Als im März 2020 wegen des Corona-Virus Ausgangsbeschränkungen verhängt wurden, fanden sich viele Menschen wie verwandelt. Sie saßen zwischen ihren wohlbekannten Wänden und fragten sich: Was ist mit mir, was ist mit uns geschehen? Die wechselseitige Abhängigkeit von anderen wurde ihnen ebenso bewusst wie die von einer Umwelt, die längst keine natürliche mehr ist.
In Bruno Latours Essay steht Kafkas Figur Gregor Samsa allegorisch für unsere Situation im Angesicht von Pandemie und Klimawandel. Wir sind auf dem Erdboden der Tatsachen gelandet und haben realisiert, dass es kein Zurück in die alte, von grenzenloser Mobilität und Ressourcenraubbau geprägte Normalität geben kann. Stattdessen müssen wir uns neu in jener hauchdünnen Kritischen Zone verorten, die Leben auf dem Planeten Erde ermöglicht.
In Bruno Latours Essay steht Kafkas Figur Gregor Samsa allegorisch für unsere Situation im Angesicht von Pandemie und Klimawandel. Wir sind auf dem Erdboden der Tatsachen gelandet und haben realisiert, dass es kein Zurück in die alte, von grenzenloser Mobilität und Ressourcenraubbau geprägte Normalität geben kann. Stattdessen müssen wir uns neu in jener hauchdünnen Kritischen Zone verorten, die Leben auf dem Planeten Erde ermöglicht.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Helmut Mauro flüchtet sich mit Bruno Latour und seinem "naiven Romanhelden", der sich die Augen reibt angesichts der Pandemie, in die "Tradition der literarischen Historie", namentlich zu Kafka und dessen Helden aus der "Verwandlung". Doch diese Flucht vor der grassierenden Dumpfheit ist nur die eine Seite des Essays, erklärt Mauro, die der Autor mit erzählerischem Geschick konstruiert. Auf der anderen aber macht Latour Ernst und konfrontiert den Leser laut Mauro mit der Realität einer "paradoxen Form negativer Universalität", auch eine Folge der Pandemie. Wie der Autor vom persönlichen Leiden am Lockdown übers abstrahierende Nachsinnen zu solcherart universellem Durchblick kommt, scheint dem Rezensenten bemerkenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2021Ökologie ist nicht grün
Es muss schon ohne Natur und Umwelt gehen: Bruno Latour nutzt Lektionen aus dem Lockdown, um eine neue Kartographie unserer Weltverhältnisse einzuüben.
Von Helmut Mayer
Die gerade zu ihrer vierten Welle auflaufende Pandemie bietet zweifellos viele Lektionen. Eine von ihnen ist die offenbar immer noch weite Verbreitung der Vorstellung, Wissenschaft könne nach Belieben sofort abfragbare und dabei definitive Einsichten an die Hand geben. Wozu noch das schwierige Verhältnis des Common Sense zu statistischen Sachverhalten kommt, obwohl den mit ihnen einhergehenden Wahrscheinlichkeiten bei Prognosen gar nicht zu entgehen ist, wenn erst einmal intrikat verschachtelte Wirkzusammenhänge unter nicht trennscharf herzustellenden Ausgangsbedingungen ins Spiel kommen - wofür das Virus sehr anschaulich und mit dramatischen Effekten sorgte.
Natürlich, es war nicht auf die Pandemie zu warten, um ein merkwürdiges Bild der Wissenschaften - als hätten sie es durchweg mit experimentellen Präparatwirklichkeiten physikalischer Provenienz zu tun - zu revidieren. Bruno Latour, renommierter Pariser Wissenschaftsforscher und -philosoph, hat diese Revision auch schon vor einiger Zeit vorangetrieben, bevor sie vor fünf Jahren zu einem zentralen Stück seiner weit ausgreifenden "Vorträge über das neue Klimaregime" wurden, denen noch ein "Terrestrisches Manifest" folgte. Jetzt liegt ein schmaler Band vor, der dort angestellte Überlegungen aufgreift und fortspinnt, nunmehr aber im Licht der Erfahrungen mit Pandemie und Lockdown.
