Sie wurden im selben Jahr 1889 geboren und im gleichen Alter 1911 von einer ungeheuren Leidenschaft des Philosophierens ergriffen, die ihre Denk- und Lebenswege beherrschte und einzigartig machte: Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein. Dabei waren sie der Herkunft nach grundverschieden: Wittgenstein entstammte einer großbürgerlichen Familie in der Metropole Wien, Heidegger kam aus einer badischen Kleinstadt und einfachen Verhältnissen. Aber beide gehören zu den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, und für beide wurde die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (auch Hitler war Jahrgang 1889) und den Katastrophen der Epoche ein zentrales Thema. Bestsellerautor Manfred Geier geht den Biographien der beiden Denker nach und beschreibt, wie andersartig ihre Lebenswege waren und wie divergierend ihre Gedanken sich entwickelten. «Sein und Zeit» hieß der Hauptwerk des einen, «Tractatus logico-philosophicus» das des anderen Autors. Während Heideggers Denken im Verlauf seines Lebens immer allgemeiner und abstrakter wurde, das Dasein hinter sich ließ und das «Sein» selbst zur Sprache bringen wollte, begann Wittgenstein, sich immer genauer und differenzierter den alltäglichen Sprachgebrauch anzuschauen und in den Zusammenhang menschlicher Lebensformen einzubinden. Eine faszinierende Spurensuche mit überraschenden Einsichten und Ergebnissen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2017Wovon man auf dem Feldweg sprechen kann
Sohn aus reichem bürgerlichen Haus gegen Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen: Manfred Geier spannt Wittgenstein und Heidegger zusammen.
Von Helmut Mayer
Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger sind die beiden Philosophen, die über das vorige Jahrhundert hinaus nicht nur als Autoren, sondern vor allem auch als Figuren präsent geblieben sind. Oder besser noch: immer präsenter wurden. Kein anderer Philosoph und keine Philosophin haben es nach ihnen zu vergleichbarer Ausstrahlung gebracht. Sie verdankt sich einer Wirkung, die über die akademischen Befassungen mit ihren Texten - und hier durchaus nicht nur in philosophischen Seminaren - weit hinausgeht.
Eine Wirkung, in der zudem die Texte mit den Figuren ihrer Autoren eng verknüpft bleiben. Zwar ist diese Verknüpfung der philosophischen Beiträge mit biographischen Elementen im Fall Wittgensteins noch um einiges deutlicher als im Fall Heidegger. Doch für beide gilt, dass man ihre Texte nicht einmal gut kennen muss, um doch mit dem einen wie dem anderen Vorstellungen von philosophischer Exemplarität zu verbinden.
Der Reiz dieses philosophischen Figurenpaars hat natürlich auch damit zu tun, dass es viele Kontraste verkörpert. Gemeinsamkeiten lassen sich zwar festhalten, so wie nun auch Manfred Geier in seinem Buch über die beiden Philosophen den von Heidegger behandelten Umstand, dass wir immer schon in die Welt verstrickt sind, mit Wittgensteins Beobachtungen zur Fundamentalität von Lebensformen und den ihnen assoziierten Sprachspielen zusammenspannt. Doch über einer solchen eher elementaren Übereinstimmung entfalten sich die Oppositionen, wie sie die von Geier parallel erzählten Biographien von Wittgenstein und Heidegger vor Augen führen.
Hier also der Sohn aus steinreichem bürgerlichen Haus, dort der Aufsteiger aus kleinen provinziellen Verhältnissen; hier der Autor, dem das Akademische tatsächlich äußerlich blieb, dort der Professor, der seine steile akademische Karriere mit antiakademischen Gesten zu verknüpfen wusste; hier der weltläufige schwierige Mann, der von Wien nach Cambridge ging, dort der Lobredner der bodenständigen Provinz; hier der Antibürgerliche aus großbürgerlich erworbener Selbstgewissheit, dort der verschmitzte Messkircher auf denkerisch bedeutsamem Feldweg; hier der nach Rassengesetzen zum "Dreiviertel-Juden" Gewordene, der die englische Staatsbürgerschaft annahm; dort der Freiburger Rektor, der 1933 allen Ernstes glaubte, seine verstiegenen Gedanken vom ursprünglichen deutschen Wesen vor den Karren der Nationalsozialisten spannen zu können (der den blauen Dunst zum braunen machte, wie Karl Kraus damals schrieb).
