichte - und fertig ist die Produktionsschmonzette. Im Pressetext des Verlags und im Nachwort heißt es indes, dass dem Autor die Todesangst "im Nacken saß" und er mit seinem Werk "die damalige Epoche in ihrem Geist, ihren Verirrungen und ihrer Tragik erfasst" habe. Also keine Linientreue, sondern die "Kinder von der Wolga" als Pendant zu denen vom Arbat?
In seinem mit mehr als 150 Seiten recht opulenten Nachwort hält Carsten Gansel fest, Sawatzky habe Hunger und Kannibalismus benannt, was nicht ohne Risiko war, denn es hätte als "Verleumdung" ausgelegt werden können. Allein, es handelt sich um einen einzigen Absatz am Ende der ersten hundert Seiten . . . Eine weitere mutige Entscheidung sieht Gansel in Sawatzkys Verfahren, kritische Äußerungen der Figuren nicht durch einen auktorialen Erzähler zu kommentieren, freilich ohne dass dahinter "das Bemühen, dem Leser Einsichten etwa in den stalinistischen Terror zu vermitteln", stünde. Doch so widerwärtig, wie diese Figuren gezeichnet sind, erübrigt sich jeder Kommentar. Die Frage, wie anregend die Lektüre solcher Passagen ist, steht auf einem anderen Blatt.
Es bleibt ein Punkt, den Gansel nicht anspricht: die geänderte Minderheitenpolitik in der Sowjetunion. Wurden in den ersten Jahren nach der Revolution Minderheiten gefördert, kam es in den dreißiger Jahren zur Russifizierung. Führende Persönlichkeiten nationaler Gruppen wurden - auch im Zuge des Großen Terrors - verfolgt, verhaftet und getötet. Laut Gansel setzt sich Sawatzky aber "für eine autonome und gleichberechtigte russlanddeutsche Nationalität" ein und entwirft in seinem Roman "die Utopie eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens der Völker der Sowjetunion", wobei "die Russlanddeutschen als Ideal des neuen Menschen" vorgestellt werden. Hier dürfte eher der Grund für seine Verhaftung und die Absetzung des Romans liegen.
Sawatzky wird im Nachwort als führende Persönlichkeit der damaligen russlanddeutschen Literaturszene vorgestellt, seine anderen Werke bleiben jedoch unerwähnt. Er hat Lyrik geschrieben, eine Sammlung "deutscher revolutionärer Poesie" von 1928 trug den Titel "Rote Knospen" nach einem seiner Gedichte; 1934 erschien die Erzählung "Unter weißen Mördern", hinzu kamen weitere Kurztexte und journalistische Arbeiten.
Die Kommunisten in "Wir selbst" haben ihre Signale längst gehört und wissen, dass auf Gott, Kaiser oder Tribun kein Verlass ist. "Wir haben ein Recht, stolz darauf zu sein", sagt einer von ihnen, "denn alles, was wir haben, haben wir selbst errungen, mit vereinten Kräften und unter der weisen Führung der Kommunistischen Partei der Bolschewiki", und deshalb "müssen wir selbst, ein jeder von uns, das sozialistische Eigentum und all unsere Errungenschaften schützen wie den Augapfel, damit uns der Weg zum höchsten Ziel der gesamten werktätigen Menschheit, zum Kommunismus frei bleibe." Sogar Gansel gibt zu, das Werk könne "durchaus im Sinne der neuen Macht gedeutet werden, aber es ist mehr. Es betont die Bedeutung der russlanddeutschen Gemeinschaft, denn im Text bleibt die Handlung auf diese Gruppe konzentriert", weshalb sich dort, wo die Aussagen der Figuren "mitunter in Gefahr stehen, ins Plakative umzuschlagen", eine Leseweise durchsetze, "die allzu Klassenkämpferisches infrage stellt", noch dazu "hinter dem Rücken des Erzählers". Welche Sicht bitte, außer der, dass bei der Kollektivierung von Zwang keine Rede sein kann, sondern diese von "uns selbst" gewollt war? Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit . . .
Im Nachwort werden einige Literaturkritiker zitiert, die "Wir selbst" und Michail Scholochows "Neuland unterm Pflug" auf eine - und zwar hohe - Stufe stellen, ohne dass erwähnt würde, wie umstritten dieser Roman während der Perestroika war. Es gab sogar Forderungen, ihn wegen Geschichtsklitterung aus dem russischen Lehrplan zu streichen. Eine Renaissance erlebten damals andere: Andrej Platonow, Michail Bulgakow, Isaak Babel oder Artjom Wesjoly. Ihre Werke sind facettenreich, erschütternd und voll Phantasie. Brisant. Und in keinem Werk heißt es, einzig die Kollektivierung verhindere, dass "wir mit den Menschen so unbedacht und schonungslos umgehen". Oder man brauchte dringend "einen sowjetischen Ordnungssinn und eine bewusste Arbeitsdisziplin".
Sawatzkys "Wir selbst" birgt nichts "hinter dem Rücken des Erzählers". Wenn der Herausgeber Carsten Gansel einschränkt, man erfasse die Bedeutung des Romans nicht, "wenn man die Historie der Russlanddeutschen nicht kennt", ist ihm zu widersprechen. Ob mit diesem Wissen oder ohne: Der Kaiser ist und bleibt nackt.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Gerhard Sawatzky: "Wir selbst". Roman.
Hrsg. von Carsten Gansel. Galiani Verlag, Berlin 2020. 1088 S., geb., 36,- [Euro].
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