Eine hochaktuelle Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit
Der junge Historiker Alexander forscht zum Gulag, genauer gesagt zu der Frage, was die Menschen dort am Leben gehalten hat, Hoffnung, Liebe?
Dafür trifft er sich mit Lew Mischenko, der im Gulag saß und währenddessen
Briefkontakt zu seiner Frau hatte. Alex soll diese Briefe bekommen. Einzige Bedingung: Er soll mit Lew nach…mehrEine hochaktuelle Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit
Der junge Historiker Alexander forscht zum Gulag, genauer gesagt zu der Frage, was die Menschen dort am Leben gehalten hat, Hoffnung, Liebe?
Dafür trifft er sich mit Lew Mischenko, der im Gulag saß und währenddessen Briefkontakt zu seiner Frau hatte. Alex soll diese Briefe bekommen. Einzige Bedingung: Er soll mit Lew nach Petschora reisen, tief in Russland, wo er noch einmal einen alten Lagerfreund treffen will.
Diese Reise wird auf knapp 150 Seiten, unterteilt in 9 Tage, nacherzählt. Gerade durch die klare Sprache, die nicht künstlich emotionalisiert, hat der Roman bei mir wahnsinnig viel ausgelöst. So viel, dass ich es immer noch nicht so ganz formuliert bekomme. Jedenfalls erhält man hier nicht nur einen Einblick in die Haft im Gulag selbst, sondern auch in das Leben danach, in die Verbindung aus beiden Leben. Die Freundschaften, die das Gulag überdauern, von außen nicht leicht nachvollziehbare Freundschaften zu den "freundlicheren" Wärtern.
Die Figur von Alex ermöglicht für Leser*innen, die vom Thema wenig Ahnung haben (so wie mich) eine Verbindung zu den Charakteren, die diese weder bloßstellt noch zu reinen Forschungsobjekten degradiert. Alex ist empathisch und seinen Blick auf Lew, Jakow und das moderne Russland transportiert Funk wahnsinnig eindrücklich, sensibel, nachdenklich und kraftvoll.
Am Ende des Buchs flossen bei mir die Tränen, was ziemlich selten passiert. Auch das aber nicht als Ergebnis erzwungener Emotionalität, sondern aus Fassungslosigkeit, Wut und Traurigkeit über die Unmenschlichkeit dieses Systems.
Nicht, dass ich Funk oder den Verbrecher*innen so etwas zugetraut hätte! Dass es hier aber gar nicht zur Debatte steht, weil der Roman und die Figur von Lew für sich sprechen, ist ein weiteres Argument für dieses Buch.
Funk hat in dem Roman viele eigene Erfahrungen verarbeitet, denn er schrieb seine Magisterarbeit über die Erinnerung Gulag-Überlebender und traf 2004 dafür Lew und Swetlana. Dementsprechend schreibt hier aber auch ein Historiker, ein Fachmensch, dessen Wissen den Roman zusätzlich fundiert und ihm Tiefe verleiht.
"Wir verstehen nicht, was geschieht" ist von trauriger Aktualität. Bis heute sind die Verbrechen Stalins in Russland unzureichend aufgearbeitet und unter Putins Großmachtfantasien hat sich das noch verstärkt. Die Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich dieser Aufklärung verschrieben hat, wurde im November 2021 von der russischen Justiz aufgelöst und erhielt vergangenen Oktober den Friedensnobelpreis.
Funk schreibt im Nachwort, dass das heutige Russland ohne das Wissen um dieses Regime nicht verständlich sei.
Diese Aktualität und Relevanz des Romans wird vielleicht heute, am ersten Jahrestag des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, noch einmal deutlicher. Deshalb: Lest dieses Buch, ertragt die Emotionen, die dabei hochkommen. Bestenfalls beendet ihr den Roman mit unglaublich viel Wut und etwas mehr Verständnis für die Komplexität der osteuropäischen Geschichte - und den Wunsch der meisten osteuropäischen Staaten, von Russland unabhängig zu bleiben.