Hier der schnörkellos und knapp formulierende Autor; dort der gerade auch in privaten Aufzeichnungen tief in den Kitsch langende Kleinbürger; hier der Appell, ja nicht tief Verborgenes auszureizen, dort die tiefen Bedeutsamkeiten einer Seinsgeschichte; hier die unprätentiösen Dialogspiele der Spätphilosophie, dort die Denksprüche des auf Gott und den Untergang des amerikanisierten Westens wartenden Hüter des Seins.
Diese letzte Entgegensetzung ändert freilich nichts daran, dass beide, Wittgenstein wie Heideggger, zu unverwechselbar eigenen Darstellungsformen fanden. In Manfred Geiers Doppelbiographie werden Heideggers Tonfälle im Ganzen etwas deutlicher als jene Wittgensteins. Auch deshalb, weil der Autor kaum auf Distanz zu seinen Helden geht. Im Fall Heideggers führt das dazu, dass viele Verschmocktheiten und hochtönende Selbststilisierungen Heideggers, die als Zitat anzuführen ja jederzeit möglich gewesen wäre, in den Text von Geier einsickern.
Das klingt dann, wir sind bei Heideggers Kinderjahren mit seinem Bruder in Messkirch, etwa so: "Gerne spielten sie in den sonnigen Lichtungen, wo die Dinge sich zeigen konnten, wie sie sind, unverborgen durch das Dunkel des dicht verwachsenen Waldes." Später ist es der weidlich bekannte Feldweg, "an den der Philosoph immer wieder dachte, wenn er in seinem Denken nicht mehr weiterwusste" - was fast wörtlich eine Passage bei Heidegger aufnimmt, aber hier als Text des Biographen daherkommt.
Oder wechseln wir ins Jahr 1933, als Heidegger bereits zum Freiburger Rektor bestellt ist: "Heideggers Entschlossenheit, von der einsamen Höhe seines Philosophierens in die politischen Niederungen hinabzusteigen, führte ihn auf unsicheren Boden." Da steht zwar Heidegger nicht unmittelbar Pate, aber eine abgenutztere Wendung als jene von den einsamen philosophischen Höhen ist nicht leicht zu finden. Im Jahr 1938 angekommen, teilt uns Geier dann mit: "Es war wieder die hohe Zeit seines eigentlichen Philosophierens, in der Heidegger, fern vom Treiben der Menschen, sein Eigenstes denken konnte."
So eingestimmt geht es dahin, bei Wittgenstein immerhin droht kein hoher Ton à la Heidegger. Manfred Geier ist ein beflissener Erzähler, kennt seine Quellen und hat sich mit Fleiß durch die - natürlich nicht mehr überschaubare - Literatur gelesen. In neues Licht getaucht werden Wittgenstein und Heidegger bei ihm nicht, aber die parallel erzählte Geschichte ihrer philosophischen Parcours sorgt doch für Akzentsetzungen. Wo dann freilich auch die Fragen einsetzen: Ob man etwa wirklich bei Heidegger die "Austreibung" einer Ethik diagnostizieren kann - statt der Umgehung von einigermaßen substantiellen ethischen Überlegungen von früh an -, um ihn dem Ethiker Wittgenstein entgegenzusetzen. Allerdings meint man hier zumindest eine Parteinahme auszumachen, die man ansonsten in dieser wohltemperierten Doppeldarstellung fast vermisst, und sei es auch nur in Form einer spürbaren Versuchung, gegen die ein um Gleichbehandlung bemühter Autor anschreibt.
Über den politischen Kleinbürger Heidegger als Reversbild des in Höhe und Tiefen waltenden Philosophen darf man sich bei Geier nur eher blasse Passagen erwarten. Kampfplätze der Interpretation sind nicht das Feld dieser Doppelbiographie. Sie fällt solide, manchmal etwas betulich aus. Aber auf eigene Faust weiterlesen kann man ja dann, bei Wittgenstein wie bei Heidegger.
Manfred Geier:
"Wittgenstein und Heidegger".
Die letzten Philosophen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
444 S., Abb., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sohn aus reichem bürgerlichen Haus gegen Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen: Manfred Geier spannt Wittgenstein und Heidegger zusammen.