Das Virus hat ja auf seine Weise klargemacht, was auch die Klimawissenschaften vorführen, dass wir in ein großes Geflecht von Akteuren eingebettet sind, menschlichen wie nichtmenschlichen, die als "Natur" oder "Umwelt" rein abzutrennen und uns gegenüberzustellen offensichtlich nicht mehr möglich ist. Illusorisch war diese scharfe Abtrennung zwar eigentlich schon immer, doch mittlerweile wird uns ihre Unmöglichkeit - von aufwendig hergestellten und abgedichteten Enklaven bestimmter wissenschaftlicher Praktiken abgesehen - nachgerade demonstriert. Wir bemerken dann, darauf will Latour hinaus, in dieses Geflecht, das mit jeder Forschungsanstrengung neue Agenten, Wechselwirkungen und Funktionsebenen erkennen lässt, eingeschlossen, also gewissermaßen zu einem Lockdown verurteilt zu sein. In einem Geflecht, aus dem es keinen Ausweg gibt, denn unsere unaufhebbare Abhängigkeit vom Eigensinn einer Vielzahl anderer Agenten lässt sich nur noch mit großer Anstrengung verleugnen.
Das klingt bedrohlich, und manche Effekte sind es natürlich auch. Aber für Latour steckt gerade in dieser Einschließung die dringend notwendige Befreiung von falschen Transzendenzen, also der Vorstellung vermeintlicher Auswege, die wir immer noch mitschleppen. Es geht darum, endlich wirkliche Immanenz zu erreichen, sich tatsächlich in diesem Geflecht der uns direkt oder mittelbar betreffenden Wirkmächte zu verorten, welche die sogenannte kritische Zone aufspannen, den dünnen, wenige Kilometer dicken Biofilm des Planeten, auf den wir angewiesen sind. Woran auch Bunker, Marsflüge und Sci-Fi-Szenarien von Fluchten aus unseren Körpern nichts ändern.
Hienieden also gilt es anzukommen, in den unübersichtlichen, von Lebendigem und seinen Hervorbringungen gestalteten Verhältnissen der sublunaren Welt, wie es Latour formuliert, indem er die religiöse Komponente der entgegengesetzten Fluchttendenzen anklingen lässt und es sich gleichzeitig nicht verkneift, die vormoderne Aufteilung in sub- und supralunare Regionen aufzurufen. Oberhalb des Mondes (eigentlich schon deutlich darunter) herrschen die reinen Verhältnisse, in denen wir (und die anderen Akteure der kritischen Zone) nicht mitspielen, die sich aber - gegen die moderne Vereinheitlichung zu einem Universum - nicht einfach auf die kritische Zone übertragen lassen.
Latour weiß natürlich sehr gut, dass sich auch hienieden Verhältnisse herstellen lassen, in denen Prozesse glatt und wie am Schnürchen ablaufen, ohne dass dazwischentretende Agenten die Sache komplizieren. Er prägt für sie den hübschen Ausdruck "kleine Universums-Schächte", die in den dünnen Teppich der kritischen Zone hineingetrieben werden. Doch sie sind Ausnahmen, nicht die Regel in einer Welt, die von anderen Wirkmächten in ihrer Existenz gehalten wird.
Dieses Reich der Wirkmächte nennt Latour "ERDE" (in Kapitälchen, um die Verwechslung mit dem Planeten auszuschließen), und diejenigen, die eingesehen haben, dass gerade im Einschluss in dieses Reich die zu ergreifenden Freiheitschancen liegen, die "Erdverhafteten". Die Analogie zum Lockdown hört hier natürlich auf, denn um seine Aufhebung geht es gerade nicht oder zumindest nur um eine von innen, die eine trügerische Aussicht auf unendliche Aktionsräume (Stichwort "Universum") beseitigt.
