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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ohne Punkt und Großschreibung: Kaleb Erdmann schickt in seinem preisgekrönten Debütroman "wir sind pioniere" ein Paar auf Deutschlandreise.
Wie gibt man der Atemlosigkeit unserer Zeit eine Form? Kaleb Erdmann hat in seinem Erstling "wir sind pioniere", gerade ausgezeichnet mit dem Debütpreis der lit.Cologne, eine ausgefallene Antwort auf diese Frage gefunden. Der Roman erzählt die Geschichte von Vero und Bruckner, einem Millennial-Paar auf dem Weg in die Elternschaft. "Auf dem Weg" ist wörtlich zu nehmen, denn einer der Kniffe besteht darin, die Protagonisten sehr viel Zug fahren zu lassen. Das erlaubt nicht nur Witzigkeiten über die Deutsche Bahn, sondern vor allem den beiden Protagonisten, hauptsächlich mit sich beschäftigt zu sein, während sie in spärlichem, dafür aber hoch reflektiertem Messenger-Kontakt sind - Liebe heute. Präsentiert wird das kreative Kleinbürgertum, das sich bemüht, die Unstetigkeit der von außen diktierten Lebensumstände durch ein Avantgarde-Gefühl aufzufangen, und dabei gelegentlich den Boden unter den Füßen verliert.
Die Perspektive wechselt kapitelweise zwischen Vero und Bruckner. Letzterer hat am "Mannheimer Popinstitut" (einer leicht verfremdeten Popakademie Baden-Württemberg) studiert, und das dystopisch-reale Tech-Projekt eines Kommilitonen begleitet ihn in Form von allerorts aufgestellten riesigen Bildschirmen auf seiner Reise. Die führt ihn von Graz, wo er sich mit Vertretern eines Energydrink-Start-ups traf, über München und Dinkelscherben, wo der ICE eine Panne hat, nach Stuttgart zu Vero.
Etwas "Faserland" schwingt mit auf dieser Deutschlandreise, bei der die Städtebeschreibungen besonders große Freude bereiten. Statt exzessiver Dekadenz inmitten von Luxus bewegt man sich hier allerdings in allgemeiner Mittelmäßigkeit, die sich schon darin ausdrückt, dass Berlin als Epizentrum dieses Milieus keine Rolle spielt. Dass sich die entsprechenden Lebensformen deutschlandweit allerorts finden - außer vielleicht in München -, relativiert dabei en passant wiederum das sich als Vorreiter so wichtig nehmende Berlin.
Vero, die kellnernde Architektin, ist in der Zwischenzeit unterwegs von Stuttgart nach Mannheim zu ihrer Langzeit-Affäre Keno, um diese angesichts ihrer Schwangerschaft zu beenden. Zwar hatte sie schon per Videocall Schluss gemacht, doch ein so emotionales Unterfangen scheint doch mehr Nähe zu verlangen, als die bürokratisch geführte offene Beziehung suggerierte. Mit der Affäre muss sie auch ihr zweigeteiltes Leben zwischen Mannheimer Technopartys und Erwachsensein in Stuttgart verabschieden - eine Spaltung, die sich aufdrängt als der eigentliche Grund des amourösen Doppelspiels, für das Keno, ein amphetaminabhängiger Jörg-Fauser-Fan, eben das passende Material abgibt. Vero ist in ihrer Liebe zur Nichtfestlegung vielleicht noch etwas mehr Pionierin der flexiblen Gegenwart als Bruckner, doch der psychoanalytisch geschulte Blick erkennt in dessen Objektwahl dasselbe Bedürfnis.
Roman und Leben der Protagonisten funktionieren etwa so wie die Vergnügungs-Rutschfahrt des werdenden Vaters in den Grazer Schlossberg hinein: Gedanken über die zukünftige prekäre Existenz im nahezu freien Fall, dabei aber halbwegs sicher verpackt in einen großen Filzsack. Erdmanns durchgehender Verzicht auf Interpunktion und Majuskel machen das Tempo dieser Fahrt literarisch erfahrbar. Hier ist kein Halten, und die einzige Figur, die einen Moment zum Atemholen gefunden hat, ist eine ulkige Managerin, die künftig Labradore züchten will.
Das könnte nach karikaturesker Vereinfachung klingen, doch der Ton ist frei von Hohn: Es ist eher eine schelmische Direktheit, die das Geschehen begleitet, und selbst da, wo ein Gericht aus Linsen, Feta und Fertigpesto auf den Tisch kommt, nicht frei von Mitgefühl ist. Das Typische darzustellen, ohne dass es langweilig wird, nur weil es typisch ist, gelingt Erdmann dank einem nahezu programmatischen Minimalismus; das Buch ist entsprechend schmal. Erdmann beweist, dass Lebendigkeit nicht ein Produkt von Fülle sein muss, sondern Reduktion ein hohes Maß an Anschaulichkeit hervorzubringen vermag. Das klingt dann, wenn Bruckner über sein Leben nachdenkt, etwa so: "wenn ich schon mit der ganzen nido blamage nicht abschließen kann weil an jeder scheiß ecke diese schizoide orwellsche horrordystopie rumsteht (. . .) dann könnte doch wenigstens privat ein bisschen closure ein bisschen schließung ein bisschen abschließung drin sein aber nein natürlich nicht selbstverständlich nicht die gartentore stehen weit offen und jeder kommt nach lust und laune rein und fickt meine freundin". Diese formale Eigensinnigkeit hebt den Roman nicht nur von einem Großteil derjenigen Gegenwartsliteratur ab, die Moritz Baßler als "Midcult" bezeichnet hat, sondern auch von inhaltlich Verwandtem wie Leif Randts "Allegro Pastell" oder Thomas von Steinaeckers "Die Privilegierten".
Man mag es übertrieben finden, dass Bruckner schließlich in seinem eigenen Urin und Vero im gemeinsamen Wohnzimmer inmitten einer eingestürzten Regalwand steht - im selben Raum halten sich die beiden übrigens nie auf -, doch dieses Totalchaos ist dann doch ein recht adäquates Bild unserer Zeit. Die aber immerhin auch augenzwinkernde Klugheiten wie dieses Buch von Kaleb Erdmann hervorbringt. KATHRIN WITTER
Kaleb Erdmann: "wir sind pioniere". Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2024.
176 S.,geb., 20,- Euro
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