Von Helmut Mayer
Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger sind die beiden Philosophen, die über das vorige Jahrhundert hinaus nicht nur als Autoren, sondern vor allem auch als Figuren präsent geblieben sind. Oder besser noch: immer präsenter wurden. Kein anderer Philosoph und keine Philosophin haben es nach ihnen zu vergleichbarer Ausstrahlung gebracht. Sie verdankt sich einer Wirkung, die über die akademischen Befassungen mit ihren Texten - und hier durchaus nicht nur in philosophischen Seminaren - weit hinausgeht.
Eine Wirkung, in der zudem die Texte mit den Figuren ihrer Autoren eng verknüpft bleiben. Zwar ist diese Verknüpfung der philosophischen Beiträge mit biographischen Elementen im Fall Wittgensteins noch um einiges deutlicher als im Fall Heidegger. Doch für beide gilt, dass man ihre Texte nicht einmal gut kennen muss, um doch mit dem einen wie dem anderen Vorstellungen von philosophischer Exemplarität zu verbinden.
Der Reiz dieses philosophischen Figurenpaars hat natürlich auch damit zu tun, dass es viele Kontraste verkörpert. Gemeinsamkeiten lassen sich zwar festhalten, so wie nun auch Manfred Geier in seinem Buch über die beiden Philosophen den von Heidegger behandelten Umstand, dass wir immer schon in die Welt verstrickt sind, mit Wittgensteins Beobachtungen zur Fundamentalität von Lebensformen und den ihnen assoziierten Sprachspielen zusammenspannt. Doch über einer solchen eher elementaren Übereinstimmung entfalten sich die Oppositionen, wie sie die von Geier parallel erzählten Biographien von Wittgenstein und Heidegger vor Augen führen.
Hier also der Sohn aus steinreichem bürgerlichen Haus, dort der Aufsteiger aus kleinen provinziellen Verhältnissen; hier der Autor, dem das Akademische tatsächlich äußerlich blieb, dort der Professor, der seine steile akademische Karriere mit antiakademischen Gesten zu verknüpfen wusste; hier der weltläufige schwierige Mann, der von Wien nach Cambridge ging, dort der Lobredner der bodenständigen Provinz; hier der Antibürgerliche aus großbürgerlich erworbener Selbstgewissheit, dort der verschmitzte Messkircher auf denkerisch bedeutsamem Feldweg; hier der nach Rassengesetzen zum "Dreiviertel-Juden" Gewordene, der die englische Staatsbürgerschaft annahm; dort der Freiburger Rektor, der 1933 allen Ernstes glaubte, seine verstiegenen Gedanken vom ursprünglichen deutschen Wesen vor den Karren der Nationalsozialisten spannen zu können (der den blauen Dunst zum braunen machte, wie Karl Kraus damals schrieb).
Hier der schnörkellos und knapp formulierende Autor; dort der gerade auch in privaten Aufzeichnungen tief in den Kitsch langende Kleinbürger; hier der Appell, ja nicht tief Verborgenes auszureizen, dort die tiefen Bedeutsamkeiten einer Seinsgeschichte; hier die unprätentiösen Dialogspiele der Spätphilosophie, dort die Denksprüche des auf Gott und den Untergang des amerikanisierten Westens wartenden Hüter des Seins.
Diese letzte Entgegensetzung ändert freilich nichts daran, dass beide, Wittgenstein wie Heideggger, zu unverwechselbar eigenen Darstellungsformen fanden. In Manfred Geiers Doppelbiographie werden Heideggers Tonfälle im Ganzen etwas deutlicher als jene Wittgensteins. Auch deshalb, weil der Autor kaum auf Distanz zu seinen Helden geht. Im Fall Heideggers führt das dazu, dass viele Verschmocktheiten und hochtönende Selbststilisierungen Heideggers, die als Zitat anzuführen ja jederzeit möglich gewesen wäre, in den Text von Geier einsickern.