Sich ohne Reserve als "mit der ERDE" lokalisieren, als Mitspieler in der kritischen Zone, darauf läuft es hinaus. Denn dann sind für Latour auch einige andere Einsichten zu fixieren und Folgerungen aus ihnen zu ziehen: dass wir als Mitspieler, die ihre Lebensbedingungen nicht aus sich heraus generieren können, nicht so tun können, als hätten wir alleinige Verfügungsrechte. Dass sich die Grenzen von Organismen, zieht man in Betracht, was sie für ihre Erhaltung de facto benötigen, tendenziell auflösen. Dass die Grenzen politisch-nationaler Territorien nichts mit den Grenzen zu tun haben, die jene Territorien markieren, von denen eine ins Auge gefasste Gesellschaft lebt. Oder dass die Ökonomie als vermeintlich grundlegende Beschreibung der Verhältnisse zwischen den Akteuren ihre Selbstverständlichkeit verliert: Wo sie das letzte Wort zu sprechen schien, hat vielmehr eine kollektive, von harten Widersprüchen durchzogene Beschreibung der wechselseitigen Abhängigkeiten und Ansprüche aufgenommen zu werden: "Die Erdverhafteten sind aufgefordert, mit 'Ökologie' nicht eine Domäne, eine neue Aufmerksamkeit für 'Grünes' im weitesten Sinn zu bezeichnen, sondern einfach das, was aus der Ökonomie wird, wenn die Beschreibung wieder einsetzt."
Das Zitat zeigt, was der Leser ohnehin gleich bemerkt und Kenner dieses Autors nicht verwundern wird: Latour geht die Sache denkbar grundsätzlich an in diesen dreizehn Kapiteln "im Stil einer philosophischen Erzählung", die einen "vom neuen Klimaregime aufgezwungenen Kosmologiewechsel" einüben wollen. Manche werden fragen, ob es denn wirklich gleich einen solchen Wechsel braucht, eine neue Kartographie unserer Weltverhältnisse, die ohne "Natur", "Umwelt", die "materielle Welt" - allesamt moderne Erfindungen - auskommt. Vielleicht nicht, um unmittelbar anstehende Aufgaben in Sachen Klima in den Griff zu bekommen, Leitfäden findet man bei Latour nicht. Aber es ist andererseits naiv zu glauben, dass in den kommenden Jahrzehnten ein bisschen Herumschrauben an den bestehenden Verhältnissen genügen wird.
Latour ist da ein exzellenter Autor für das Sondieren anderer, nicht mehr moderner Weltverhältnisse: bei aller durchschlagenden Fabulierlust umsichtig, mit den Verfahren der Wissenschaften vertraut, viele Anregungen verarbeitend (im vierzehnten und letzten Kapitel werden sie zusammengestellt), tief zielend, ohne Tiefsinnigkeiten aufzufahren. Und nach wie vor ohne Furcht, sich dabei Termini und Konzepte anzueignen, oder besser eigentlich: für seine Erprobungen zu entwenden und neu einzupassen, die Hüter der richtigen ideologischen Haltung schnell die Stirn runzeln lassen: Boden, Völker, Rückkehr zur Erde, Verwurzelung, auch Gaia oder der beiläufig auftauchende "Nomos der Erde". Woraus bei ihm die ungebrochene Lust spricht, sich auf besetzten Terrains umzusehen, um seine gegenläufigen Akzente zu setzen. Solche Begriffe aufzunehmen, schreibt er einmal, komme dem Überstreifen eines Nessushemdes gleich. Er weiß es in diesen anregenden Lektionen über Lektionen mit Anstand zu tragen.
Bruno Latour: "Wo bin ich?" Lektionen aus dem Lockdown.
Aus dem Französischen von Hans-Joachim Russer und Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 199 S., br., 16,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es muss schon ohne Natur und Umwelt gehen: Bruno Latour nutzt Lektionen aus dem Lockdown, um eine neue Kartographie unserer Weltverhältnisse einzuüben.
