»Und dann gab es noch dieses Wort, das sie im Dorf nur hintenrum sagten, manchmal aber auch vornrum, dann spuckten sie es auf dem Boden. Judith sagte das Wort nicht, selbst wenn Besuch kam und fragte, was es damit auf sich hatte.« |117
Als ich den ausführlichen FAZ Podcast zum Buch mit der
Autorin hörte, stand die Entscheidung schnell fest. Dieses Buch möchte ich unbedingt lesen, wegen der…mehr»Und dann gab es noch dieses Wort, das sie im Dorf nur hintenrum sagten, manchmal aber auch vornrum, dann spuckten sie es auf dem Boden. Judith sagte das Wort nicht, selbst wenn Besuch kam und fragte, was es damit auf sich hatte.« |117
Als ich den ausführlichen FAZ Podcast zum Buch mit der Autorin hörte, stand die Entscheidung schnell fest. Dieses Buch möchte ich unbedingt lesen, wegen der Konstellation, wegen der Perspektiven, des Humors und wegen dem Blick, den die Autorin einzunehmen scheint. Auch wenn es aus Sicht eines Kindes geschrieben ist, war es zu interessant, eine deutsche christliche Aussteigerfamilie in der Provinz Rumäniens mit einer Tochter, die wichtige Jahre ihres Heranwachsens dort verbringt, die ganz anders dazugehört als ihre Eltern und trotz des Vielvölkergemischs in einem von außen blickenden Dazwischen verbleibt.
Anfang der 90er Jahre wandern die Eltern mit der 5jährigen Judith ins ihnen unbekannte Rumänien aus. »Wir sind hier für die Stille« und das einfache Leben, wir wollen geben und helfen, dem spießigen Deutschland und einem Elternhaus, das in der Nazizeit Schuld auf sich geladen hat, entfliehen, hätten die Eltern geantwortet, wäre Judith schon in einem Alter gewesen, in dem sie hätte fragen können.
In ihrem Hereinwachsen in die transsilvanische Provinz folgt Judith dem Blick vieler, ihrer Eltern, die immer außen vor bleiben, der alten siebenbürgischen Sächsin Lizitanti, die sie gleich adoptiert, der alten Frauen, die bei der "aufsuchenden Mützenarbeit" mitmachen, der Lehrerin, die ihr elaboriertes rumänisch lobt und den Gleichaltrigen George, Blanka, aber vor allem ihrer liebsten Freundin Irina. Armut, Abgrenzung, Ungleichheiten und Gewalt versteht Judith nicht. Sie läuft barfuß, wie ihr Papa und wie die "Schmutzigen", die keine Schuhe zu haben scheinen. Roma oder gar das Z-Wort mag sie nicht verwenden, sie liebt ihre Freundin Irina, die Interesse hat an der Schule, aber nicht immer kommen kann. Judith möchte wie Irina sein und Irina mitziehen in die Bildung und Chancen, doch kommen Grenzen, Widerstand und Widerspruch auf.
Sehr unterhaltsam, manchmal naiv, manchmal lustig und oft bestechend klar verhandelt das Debüt von Dorothee Riese so die Widersprüche von Fremdsein und Vertrautheit, von Macht und Ausschluss und von den Spannungsfeldern der naiven Utopie eines Universalismus aus einer priveligierten Position der "Helfenden" heraus. Sie trifft damit einen Kern der Ambivalenzen von Helfenden und Aussteigern, die sich auf sog. Entwicklungshilfe übertragen lassen, deren Widersprüche auch nicht mit dem Framing Entwicklungszusammenarbeit verschwinden. Sehr lesenswert.