Das klingt dann, wir sind bei Heideggers Kinderjahren mit seinem Bruder in Messkirch, etwa so: "Gerne spielten sie in den sonnigen Lichtungen, wo die Dinge sich zeigen konnten, wie sie sind, unverborgen durch das Dunkel des dicht verwachsenen Waldes." Später ist es der weidlich bekannte Feldweg, "an den der Philosoph immer wieder dachte, wenn er in seinem Denken nicht mehr weiterwusste" - was fast wörtlich eine Passage bei Heidegger aufnimmt, aber hier als Text des Biographen daherkommt.
Oder wechseln wir ins Jahr 1933, als Heidegger bereits zum Freiburger Rektor bestellt ist: "Heideggers Entschlossenheit, von der einsamen Höhe seines Philosophierens in die politischen Niederungen hinabzusteigen, führte ihn auf unsicheren Boden." Da steht zwar Heidegger nicht unmittelbar Pate, aber eine abgenutztere Wendung als jene von den einsamen philosophischen Höhen ist nicht leicht zu finden. Im Jahr 1938 angekommen, teilt uns Geier dann mit: "Es war wieder die hohe Zeit seines eigentlichen Philosophierens, in der Heidegger, fern vom Treiben der Menschen, sein Eigenstes denken konnte."
So eingestimmt geht es dahin, bei Wittgenstein immerhin droht kein hoher Ton à la Heidegger. Manfred Geier ist ein beflissener Erzähler, kennt seine Quellen und hat sich mit Fleiß durch die - natürlich nicht mehr überschaubare - Literatur gelesen. In neues Licht getaucht werden Wittgenstein und Heidegger bei ihm nicht, aber die parallel erzählte Geschichte ihrer philosophischen Parcours sorgt doch für Akzentsetzungen. Wo dann freilich auch die Fragen einsetzen: Ob man etwa wirklich bei Heidegger die "Austreibung" einer Ethik diagnostizieren kann - statt der Umgehung von einigermaßen substantiellen ethischen Überlegungen von früh an -, um ihn dem Ethiker Wittgenstein entgegenzusetzen. Allerdings meint man hier zumindest eine Parteinahme auszumachen, die man ansonsten in dieser wohltemperierten Doppeldarstellung fast vermisst, und sei es auch nur in Form einer spürbaren Versuchung, gegen die ein um Gleichbehandlung bemühter Autor anschreibt.
Über den politischen Kleinbürger Heidegger als Reversbild des in Höhe und Tiefen waltenden Philosophen darf man sich bei Geier nur eher blasse Passagen erwarten. Kampfplätze der Interpretation sind nicht das Feld dieser Doppelbiographie. Sie fällt solide, manchmal etwas betulich aus. Aber auf eigene Faust weiterlesen kann man ja dann, bei Wittgenstein wie bei Heidegger.
Manfred Geier:
"Wittgenstein und Heidegger".
Die letzten Philosophen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
444 S., Abb., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.04.2017Hineingehalten in das Nichts
„Die letzten Philosophen“ nennt Manfred Geier in seiner Parallelbiografie
Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger, die das Unaussprechliche erforschten
VON MICHAEL STALLKNECHT
Ich kann mir wohl denken, was Heidegger mit Sein und Angst meint“, formulierte Ludwig Wittgenstein einmal gesprächsweise. Nicht nur bei seinem Gesprächspartner Moritz Schlick könnte die Bemerkung Irritation ausgelöst haben, auch die ersten Herausgeber Wittgensteins waren so befremdet, dass sie sie einfach wegließen. Schlick gehörte zum sogenannten Wiener Kreis, der unter Berufung unter anderem auf Wittgenstein die Analytische Philosophie begründen sollte. Weiterentwickelt vor allem in den USA, wird sie bis heute weithin als Gegenspieler zur sogenannten „kontinentalen“ Philosophie und damit auch zum spekulativen Denken Martin Heideggers gehandelt. „Schweigen kann nur, wer etwas zu sagen hat, von dem er sprechen kann“, wischte denn auch Heidegger in einem Handkommentar Wittgensteins berühmtestes Diktum vom Tisch, man solle darüber schweigen, wovon man nicht sprechen könne. Viel mehr Notiz nahm man offiziell voneinander nicht.