Von Helmut Mayer
Die gerade zu ihrer vierten Welle auflaufende Pandemie bietet zweifellos viele Lektionen. Eine von ihnen ist die offenbar immer noch weite Verbreitung der Vorstellung, Wissenschaft könne nach Belieben sofort abfragbare und dabei definitive Einsichten an die Hand geben. Wozu noch das schwierige Verhältnis des Common Sense zu statistischen Sachverhalten kommt, obwohl den mit ihnen einhergehenden Wahrscheinlichkeiten bei Prognosen gar nicht zu entgehen ist, wenn erst einmal intrikat verschachtelte Wirkzusammenhänge unter nicht trennscharf herzustellenden Ausgangsbedingungen ins Spiel kommen - wofür das Virus sehr anschaulich und mit dramatischen Effekten sorgte.
Natürlich, es war nicht auf die Pandemie zu warten, um ein merkwürdiges Bild der Wissenschaften - als hätten sie es durchweg mit experimentellen Präparatwirklichkeiten physikalischer Provenienz zu tun - zu revidieren. Bruno Latour, renommierter Pariser Wissenschaftsforscher und -philosoph, hat diese Revision auch schon vor einiger Zeit vorangetrieben, bevor sie vor fünf Jahren zu einem zentralen Stück seiner weit ausgreifenden "Vorträge über das neue Klimaregime" wurden, denen noch ein "Terrestrisches Manifest" folgte. Jetzt liegt ein schmaler Band vor, der dort angestellte Überlegungen aufgreift und fortspinnt, nunmehr aber im Licht der Erfahrungen mit Pandemie und Lockdown.
Das Virus hat ja auf seine Weise klargemacht, was auch die Klimawissenschaften vorführen, dass wir in ein großes Geflecht von Akteuren eingebettet sind, menschlichen wie nichtmenschlichen, die als "Natur" oder "Umwelt" rein abzutrennen und uns gegenüberzustellen offensichtlich nicht mehr möglich ist. Illusorisch war diese scharfe Abtrennung zwar eigentlich schon immer, doch mittlerweile wird uns ihre Unmöglichkeit - von aufwendig hergestellten und abgedichteten Enklaven bestimmter wissenschaftlicher Praktiken abgesehen - nachgerade demonstriert. Wir bemerken dann, darauf will Latour hinaus, in dieses Geflecht, das mit jeder Forschungsanstrengung neue Agenten, Wechselwirkungen und Funktionsebenen erkennen lässt, eingeschlossen, also gewissermaßen zu einem Lockdown verurteilt zu sein. In einem Geflecht, aus dem es keinen Ausweg gibt, denn unsere unaufhebbare Abhängigkeit vom Eigensinn einer Vielzahl anderer Agenten lässt sich nur noch mit großer Anstrengung verleugnen.
Das klingt bedrohlich, und manche Effekte sind es natürlich auch. Aber für Latour steckt gerade in dieser Einschließung die dringend notwendige Befreiung von falschen Transzendenzen, also der Vorstellung vermeintlicher Auswege, die wir immer noch mitschleppen. Es geht darum, endlich wirkliche Immanenz zu erreichen, sich tatsächlich in diesem Geflecht der uns direkt oder mittelbar betreffenden Wirkmächte zu verorten, welche die sogenannte kritische Zone aufspannen, den dünnen, wenige Kilometer dicken Biofilm des Planeten, auf den wir angewiesen sind. Woran auch Bunker, Marsflüge und Sci-Fi-Szenarien von Fluchten aus unseren Körpern nichts ändern.
Hienieden also gilt es anzukommen, in den unübersichtlichen, von Lebendigem und seinen Hervorbringungen gestalteten Verhältnissen der sublunaren Welt, wie es Latour formuliert, indem er die religiöse Komponente der entgegengesetzten Fluchttendenzen anklingen lässt und es sich gleichzeitig nicht verkneift, die vormoderne Aufteilung in sub- und supralunare Regionen aufzurufen. Oberhalb des Mondes (eigentlich schon deutlich darunter) herrschen die reinen Verhältnisse, in denen wir (und die anderen Akteure der kritischen Zone) nicht mitspielen, die sich aber - gegen die moderne Vereinheitlichung zu einem Universum - nicht einfach auf die kritische Zone übertragen lassen.
