Als die vierzehnjährige Gloria Ramírez mehr tot als lebendig auf der Veranda von Mary Whiteheads Ranch gefunden wird, wissen Mary und die anderen Frauen von Odessa, was jetzt passieren wird. Aber sie wissen auch, dass sie dieses Mal zusammenhalten werden.
Eine eindringliche Erkundung der Schnittstellen von Gewalt, Herkunft und Klasse.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Die menschlichen Kosten des Ölbooms sind hoch: Elizabeth Wetmores überzeugendes Debüt
Odessa im Westen von Texas, da möchte man nicht tot über dem Zaun hängen. Hitze, Staub, Sandstürme, Wüste, im Boden das Erdöl als Wiedergutmachung Gottes für diesen Planungsfehler. In den Siebzigerjahren eine boomende Stadt, zwölftausend Neubürger innerhalb eines Jahrzehnts: Ölarbeiter, die wie Goldsucher von der Aussicht auf schnelles Geld angelockt werden, dazu illegale Mexikaner. Es gilt das Gesetz der Ölbarone.
Keine gute Umgebung für Frauen und Kinder. Das muss auch die minderjährige Mexikanerin Gloria Ramírez erleben, als sie zu einem Weißen in den Pick-up steigt. Eine mehrstündige Vergewaltigung später taumelt sie auf eine Farm zu, verfolgt von ihrem Peiniger. Auf der Veranda - eine Farmersfrau mit Gewehr. Mary Rose Whitehead rettet dem Mädchen das Leben, hält diesen Dale Strickland in Schach, bis die Polizei kommt. Und bringt damit auch sich in Bedrängnis. So laufen die Dinge hier nämlich nicht. "Wie nennt man eine alleinziehende Mutter, die morgens früh rausmuss? Schülerin."
So weit die Ausgangslage in Elizabeth Wetmores Debütroman "Valentine" (2020), der in der stilsicheren Übersetzung von Eva Bonné den lyrischen Titel "Wir sind dieser Staub" trägt, in Anspielung auf eine Gedichtzeile von Larry Levis. Die heute dreiundfünfzigjährige Autorin hat ihrer Heimatstadt Odessa im Alter von achtzehn Jahren den Rücken gekehrt, nun verankert sie die Ölstadt mit einem staubtrockenen, ausgeglühten Roman auf der literarischen Weltkarte. Wie viele Romane dieser Krimiboomjahre kümmert sich Wetmore nicht um Genregepflogenheiten; immerhin taucht die Staatsgewalt noch auf, aber ihr Unwillen ist deutlich: Die Ordnung soll nicht geändert werden.
Das bleibt die Aufgabe einer Handvoll Frauen, deren Profile Wetmore mit genauem Hinsehen, Raffinement und Einfühlung entwickelt. Neben Glory, wie sich das Mädchen nach der Vergewaltigung nennt, und Mary Rose ist das vor allem die Nachbarin Corrine Shepard, die wenige Wochen bevor sie Mary Rose kennenlernt, ihren Mann Potter verloren hat. Der ehemalige Luftwaffensoldat, der nie mehr in ein Flugzeug stieg, hat sich erschossen, um seinem Krebstod zuvorzukommen. Er hat es wie einen Jagdunfall aussehen lassen, damit Corrine die Lebensversicherung kassieren kann. Die Witwe ertränkt ihren Schmerz mit Bourbon.
Da ist das von seiner Mutter Ginny verlassene und verwilderte Mädchen Debra Ann Pierce, das einen traumatisierten Kriegsveteranen namens Jesse aufspürt. Er arbeitet als Faktotum in einer "Tittenbar", haust in einer Betonröhre, bis er genügend Geld verdient hat, um nach Tennessee heimzukehren. Der Vergewaltiger, ein Pfarrerssohn aus Arkansas, lebt als "guter Junge", der keiner Fliege etwas zuleide tun kann, recht ungeniert.
In Odessa unterscheidet man den Weg zum Tod nach Geschlecht. Männer sterben bei Schlägereien, wegen Gaslecks und Explosionen, weil sie betrunken Gleise überqueren oder von Kühltürmen fallen. "Frauen kommen um, wenn sie Krebs kriegen oder den Falschen heiraten oder zu fremden Männern ins Auto steigen." Diese Mechanik ist durch den Fall Gloria Ramírez gestört. Ein zäher Widerstand entwickelt sich, erst kaum spürbar. Da sind etwa die Kellnerinnen, die wissen, dass Strickland ein Perverser ist, der auf Brünette steht. Derweil versteckt Glorys Onkel Victor die an Körper und Seele zerschundene Nichte in einem Motel, während sie auf den Tag des Prozesses warten.
Elizabeth Wetmore geht mit den Frauen nicht gnädig um, zeigt sie als gebrochene Figuren, mit Resten von Würde und Widerstand, die sich einen Weg ins Freie suchen, weit weg von gesellschaftlichen Diskursen: Washington ist fern, und nach Watergate ist das Vertrauen in die Politik ohnehin zerstört. Dass daraus literarisch keine Schwarz-Weiß-Malerei wird, verdankt sich der Ausdruckskraft der Autorin, obwohl auch sie das epidemisch eingesetzte historische Präsens verwendet. Wie souverän Wetmore Klischees umschifft, macht ihren Roman bemerkenswert. Er ist zeithistorisch verankert, greift aber dank seiner sprachmächtigen Bilder aus ins Überzeitliche. HANNES HINTERMEIER
Elizabeth Wetmore: "Wir sind dieser Staub". Roman.
Aus dem Englischen von Eva Bonné. Eichborn-Verlag, Köln 2021. 319 S., geb., 22,- Euro
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