Dabei teilen beide schon biografisch verblüffend viel, weit über das gemeinsame Geburtsjahr 1889 hinaus. Beide sind vor allem mit einem, eher frühen Werk in die Philosophiegeschichte eingegangen, Wittgenstein mit dem 1921 erschienenen „Tractatus logico-philosophicus“, Heidegger mit dem erstmals 1927 publizierten „Sein und Zeit“. Beide suchten immer wieder nach Abstand zum akademischen Philosophiebetrieb und zogen sich zum Denken gern in eine selbstgebaute Hütte jenseits aller Zivilisation zurück – ins norwegische Skjolden der eine, nach Todtnauberg der andere. Und beide vollzogen dortselbst eine ziemlich genau auf das Jahr 1936 datierbare philosophische Wende, in der sie ihr Frühwerk je nach Auslegung revidierten oder gar über den Haufen warfen.
Manfred Geier, der schon über die unterschiedlichsten Denker sehr klare, auch für den nicht-akademischen Interessenten lesbare Bücher schrieb, hat diese Parallelen nun zu einer großen Doppelbiografie ausgebaut, in der die Philosophie aus dem Leben hervorgeht, ohne in ihrer Bedeutung darin ganz aufzugehen. Es ist die Erschütterung der Zeit, aus der beider Werk für Geier seinen Anstoß nimmt. Mit dem Ersten Weltkrieg brach nicht nur die politische Ordnung Europas zusammen, sondern schien beiden Philosophen auch die Metaphysik am Ende, wie sie, von den alten Griechen kommend, in vielen Verkappungen die europäische Philosophiegeschichte immer wieder geprägt hatte. Im Tractatus, entworfen buchstäblich im Kugelhagel des Ersten Weltkriegs, räumt Wittgenstein gründlich ab. Über metaphysische Sachverhalte lässt sich nicht in logischen Sätzen sprechen, sie sind unter sprachlogischen Kriterien schlicht unsinnig. In „Sein und Zeit“ dagegen geht die Zeitstimmung unverhüllt ein. Das Dasein ist bei Heidegger umstellt von Angst und von Sorge, zurückgeworfen auf sich selbst als letzten Anker. „Da-sein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts“, wie es der spätere Vortrag „Was ist Metaphysik?“ auf die prägnanteste Formel bringt.
Davon aber konnte sich Wittgenstein wohl denken, wie es gemeint war, auf einer persönlichen Ebene nämlich. Lebenslang fühlte er sich vom Nichts bedroht, philosophisch wie als Mensch. Philosophisch, weil „die Quelle vertrocknet“ war, indem er zur Philosophie alles gesagt hatte, was aus eigener Perspektive noch sagbar war. Persönlich, weil ihn ein Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit umtrieb, wie es vielleicht nur Kierkegaard philosophisch ausformuliert hatte (und damit auch zur Inspirationsquelle Heideggers geworden war). Den immer wieder von Selbstmordgedanken gequälten Wittgenstein prägte ein „tiefes Bewusstsein von Schuld und Erlösung“, wie Geier formuliert. Auch wenn sich Metaphysik nicht philosophisch betreiben lässt, ist ihm die metaphysische Erfahrung also alles andere als fremd. „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische“, heißt es im Tractatus. Intensiv liest Wittgenstein Augustinus, der in offenen Paradoxien, gerade im Widersinn also der Sprache, den Gott umkreist, von dem man nicht sprechen kann. „Trotzdem rennen wir gegen die Grenze der Sprache an“, formulierte Wittgenstein in dem Gespräch mit Moritz Schlick.
Es ist genau das, was Heidegger mit seiner philosophischen Wende zu unternehmen beginnt: Im Spätwerk wird das
„Seyn“ nahezu zur göttlichen Gestalt, an die es in immer wieder neuen Sprachanläufen anzurennen gilt. Daraus entsteht der charakteristische „Heidegger-Sound“, den Geier glücklicherweise nirgends in den eigenen Duktus überführt. Auch Heidegger findet keine diskursive Sprache mehr für die metaphysische Erfahrung. An ihrer Stelle soll eine poetische, eine künstlerische Sprache treten, die auf Sprachlogik von vornherein nicht angewiesen ist. Auch Wittgenstein wird von Rudolf Carnap, einem Mitglied des Wiener Kreises, als „Künstlernatur“ beschrieben.