Latour weiß natürlich sehr gut, dass sich auch hienieden Verhältnisse herstellen lassen, in denen Prozesse glatt und wie am Schnürchen ablaufen, ohne dass dazwischentretende Agenten die Sache komplizieren. Er prägt für sie den hübschen Ausdruck "kleine Universums-Schächte", die in den dünnen Teppich der kritischen Zone hineingetrieben werden. Doch sie sind Ausnahmen, nicht die Regel in einer Welt, die von anderen Wirkmächten in ihrer Existenz gehalten wird.
Dieses Reich der Wirkmächte nennt Latour "ERDE" (in Kapitälchen, um die Verwechslung mit dem Planeten auszuschließen), und diejenigen, die eingesehen haben, dass gerade im Einschluss in dieses Reich die zu ergreifenden Freiheitschancen liegen, die "Erdverhafteten". Die Analogie zum Lockdown hört hier natürlich auf, denn um seine Aufhebung geht es gerade nicht oder zumindest nur um eine von innen, die eine trügerische Aussicht auf unendliche Aktionsräume (Stichwort "Universum") beseitigt.
Sich ohne Reserve als "mit der ERDE" lokalisieren, als Mitspieler in der kritischen Zone, darauf läuft es hinaus. Denn dann sind für Latour auch einige andere Einsichten zu fixieren und Folgerungen aus ihnen zu ziehen: dass wir als Mitspieler, die ihre Lebensbedingungen nicht aus sich heraus generieren können, nicht so tun können, als hätten wir alleinige Verfügungsrechte. Dass sich die Grenzen von Organismen, zieht man in Betracht, was sie für ihre Erhaltung de facto benötigen, tendenziell auflösen. Dass die Grenzen politisch-nationaler Territorien nichts mit den Grenzen zu tun haben, die jene Territorien markieren, von denen eine ins Auge gefasste Gesellschaft lebt. Oder dass die Ökonomie als vermeintlich grundlegende Beschreibung der Verhältnisse zwischen den Akteuren ihre Selbstverständlichkeit verliert: Wo sie das letzte Wort zu sprechen schien, hat vielmehr eine kollektive, von harten Widersprüchen durchzogene Beschreibung der wechselseitigen Abhängigkeiten und Ansprüche aufgenommen zu werden: "Die Erdverhafteten sind aufgefordert, mit 'Ökologie' nicht eine Domäne, eine neue Aufmerksamkeit für 'Grünes' im weitesten Sinn zu bezeichnen, sondern einfach das, was aus der Ökonomie wird, wenn die Beschreibung wieder einsetzt."
Das Zitat zeigt, was der Leser ohnehin gleich bemerkt und Kenner dieses Autors nicht verwundern wird: Latour geht die Sache denkbar grundsätzlich an in diesen dreizehn Kapiteln "im Stil einer philosophischen Erzählung", die einen "vom neuen Klimaregime aufgezwungenen Kosmologiewechsel" einüben wollen. Manche werden fragen, ob es denn wirklich gleich einen solchen Wechsel braucht, eine neue Kartographie unserer Weltverhältnisse, die ohne "Natur", "Umwelt", die "materielle Welt" - allesamt moderne Erfindungen - auskommt. Vielleicht nicht, um unmittelbar anstehende Aufgaben in Sachen Klima in den Griff zu bekommen, Leitfäden findet man bei Latour nicht. Aber es ist andererseits naiv zu glauben, dass in den kommenden Jahrzehnten ein bisschen Herumschrauben an den bestehenden Verhältnissen genügen wird.
