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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Facette
Welchen Einfluss hatten
migrantische Kulturen auf die
den NDW-Pop der Achtziger?
Der Höhepunkt der Neuen Deutschen Welle 1982, als Markus mit „Ich will Spaß“ die Charts anführte, ist heute genauso weit entfernt wie damals der deutsche Angriff auf Stalingrad. Post-Punk und New Wave sind historische Phänomene, die inzwischen Geschichtsbücher und Museen füllen, und eine besonders interessante und unerwartete Perspektive hat nun der Journalist Ulrich Gutmair gewählt: In seinem Buch „Wir sind die Türken von morgen“, benannt nach der Schlusszeile des Lieds „Kebabträume“ von DAF, beschäftigt er sich mit dem Einfluss migrantischer Kultur auf die neue deutschsprachige Musik in den Jahren um 1980.
Zentraler Protagonist ist Gabi Delgado-López, Sänger und Tänzer bei DAF, der bis zu seinem achten Lebensjahr bei der Großmutter in Spanien aufwuchs und 1966 seinen dem Franco-Regime entflohenen Eltern nach Dortmund folgte. Die insgesamt neun Verse von „Kebabträume“, die Delgado-López 1978 unter dem Eindruck eines Berlin-Konzerts zur Eröffnung des Kreuzberger Clubs SO36 schrieb, unterzieht Gutmair einer umfassenden literatursoziologischen Interpretation, in der er die persönliche Biografie des Musikers, die Geschichte des sogenannten Gastarbeiterabkommens der BRD zwischen 1955 und 1973 und die reaktionären politischen Ideologien der von Helmut Kohl eingeforderten „geistig-moralischen Wende“ miteinander in Beziehung setzt. Den sloganhaften Text würdigt er als eine Signatur der Epoche, verfasst „in einem historischen Moment, in dem sich die Westdeutschen bewusst zu werden beginnen, dass sie in einem Einwanderungsland leben“.
Ulrich Gutmair findet zahlreiche Dokumente für diese Allianz von Neuer Deutscher Welle und migrantischer Kultur, etwa das Lied „Aşk Mark ve Ölum“ („Liebe, D-Mark und Tod“) auf dem letzten Album von Ideal, dessen türkischer Text auf der Plattenhülle zwar abgedruckt, aber nicht übersetzt wurde, weil sich die Band erhoffte, dass Fragen nach seiner Bedeutung neue Bekanntschaften zwischen Deutschen und Türken stiften könnten. Eine andere wichtige Figur des Buches ist Angelo Galizia, italienischstämmiger Sänger der Limburger Band The Wirtschaftswunder, dessen Texte ebenfalls das Aufwachsen als „Gastarbeiterkind“ in Deutschland thematisieren.
„Wir sind die Türken von morgen“ ist eine Mischung aus pophistorischen Szenen, Interviewpassagen und eingefügten Zusammenfassungen maßgeblicher Denksysteme der Zeit (etwa von Habermas und Theweleit) und macht immer wieder anschaulich, wie sehr sich das Deutschland der frühen Achtziger trotz der modischen und klanglichen Frische einer Band wie DAF von der Gegenwart unterscheidet.
Die Nähe zu Weltkrieg und Holocaust war noch im Straßenbild spürbar, an den beinamputierten Kriegsveteranen, denen sowohl Mittagspause als auch Family 5 einen Song widmeten, an den Beschimpfungen der Punks, denen von Passanten bescheinigt wird, dass sie „unter Hitler vergast“ worden wären, oder auch an einer berührenden Figur wie dem alten jüdischen Friseur in Düsseldorf, der 1980 noch wusste, wie man die unter den ersten Punks beliebte Dreißigerjahre-Kurzhaarfrisur schnitt, und der sich später das Leben nahm.
Die Stärke des akribisch recherchierten Buches sind die unzähligen Details und Funde, die Gutmair mit der Souveränität des profunden Kenners einstreut, über die Frühgeschichte des Döners in West-Berlin, über die heimliche Quelle der Texte Falcos, der sich regelmäßig bei den Songs der ersten Wiener Punkband Chuzpe bediente, oder darüber, dass Schlagzeuger und Programmierer von DAF, Robert Görl, immer dann wusste, dass ein Song Gestalt annahm, wenn Gabi Delgado im Studio zu tanzen begann.
Um klare, stringent durchargumentierte Hypothesen geht es dem an Exkursen reichen Buch weniger, was daran liegen könnte, dass sein nur zwischen den Zeilen zu fassendes Thema – der migrantische Anteil der Neuen Deutschen Welle – eher eine faszinierende Facette als eine markante historische Spur ist. Die ersten Assoziationen zu NDW (Markus, Nena, Fehlfarben, Joachim Witt, Peter Schilling) sind so weiß und heteronormativ wie kaum eine andere popkulturelle Strömung der vergangenen Jahrzehnte. Markus’ berühmter Refrain hieß „Ich geb Gas, ich will Spaß“ – eine Wortfolge, die 37 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bereits wieder von großer Unbedarftheit der deutschen Geschichte gegenüber zeugte.
ANDREAS BERNARD
„Kebabträume“ von
DAF wird zur Signatur
der Epoche
Ulrich Gutmair: Wir sind die Türken von morgen – Neue Welle, neues Deutschland. Tropen Verlag, Berlin 2023. 304 Seiten, 22 Euro.
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