Manfred Geier systematisiert solche Parallelen nicht, als literaturwissenschaftlich orientierter Autor folgt er vor allem der Lebenschronik seiner beiden Protagonisten. Dabei treten auch die Unterschiede gerade in der Lebensführung scharf hervor. Heidegger hatte in „Sein und Zeit“ bis dahin für die Ethik zentrale Begriffe wie etwa das Gewissen „ent-ethisiert“, wie Geier schreibt, „die ethische Dimension der Schuld aus dem Blickfeld gerückt“. Damit öffnete sich philosophisch mindestens ein Einfallstor für sein eigenes moralisches Versagen in den Jahren des fatalen Engagements für den Nationalsozialismus. Auch Wittgenstein hatte die Ethik in den Bereich verwiesen, der die Welt der empirisch beschreibbaren Tatsachen übersteigt. „Die Ethik ist, sofern sie überhaupt etwas ist, übernatürlich“, formuliert er. Doch an die eigene Person stellte er höchste moralische Ansprüche. Wovon sich nicht mehr sprechen ließ, das ließ sich immerhin tun. In den Jahren nach der Vollendung des Tractatus geht Wittgenstein als Volksschullehrer aufs Land, während des Zweiten Weltkriegs hilft er im Krankenhaus aus. Aus dieser Haltung erwächst für Geier auch das Spätwerk der „Philosophischen Untersuchungen“, in der Wittgenstein Sprache vor allem als soziale Praxis definiert. Sie dient nicht nur der Abbildung von Tatsachen, sondern ergibt sich aus dem alltäglichen Handeln von Menschen miteinander.
Doch in einer letzten paradoxen Wendung nähert sich der späte Wittgenstein damit genau dem an, wovon Heidegger im Frühwerk ausgegangen war. In „Sein und Zeit“ hatte dieser postuliert, dass Sprache nicht als Namen für Dinge fungiert, sondern im Dasein des Menschen in der Welt begründet ist. Wir haben immer schon Sprache, bevor wir in ihr von etwas sprechen oder schweigen.
Erzwungen wirken solche Parallelen bei Geier niemals, wie er überhaupt ein angenehm nüchternes Buch geschrieben hat. Er wertet nicht viel, beschreibt dafür aber umso genauer. Deshalb kann er sich auch den Schuss Pathos leisten, mit dem er seine beiden Protagonisten schon im Untertitel „die letzten Philosophen“ nennt. Sie sind Solitäre, die mit ihrem Eigennamen für ein spezifisches Denken einstehen. Was für Geier folgt, ist die Kooperation von Fachleuten im akademischen Umfeld. In gewissem Sinne hätten die beiden Gegensätzlichen für Geier damit also ihren Einspruch eingelöst, nicht nur die Metaphysik, sondern sogar die Philosophie zu beenden.
Es ist die Erschütterung
der Zeit, aus der beider Werk
seinen Anstoß nimmt
Auch Heidegger findet keine
diskursive Sprache mehr
für die metaphysische Erfahrung
Wir haben immer schon Sprache,
bevor wir in ihr von
etwas sprechen oder schweigen
Manfred Geier: Wittgenstein und Heidegger.
Die letzten Philosophen. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 448 Seiten, 26,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Die letzten Philosophen“ nennt Manfred Geier in seiner Parallelbiografie
Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger, die das Unaussprechliche erforschten
VON MICHAEL STALLKNECHT
Ich kann mir wohl denken, was Heidegger mit Sein und Angst meint“, formulierte Ludwig Wittgenstein einmal gesprächsweise. Nicht nur bei seinem Gesprächspartner Moritz Schlick könnte die Bemerkung Irritation ausgelöst haben, auch die ersten Herausgeber Wittgensteins waren so befremdet, dass sie sie einfach wegließen. Schlick gehörte zum sogenannten Wiener Kreis, der unter Berufung unter anderem auf Wittgenstein die Analytische Philosophie begründen sollte. Weiterentwickelt vor allem in den USA, wird sie bis heute weithin als Gegenspieler zur sogenannten „kontinentalen“ Philosophie und damit auch zum spekulativen Denken Martin Heideggers gehandelt. „Schweigen kann nur, wer etwas zu sagen hat, von dem er sprechen kann“, wischte denn auch Heidegger in einem Handkommentar Wittgensteins berühmtestes Diktum vom Tisch, man solle darüber schweigen, wovon man nicht sprechen könne. Viel mehr Notiz nahm man offiziell voneinander nicht.