Latour ist da ein exzellenter Autor für das Sondieren anderer, nicht mehr moderner Weltverhältnisse: bei aller durchschlagenden Fabulierlust umsichtig, mit den Verfahren der Wissenschaften vertraut, viele Anregungen verarbeitend (im vierzehnten und letzten Kapitel werden sie zusammengestellt), tief zielend, ohne Tiefsinnigkeiten aufzufahren. Und nach wie vor ohne Furcht, sich dabei Termini und Konzepte anzueignen, oder besser eigentlich: für seine Erprobungen zu entwenden und neu einzupassen, die Hüter der richtigen ideologischen Haltung schnell die Stirn runzeln lassen: Boden, Völker, Rückkehr zur Erde, Verwurzelung, auch Gaia oder der beiläufig auftauchende "Nomos der Erde". Woraus bei ihm die ungebrochene Lust spricht, sich auf besetzten Terrains umzusehen, um seine gegenläufigen Akzente zu setzen. Solche Begriffe aufzunehmen, schreibt er einmal, komme dem Überstreifen eines Nessushemdes gleich. Er weiß es in diesen anregenden Lektionen über Lektionen mit Anstand zu tragen.
Bruno Latour: "Wo bin ich?" Lektionen aus dem Lockdown.
Aus dem Französischen von Hans-Joachim Russer und Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 199 S., br., 16,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.11.2021Unter der
Säge enden
Bruno Latours „Lektionen
aus dem Lockdown“
Die Pandemie verhindert vieles und fördert manches, etwa die Buchproduktion zum Thema. Vor allem persönliche Gefühlsreportagen und Sachliteratur, aber auch jede Menge Philosophisches. Der Soziologe und Philosoph Bruno Latour schlägt in seiner Essaysammlung „Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown“ die Brücke von persönlichem Erleben zur Klarheit des abstrahierenden Nachdenkens. Aber schon die eigene Erfahrung des Lockdowns emanzipiert er vom subjektiven Blick, indem er dazu auffordert, die berichteten Beobachtungen als Bestandteil eines Romans zu lesen. So nimmt er zugleich seine Autorität als Wissenschaftler aus dem Spiel und führt die Rolle eines naiven Romanhelden ein, der aus dem staatlich verordneten Lockdown erwacht wie aus dem Koma.
Verwundert schaut er sich um, bemerkt staunend die Veränderungen, die der in den Alltag verstrickte Normalbürger kaum mehr registriert. Es ist vor allem die zunehmende Freudlosigkeit, Humorlosigkeit und Dumpfheit, die ihn erschüttert. Alles, was er bisher an Naturerlebnis genossen hat, alles, was ihn in der Wahrnehmung seiner selbst positiv stimmte, ist nun ideologisch kontaminiert. „Die Sonne? Unmöglich, ihre Wärme zu genießen, ohne sofort an den Klimawandel zu denken. Die Bäume, die sich im Wind biegen? Bei ihrem Anblick quält ihn die Furcht, dass sie vertrocknen oder unter der Säge enden. Selbst der Regen vermittelt ihm Schuldgefühle.“
Latour tut sich merklich schwer mit diesem eigentlich schrecklichen und für das Individuum existenziell bedrohlichen Zustand der aktuellen politischen Kultur, in der viele mit einem autoritären Wahrheitsanspruch taktieren. Er rettet sich in die Tradition der literarischen Historie, indem er sich, also seinen Romanhelden, mit dem Protagonisten aus Franz Kafkas „Die Verwandlung“ verbrüdert. Nun wird das Prekäre des Denkens in Untergangsnarrativen sichtbar – und die Gefahr, die darin liegt, zeitlich und räumlich übergeordnete Bedrohungen auf die persönliche Ebene herunterzubrechen, wo sie zu konkreten Angstzuständen werden, die die Lage eher verschlimmern, weil sie das Denken einengen und das Handeln zwanghaft machen.
Explizit schreibt Latour dies alles nicht, er lässt es Kafka erzählen, dessen „Verwandlung“ der Leser gleichsam aus dem Blickwinkel von Latours Romanfigur und durch die Brille Latours selbst mitvollzieht. Dabei entfaltet Latour seinerseits großes erzählerisches Talent. Man folgt ihm gern und liest am Ende so etwas wie klassische Philosophie als Roman mit scheinbar willkürlichen, überzeitlichen Beobachtungen: dass es die Tiere waren, die unsere Erde formten und dennoch nicht in der Lage waren, die Ursachen und Absichten ihres Handelns, vielleicht auch deren Ergebnis zu kennen. Auch die Beobachtung, dass es eigentlich kein Innen und Außen der Erde gibt, beschäftigt den Helden.