Dabei teilen beide schon biografisch verblüffend viel, weit über das gemeinsame Geburtsjahr 1889 hinaus. Beide sind vor allem mit einem, eher frühen Werk in die Philosophiegeschichte eingegangen, Wittgenstein mit dem 1921 erschienenen „Tractatus logico-philosophicus“, Heidegger mit dem erstmals 1927 publizierten „Sein und Zeit“. Beide suchten immer wieder nach Abstand zum akademischen Philosophiebetrieb und zogen sich zum Denken gern in eine selbstgebaute Hütte jenseits aller Zivilisation zurück – ins norwegische Skjolden der eine, nach Todtnauberg der andere. Und beide vollzogen dortselbst eine ziemlich genau auf das Jahr 1936 datierbare philosophische Wende, in der sie ihr Frühwerk je nach Auslegung revidierten oder gar über den Haufen warfen.
Manfred Geier, der schon über die unterschiedlichsten Denker sehr klare, auch für den nicht-akademischen Interessenten lesbare Bücher schrieb, hat diese Parallelen nun zu einer großen Doppelbiografie ausgebaut, in der die Philosophie aus dem Leben hervorgeht, ohne in ihrer Bedeutung darin ganz aufzugehen. Es ist die Erschütterung der Zeit, aus der beider Werk für Geier seinen Anstoß nimmt. Mit dem Ersten Weltkrieg brach nicht nur die politische Ordnung Europas zusammen, sondern schien beiden Philosophen auch die Metaphysik am Ende, wie sie, von den alten Griechen kommend, in vielen Verkappungen die europäische Philosophiegeschichte immer wieder geprägt hatte. Im Tractatus, entworfen buchstäblich im Kugelhagel des Ersten Weltkriegs, räumt Wittgenstein gründlich ab. Über metaphysische Sachverhalte lässt sich nicht in logischen Sätzen sprechen, sie sind unter sprachlogischen Kriterien schlicht unsinnig. In „Sein und Zeit“ dagegen geht die Zeitstimmung unverhüllt ein. Das Dasein ist bei Heidegger umstellt von Angst und von Sorge, zurückgeworfen auf sich selbst als letzten Anker. „Da-sein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts“, wie es der spätere Vortrag „Was ist Metaphysik?“ auf die prägnanteste Formel bringt.
Davon aber konnte sich Wittgenstein wohl denken, wie es gemeint war, auf einer persönlichen Ebene nämlich. Lebenslang fühlte er sich vom Nichts bedroht, philosophisch wie als Mensch. Philosophisch, weil „die Quelle vertrocknet“ war, indem er zur Philosophie alles gesagt hatte, was aus eigener Perspektive noch sagbar war. Persönlich, weil ihn ein Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit umtrieb, wie es vielleicht nur Kierkegaard philosophisch ausformuliert hatte (und damit auch zur Inspirationsquelle Heideggers geworden war). Den immer wieder von Selbstmordgedanken gequälten Wittgenstein prägte ein „tiefes Bewusstsein von Schuld und Erlösung“, wie Geier formuliert. Auch wenn sich Metaphysik nicht philosophisch betreiben lässt, ist ihm die metaphysische Erfahrung also alles andere als fremd. „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische“, heißt es im Tractatus. Intensiv liest Wittgenstein Augustinus, der in offenen Paradoxien, gerade im Widersinn also der Sprache, den Gott umkreist, von dem man nicht sprechen kann. „Trotzdem rennen wir gegen die Grenze der Sprache an“, formulierte Wittgenstein in dem Gespräch mit Moritz Schlick.
Es ist genau das, was Heidegger mit seiner philosophischen Wende zu unternehmen beginnt: Im Spätwerk wird das
„Seyn“ nahezu zur göttlichen Gestalt, an die es in immer wieder neuen Sprachanläufen anzurennen gilt. Daraus entsteht der charakteristische „Heidegger-Sound“, den Geier glücklicherweise nirgends in den eigenen Duktus überführt. Auch Heidegger findet keine diskursive Sprache mehr für die metaphysische Erfahrung. An ihrer Stelle soll eine poetische, eine künstlerische Sprache treten, die auf Sprachlogik von vornherein nicht angewiesen ist. Auch Wittgenstein wird von Rudolf Carnap, einem Mitglied des Wiener Kreises, als „Künstlernatur“ beschrieben.
Manfred Geier systematisiert solche Parallelen nicht, als literaturwissenschaftlich orientierter Autor folgt er vor allem der Lebenschronik seiner beiden Protagonisten. Dabei treten auch die Unterschiede gerade in der Lebensführung scharf hervor. Heidegger hatte in „Sein und Zeit“ bis dahin für die Ethik zentrale Begriffe wie etwa das Gewissen „ent-ethisiert“, wie Geier schreibt, „die ethische Dimension der Schuld aus dem Blickfeld gerückt“. Damit öffnete sich philosophisch mindestens ein Einfallstor für sein eigenes moralisches Versagen in den Jahren des fatalen Engagements für den Nationalsozialismus. Auch Wittgenstein hatte die Ethik in den Bereich verwiesen, der die Welt der empirisch beschreibbaren Tatsachen übersteigt. „Die Ethik ist, sofern sie überhaupt etwas ist, übernatürlich“, formuliert er. Doch an die eigene Person stellte er höchste moralische Ansprüche. Wovon sich nicht mehr sprechen ließ, das ließ sich immerhin tun. In den Jahren nach der Vollendung des Tractatus geht Wittgenstein als Volksschullehrer aufs Land, während des Zweiten Weltkriegs hilft er im Krankenhaus aus. Aus dieser Haltung erwächst für Geier auch das Spätwerk der „Philosophischen Untersuchungen“, in der Wittgenstein Sprache vor allem als soziale Praxis definiert. Sie dient nicht nur der Abbildung von Tatsachen, sondern ergibt sich aus dem alltäglichen Handeln von Menschen miteinander.
Doch in einer letzten paradoxen Wendung nähert sich der späte Wittgenstein damit genau dem an, wovon Heidegger im Frühwerk ausgegangen war. In „Sein und Zeit“ hatte dieser postuliert, dass Sprache nicht als Namen für Dinge fungiert, sondern im Dasein des Menschen in der Welt begründet ist. Wir haben immer schon Sprache, bevor wir in ihr von etwas sprechen oder schweigen.
Erzwungen wirken solche Parallelen bei Geier niemals, wie er überhaupt ein angenehm nüchternes Buch geschrieben hat. Er wertet nicht viel, beschreibt dafür aber umso genauer. Deshalb kann er sich auch den Schuss Pathos leisten, mit dem er seine beiden Protagonisten schon im Untertitel „die letzten Philosophen“ nennt. Sie sind Solitäre, die mit ihrem Eigennamen für ein spezifisches Denken einstehen. Was für Geier folgt, ist die Kooperation von Fachleuten im akademischen Umfeld. In gewissem Sinne hätten die beiden Gegensätzlichen für Geier damit also ihren Einspruch eingelöst, nicht nur die Metaphysik, sondern sogar die Philosophie zu beenden.
Es ist die Erschütterung
der Zeit, aus der beider Werk
seinen Anstoß nimmt
Auch Heidegger findet keine
diskursive Sprache mehr
für die metaphysische Erfahrung
Wir haben immer schon Sprache,
bevor wir in ihr von
etwas sprechen oder schweigen
Manfred Geier: Wittgenstein und Heidegger.
Die letzten Philosophen. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 448 Seiten, 26,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Michael Stallknecht freut sich, dass Manfred Geier die Parallelen im Leben und Denken von Wittgenstein und Heidegger in seinem Buch nicht überstrapaziert. Nüchtern und in der Beschreibung genau, weniger wertend, nennt Stallknecht das Vorgehen des Autors, der biografische Übereinstimmungen zwischen den beiden Philosophen wie den frühen Erfolg, den Hang zum Einsiedlerdasein und die Prägung durch den Ersten Weltkrieg laut Rezensent in seiner Doppelbiografie zwar behandelt, doch nicht systematisiert. Der Lebenschronik folgend, so erklärt Stallknecht, lässt der literaturwissenschaftlich ausgerichtete Geier auch die Unterschiede der beiden Solitäre scharf hervortreten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Manfred Geier verbindet definitorischen Scharfsinn mit stilistischer Eleganz. FAZ.NET