Und zwar ganz in der Art Kafkas, entschieden irrational, faktisch auf wackeligen Füßen: „Jene Vorstellung von Umwelt ergibt kaum Sinn, da sich nie die Grenze ziehen lässt, die einen Organismus von dem trennt, was ihn umgibt.“ Es ist die Stelle, an der Latours Held den Leser in die aktuellen Debatten führt.
„Eigentlich umgibt uns nichts, alles wirkt darauf hin, dass wir atmen“, setzt er fort, und dieses Resümee ist ja nichts anderes als eine große Unlust am philosophisch-wissenschaftlichen Geschäft, dem mühsamen Differenzieren und Sezieren: Eigentlich sind wir doch alle Brüder, und die Erde ist rund und unzertrennlich. Also lasst uns alles teilen und uns umarmen und so tun, als wären wir als Gute geboren und wollten nichts lieber, als uneigennützig und selbstaufopfernd zu leben. So zumindest müsste man seine unterschwellige Ironie übersetzen, seine leise Verzweiflung, die damit einhergeht und sich ein bisschen Luft verschafft im Wechsel zu Kafkas Erzählung.
Dort, wo es ernster wird, vernimmt man ganz andere Töne von Latour: „Uns wird nach und nach klar, dass das Wort ERDE nicht, wie es die alte Lokalisierung will, einen Planeten unter anderen bezeichnet, sondern dass es sich um einen Eigennamen handelt, der alle Existierenden umfasst – aber nie zu einem Ganzen zusammenfasst.“ Und dennoch, „die Erdverhafteten erkennen sich als diejenigen, die alle im selben Boot sitzen. Einerseits fühlt man sich gefangen, andererseits befreit“. Der Lockdown mache deutlich, dass die Pandemie nur eine Vorwegnahme einer neuen Situation ist, dass eine „paradoxe Form negativer Universalität“ auch nach der Pandemie bestehen wird. Niemand entkommt.
HELMUT MAURÓ
Latour erzählt mit Kafkas
„Verwandlung“ von den
Effekten des Lockdowns
Bruno Latour: Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown. Aus dem Französischen von Hans-Joachim Russer und Bernd Schwibs. Suhrkamp, Berlin 2021. 200 Seiten, 16 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Säge enden
Bruno Latours „Lektionen
aus dem Lockdown“
Die Pandemie verhindert vieles und fördert manches, etwa die Buchproduktion zum Thema. Vor allem persönliche Gefühlsreportagen und Sachliteratur, aber auch jede Menge Philosophisches. Der Soziologe und Philosoph Bruno Latour schlägt in seiner Essaysammlung „Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown“ die Brücke von persönlichem Erleben zur Klarheit des abstrahierenden Nachdenkens. Aber schon die eigene Erfahrung des Lockdowns emanzipiert er vom subjektiven Blick, indem er dazu auffordert, die berichteten Beobachtungen als Bestandteil eines Romans zu lesen. So nimmt er zugleich seine Autorität als Wissenschaftler aus dem Spiel und führt die Rolle eines naiven Romanhelden ein, der aus dem staatlich verordneten Lockdown erwacht wie aus dem Koma.
Verwundert schaut er sich um, bemerkt staunend die Veränderungen, die der in den Alltag verstrickte Normalbürger kaum mehr registriert. Es ist vor allem die zunehmende Freudlosigkeit, Humorlosigkeit und Dumpfheit, die ihn erschüttert. Alles, was er bisher an Naturerlebnis genossen hat, alles, was ihn in der Wahrnehmung seiner selbst positiv stimmte, ist nun ideologisch kontaminiert. „Die Sonne? Unmöglich, ihre Wärme zu genießen, ohne sofort an den Klimawandel zu denken. Die Bäume, die sich im Wind biegen? Bei ihrem Anblick quält ihn die Furcht, dass sie vertrocknen oder unter der Säge enden. Selbst der Regen vermittelt ihm Schuldgefühle.“
Latour tut sich merklich schwer mit diesem eigentlich schrecklichen und für das Individuum existenziell bedrohlichen Zustand der aktuellen politischen Kultur, in der viele mit einem autoritären Wahrheitsanspruch taktieren. Er rettet sich in die Tradition der literarischen Historie, indem er sich, also seinen Romanhelden, mit dem Protagonisten aus Franz Kafkas „Die Verwandlung“ verbrüdert. Nun wird das Prekäre des Denkens in Untergangsnarrativen sichtbar – und die Gefahr, die darin liegt, zeitlich und räumlich übergeordnete Bedrohungen auf die persönliche Ebene herunterzubrechen, wo sie zu konkreten Angstzuständen werden, die die Lage eher verschlimmern, weil sie das Denken einengen und das Handeln zwanghaft machen.
Explizit schreibt Latour dies alles nicht, er lässt es Kafka erzählen, dessen „Verwandlung“ der Leser gleichsam aus dem Blickwinkel von Latours Romanfigur und durch die Brille Latours selbst mitvollzieht. Dabei entfaltet Latour seinerseits großes erzählerisches Talent. Man folgt ihm gern und liest am Ende so etwas wie klassische Philosophie als Roman mit scheinbar willkürlichen, überzeitlichen Beobachtungen: dass es die Tiere waren, die unsere Erde formten und dennoch nicht in der Lage waren, die Ursachen und Absichten ihres Handelns, vielleicht auch deren Ergebnis zu kennen. Auch die Beobachtung, dass es eigentlich kein Innen und Außen der Erde gibt, beschäftigt den Helden.
Und zwar ganz in der Art Kafkas, entschieden irrational, faktisch auf wackeligen Füßen: „Jene Vorstellung von Umwelt ergibt kaum Sinn, da sich nie die Grenze ziehen lässt, die einen Organismus von dem trennt, was ihn umgibt.“ Es ist die Stelle, an der Latours Held den Leser in die aktuellen Debatten führt.
„Eigentlich umgibt uns nichts, alles wirkt darauf hin, dass wir atmen“, setzt er fort, und dieses Resümee ist ja nichts anderes als eine große Unlust am philosophisch-wissenschaftlichen Geschäft, dem mühsamen Differenzieren und Sezieren: Eigentlich sind wir doch alle Brüder, und die Erde ist rund und unzertrennlich. Also lasst uns alles teilen und uns umarmen und so tun, als wären wir als Gute geboren und wollten nichts lieber, als uneigennützig und selbstaufopfernd zu leben. So zumindest müsste man seine unterschwellige Ironie übersetzen, seine leise Verzweiflung, die damit einhergeht und sich ein bisschen Luft verschafft im Wechsel zu Kafkas Erzählung.
Dort, wo es ernster wird, vernimmt man ganz andere Töne von Latour: „Uns wird nach und nach klar, dass das Wort ERDE nicht, wie es die alte Lokalisierung will, einen Planeten unter anderen bezeichnet, sondern dass es sich um einen Eigennamen handelt, der alle Existierenden umfasst – aber nie zu einem Ganzen zusammenfasst.“ Und dennoch, „die Erdverhafteten erkennen sich als diejenigen, die alle im selben Boot sitzen. Einerseits fühlt man sich gefangen, andererseits befreit“. Der Lockdown mache deutlich, dass die Pandemie nur eine Vorwegnahme einer neuen Situation ist, dass eine „paradoxe Form negativer Universalität“ auch nach der Pandemie bestehen wird. Niemand entkommt.
HELMUT MAURÓ
Latour erzählt mit Kafkas
„Verwandlung“ von den
Effekten des Lockdowns
Bruno Latour: Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown. Aus dem Französischen von Hans-Joachim Russer und Bernd Schwibs. Suhrkamp, Berlin 2021. 200 Seiten, 16 Euro.
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»[Latours] Beobachtungen sind nicht banal und trivial, sondern fordern den Verstand heraus, was die Lektüre zu einer anregenden intellektuellen Reise macht, die manchmal ans Poetische grenzt. ... Ein Gewinn.« Stella Jaeger Berliner Zeitung 20220109